Alte Fotos
Aus biologischer Sicht wäre es viel exakter, den Stammbaum von der mütterlichen Linie herzuleiten. Streng genommen macht der mütterliche Anteil etwas mehr als die Hälfte aus! (Warum mehr als die Hälfte? Wegen der Gene in den Mitochondrien – den Organellen im Zytoplasma der Eizelle.) Dennoch leiten die meisten Kulturen den Stammbaum traditionell von einem männlichen Vorfahren ab, wobei sie von der fragwürdigen Annahme ausgehen, dass Frauen ihrem Mann immer treu seien.
Die Genetik hat mit der Molekulargenealogie, einem neuen Wissenschaftszweig, einen großen Sprung nach vorn gemacht. Im Ekklesiastes, einer Sammlung öder Banalitäten (in der jüdischen Tradition bekannt als Buch Kohelet, das König Salomo zugeschrieben wird), heißt es: »Wer sein Wissen mehrt, der mehrt seinen Schmerz.« Dem kann ich nicht zustimmen. Wissen, das auf dem Gebiet der Anthropologie (speziell auf dem der Genetik) gemehrt wird, weckt in mir Bewunderung und Zuversicht, der Ekklesiastes hingegen nichts als Langeweile.
Dennoch habe ich nicht vor, die Dienste eines Labors in Anspruch zu nehmen, das dank seiner Kenntnisse über die Struktur der Gene verblüffende Informationen über meine Ahnenreihe herausfinden kann. Mir genügt vollkommen, was ich über meine Vorfahren weiß.
Hier ein Teil meiner Familiengeschichte väterlicherseits. In meinem Schlafzimmer hängen zwei Fotos. Eins hat mir meine Cousine dritten Grades Olga Bulgakowa zum sechzigsten Geburtstag geschenkt. Es ist ein Abzug von einer Fotoplatte, von denen sie eine ganze Sammlung besitzt. Es zeigt unseren gemeinsamen Urgroßvater, den Uhrmacher Galperin. Er thront in einem Sessel in seiner Kiewer Werkstatt, im Jahr 1903. Er sieht aus wie ein Professor oder ein Senator. Offenkundig ein kultivierter Mann. Auf dem zweiten Foto – dieselbe Werkstatt im Jahr 1905, nach dem Pogrom. Zertrümmerte Möbel, umgekippte Tische, zerrissene Bücher. Die Bücher gehörten Michail, dem ältesten Bruder meiner Großmutter. Er studierte damals an der philologischen Fakultät der Kiewer Universität. Als der Schriftsteller Korolenko erfuhr, dass die Bücher des jüdischen Studenten beim Pogrom vernichtet wurden, schenkte er ihm 200 Bücher aus seiner eigenen Bibliothek. Diese Bücher wurden zum Grundstock für Michails Büchersammlung. Die Bibliothek war so wertvoll, dass sie vor Jahren sogar einmal unter Denkmalschutz stand. Aus meiner Kindheit erinnere ich mich an die goldenen und ledernen Buchrücken in Michails Moskauer Wohnung in der Worotnikow-Gasse – dort wohnen noch heute seine Enkelin Olga Bulgakowa und ihr Mann Sascha Sitnikow, zusammen mit ihrer Tochter Natascha und ihrer Enkelin Alissa. Sie alle, bis auf die erst ein Jahr alte Alissa, sind Maler.
Meine Großmutter Maria Petrowna, die Tochter jenes Uhrmachers, heiratete meinen Großvater Jakow Ulitzki. Aus ihrer Verbindung ging 1916 mein Vater Jewgeni hervor. Über meinen Großvater Jakow wusste ich bis zum letzten Jahr nur sehr wenig: Großmutter hatte sich 1936 von ihm scheiden lassen, als er wieder einmal inhaftiert war. Mein Vater erwähnte seinen Namen fast nie. Vor einem Jahr dann entdeckte ich den Briefwechsel meiner Großeltern, der 1911 begann und 1954 endete, nach seiner Freilassung aus der letzten Haft. Dieser Briefwechsel spiegelt die traurige Geschichte einer Zeit, in der bei uns die einen saßen, die anderen sie bewachten und die Dritten in der verzweifelten und erniedrigenden Angst vor jedem Klingeln, Klopfen oder Klappen der Fahrstuhltür lebten – mit der ständigen Angst vor dem System, das Stalin, »das große Genie der Menschheit«, etabliert hatte. Dem Briefwechsel nach zu urteilen war Großvater klug, begabt und musikalisch und hat sein Schicksal mit Würde getragen.
Großmutter Maria Petrowna Galperina (später Ulitzkaja)
mit ihrem Bruder
Von Großvater Jakow gibt es zwei Fotos: Das erste, von 1911, zeigt einen jungen Mann als Freiwilligen in Uniform, das zweite den alten Mann, der 1954 aus der Verbannung zurückgekehrt ist. Da hatte er nur noch gut ein Jahr zu leben. Ich habe auch noch viele andere Familienfotos von meinem Vater geerbt: vorrevolutionäre Gesichter, ganz anders als die heutigen – bei einem Picknick, an einem Tisch mit einer tiefhängenden Lampe darüber; Geschwister und Freunde von Großmutter und Großvater: Rasnotschinzen1, Studenten mit revolutionären Ansichten und wilder Mähne, Idealisten und Romantiker. Ach, wie sehr hat sie das Leben anschließend gebeutelt! Ihre Namen sind nicht überliefert, nur wenige Fotos sind beschriftet. Die meisten wurden in Kiew aufgenommen. Dort sind fast alle diese Menschen auