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E-Book

Die islamische Aufklärung

Der Konflikt zwischen Glaube und Vernunft

AutorChristopher de Bellaigue
VerlagS. Fischer Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl544 Seiten
ISBN9783104906461
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis19,99 EUR
»Erhellend, großartig geschrieben, ein Buch, das uns hilft, das Verständnis zwischen islamischer Welt und Moderne zu verstehen.« Yuval Noah Harari, Autor von »Eine kurze Geschichte der Menschheit« Die islamische Aufklärung hat längst stattgefunden. In einer fulminanten Erzählung demontiert Christopher de Bellaigue die oft selbstgefällige westliche Sicht auf die arabische Welt. Auch in Ägypten, im Iran und der Türkei gab es nach 1800 eine breite Bewegung für Freiheit, Gleichheit und Demokratie und für einen weltlichen Staat, für Frauenrechte und Gewerkschaften, freie Presse und die Abschaffung der Sklaverei. In atemberaubender Geschwindigkeit modernisierten sich die arabischen Gesellschaften. Doch die Gegenaufklärung folgte auf dem Fuß, mit autokratischen Regimen und fundamentalistischem Terror. De Bellaigue schildert den Kampf zwischen Glaube und Vernunft und um eine neue muslimische Identität. Eine reiche, überraschende Geschichte, eine radikal neue Sicht auf den modernen Islam. »Eine ausgesprochen originelle und informative Studie über die Zusammenstöße zwischen dem Islam und der Moderne in Istanbul, Kairo und Teheran während der letzten zweihundert Jahre.« Orhan Pamuk »Christopher de Bellaigue gehört seit Langem schon zu den einfallsreichsten und anregendsten Interpreten einiger von Angst und Vorurteil verstellter Realitäten. In ?Die islamische Aufklärung? seziert er den selbstgefälligen Gegensatz zwischen Islam und Moderne und enthüllt dabei eine faszinierende Welt: eine Welt, in der Menschen sich unter dem Druck der Geschichte ständig verändern, improvisieren und sich anpassen. Es ist genau das richtige Buch für unsere in Unordnung geratene Welt: zeitgemäß, dringlich und erhellend.« Pankaj Mishra »Zur rechten Zeit, tiefsinnig und provokativ.« Peter Frankopan

Christopher de Bellaigue, geboren 1971, studierte an der Cambridge University und war Fellow an der Harvard University und der University of Oxford. Er lebte über fünf Jahre in Teheran und bereiste als Journalist Südasien und den Mittleren Osten. Er schreibt für Economist, Guardian und die New York Review of Books und lebt in London. Für sein Buch »Die islamische Aufklärung. Der Konflikt zwischen Glaube und Vernunft« wurde Christopher de Bellaigue für den renommierten Baillie Gifford Prize 2017 nominiert.

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Leseprobe

Einleitung


Jane Eyre, Vollwaise und Lehrerin im Mädcheninternat Lowood zur Zeit König Georgs III. von England, liegt wach im Bett und denkt über ihre Zukunft nach.

»Ich habe hier acht Jahre gedient; und jetzt wünsche ich ja nichts weiter, als anderswo dienen zu können. Kann ich meinen eigenen Willen denn nicht wenigstens so weit durchsetzen? Ist die Sache denn nicht tunlich? Ja – ja – das Ende ist nicht so schwer, wenn mein Gehirn nur tätig genug wäre, um die Mittel, es zu erreichen, aufspüren zu können.«

Ich saß aufrecht im Bette, um mein vorerwähntes Hirn zur Tätigkeit anzuspornen; es war eine frostige Nacht; ich bedeckte meine Schultern mit einem Schal, und dann fing ich wieder mit allen Kräften an zu denken.

»Was wünsche ich denn eigentlich? Eine neue Stelle, in einem neuen Hause, unter neuen Gesichtern, unter neuen Verhältnissen. […] Wie machen die Leute es nun, um eine neue Stelle zu bekommen? Sie wenden sich an ihre Freunde, wie ich vermute – ich habe keine Freunde. Es gibt aber noch viele Menschen, die keine Freunde haben und sich selbst umsehen müssen und sich selbst helfen. Welches sind denn nun ihre Hilfsquellen?«

Ja, das wusste ich nicht; niemand konnte mir antworten. Deshalb befahl ich meinem Hirn, eine Antwort zu finden, und zwar so schnell wie möglich. [Dann] kam sie ruhig und natürlich in meinen Sinn: – »Leute, welche Stellungen suchen, kündigen es an; du musst es im – Shire Herald ankündigen.«

»Aber wie? Ich weiß nichts von Zeitungsannoncen.«

Schnell und wie von selbst kamen die Antworten jetzt:

»Du musst die Annonce und das Geld für dieselbe an den Herausgeber des Herald einschicken; bei der ersten Gelegenheit, die sich dir darbietet, musst du die Sendung in Lowton auf die Post geben; die Antwort muss an J.E. an das dortige Postamt geschickt werden; eine Woche nachdem du deinen Brief abgesandt, kannst du hingehen und dich erkundigen, ob irgend eine Antwort eingetroffen ist; daraufhin hast du zu handeln.«

Diese schlaflos verbrachte Stunde ist die Ecke, um die Jane Eyre biegen muss, um Mr Rochester in die Arme zu laufen, denn ihr Entschluss, in der Lokalzeitung eine Anzeige aufzugeben, führt dazu, dass sie viele Meilen entfernt eine neue Stellung annimmt, als Hauslehrerin des Mündels von Mr Rochester in Thornfield Hall. Der Umzug dorthin bestimmt den Weg, den ein sehr beliebter Roman nehmen wird, und dennoch kann man etwas Größeres und gesellschaftlich Bedeutsameres darin erkennen: den Weg in eine neue Welt.

Janes Verlangen bedarf keiner Einleitung. Sie sucht nach Vielfalt und Bewegung, und die Erziehung, die sie genossen hat, bietet ihr die dazu nötigen Mittel. Denn die Erziehung, die ihr in einer der immer zahlreicheren englischen Mädchenschulen zuteilwurde, hat ihrem ausgezeichneten Verstand Ziel und Richtung verliehen, bewahrt sie zugleich aber auch vor jeglichem Minderwertigkeitsgefühl. Jane ist unabhängig im Geiste, und das erlaubt ihr auch die nötige Unabhängigkeit im Blick auf die Mittel. Jane Eyre ist ein moderner Mensch.

Ihre Modernität erstreckt sich auf ihre Sicht der Welt und der eigenen Stellung darin. Jane ist Christin, aber in der Stunde der Unentschlossenheit lässt sie keinen Rosenkranz durch die Finger gleiten; sie bemüht nicht die Evangelien – und erst recht sucht sie nicht nach Zeichen am Sternenhimmel. Der Glaube schenkt ihr Kraft in den moralischen und emotionalen Krisen ihres Lebens, doch bei ganz praktischen Problemen, etwa als sie nach der »klaren, sachlichen Sprache« sucht, die ihren flattrigen Verstand zur Ruhe bringen kann, fragt sie nicht Gott, sondern sich selbst, Jane.

Zur Verwirklichung ihres Plans benötigt Jane allerdings die Hilfe gewisser Einrichtungen des modernen England. Ohne die Lokalzeitung, ohne das Postamt und – wenn es schließlich darum geht, nach Thornfield Hall zu gelangen – ohne ein Fortbewegungsmittel, mit dem sie über eine der für alleinreisende Frauen hinreichend sicheren Mautstraßen fahren kann, würde sie gar nichts erreichen.

Mehr noch als all diese Dinge braucht Jane indessen eine Gesellschaft, die akzeptiert, dass sie Herrin ihres eigenen Schicksals ist – eine unverheiratete Frau, die die Freiheit besitzt, in eine Postkutsche zu steigen und zu reisen, wohin es ihr beliebt, ohne Gefahr zu laufen, dass ihr Ruf darunter litte.

Dieses Bild aus dem georgianischen England wollen wir nun in eine ganz andere Umgebung versetzen. Stellen wir uns vor, Charlotte Brontës Roman wäre in einem außereuropäischen Milieu angesiedelt. Nach den Maßstäben der im 19. Jahrhundert erreichten Globalisierung liegt diese neue Umgebung gar nicht so fern. Um dorthin zu gelangen, braucht man lediglich das Mittelmeer zu überqueren. Dort stößt man auf eine nahe Verwandte der jüdisch-christlichen Zivilisation, in der Jane lebt, eine Zivilisation, die im dritten und jüngsten der hebräischen Monotheismen gründet und vom griechischen Denken beeinflusst wurde.

Das ist die Zivilisation des Islam. Wie wäre diese Zivilisation mit Jane Eyre und den Vorstellungen von Selbstverwirklichung umgegangen, die ihr des Nachts den Schlaf rauben? Hätte sie das Verhalten dieser Frau gebilligt, oder hätte sie die Nase darüber gerümpft? Hätte sie Jane Eyre »verstanden«?

Könnte ich diese Frage mit ja beantworten, hielten Sie dieses Buch wahrscheinlich jetzt nicht in den Händen – oder es wäre ein ganz anderes Buch geworden. Die islamische Zivilisation hätte Jane Eyre in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts weder gebilligt noch verstanden, weil die nötigen Voraussetzungen dazu fehlten.

Betrachten wir zunächst einmal das Vehikel, über das ein muslimisches Publikum ihr hätte begegnen können: das gedruckte Buch. Das wäre zu der Zeit, in der Jane Eyre spielt, ein völliger Reinfall gewesen, denn auch fast vierhundert Jahre nachdem Gutenberg das geistige und religiöse Leben Europas durch die Erfindung des Drucks mit beweglichen Lettern revolutioniert hatte, war die Druckerpresse für den Islam immer noch eine unerwünschte, für den allgemeinen Gebrauch nicht zugelassene ausländische Innovation. Dann war da die Frage der Übersetzung der Brontë’schen Prosa in die dortigen Sprachen. Die Zahl der Türkisch-, Arabisch- und Persischsprechenden mit ausreichenden Englischkenntnissen war verschwindend gering, und im Nahen wie auch Mittleren Osten gab es keinen Markt für übersetzte ausländische Werke.

Selbst wenn diese Einschränkungen überwunden worden wären und vertrauenswürdige Schreiber in großen Stückzahlen Kopien einer übersetzten Jane Eyre produziert hätten, wäre das Publikum doch aus einem weiteren Grund nur winzig klein geblieben. Nach neuesten Erkenntnissen lag die Alphabetisierungsrate in der Türkei, Ägypten und dem Iran – den drei wichtigsten geistigen und politischen Zentren der Region – um die Wende zum 19. Jahrhundert bei etwa 3 Prozent, gegenüber mehr als 68 Prozent bei den Männern und 43 Prozent bei den Frauen in England. In Amsterdam, damals die Welthauptstadt der Lese- und Schreibfähigkeit, lagen diese Zahlen bei 85 bzw. 64 Prozent. Es kann kein Lesepublikum geben, wenn niemand lesen kann.

Aber lassen wir uns von solchen Überlegungen nicht beirren und stellen uns vor, durch professionelle Geschichtenerzähler hätten zahlreiche Muslime Bekanntschaft mit dem Leben und der Zeit der Jane Eyre gemacht. Wie hätten sie darauf reagiert? Die Vorstellung von Zeitungen und einem Postdienst hätte für Verwirrung gesorgt in Ländern, in denen es so etwas gar nicht gab, und ebenso die Phantasie einer Kutschverbindung zwischen Städten. Und dann erst die moralische Büchse der Pandora, die Janes Verhalten öffnete. Es war skandalös, dass eine Heldin ohne Begleitperson durchs Land zog, sich in einen Mann verliebte, die Aufmerksamkeit eines anderen Mannes erregte – und nach dieser schamlosen Zurschaustellung von der Autorin auch noch als ein Vorbild an Tugend dargestellt wurde.

Schon die gesellschaftlichen Systeme waren in Janes England völlig anders geartet: Wo war der Harem, der geschützte, allein den Frauen vorbehaltene Raum innerhalb der Familie, und warum hatte Mr Rochester keine Sklaven? Ganz zu schweigen von Mr Rochesters zügellosen weiblichen Gästen in Thornfield Hall, die auf dem Pianoforte spielten, auf Pferden ritten und ihren Busen wie auch langes fließendes Haar herzeigten.

Das wohl noch Freundlichste, was man über den Plot des Romans hätte sagen können, war, dass er die Überlegenheit der muslimischen Lehre verdeutliche. Nach muslimischem Recht hätte Mr Rochester Jane zu seiner zweiten Frau (von maximal vier erlaubten) nehmen können, und er wäre in der Lage gewesen, den Rest an Tugend, der ihr verblieben war, ohne den ganzen Unsinn über die Irre auf dem Speicher zu retten.

Kurz gesagt, aus der Sicht eines Muslims zu Beginn des 19. Jahrhunderts war die Figur der Jane Eyre eine krasse, für niemanden verständliche Unmöglichkeit und die Geschichte ihres Lebens derart absurd, dass sie schon an geistige Verwirrung grenzte.

*

Mit der Erfindung des Dampfschiffs vervielfachten sich die möglichen Reiseziele. Das Reisen wurde einfacher. Und mit der Eisenbahn wurde es noch einfacher. Wie das Reisen durch diese Mittel beschleunigt wurde, so wurde auch die Kommunikation beschleunigt, und zwar durch den Telegraphen....

Blick ins Buch

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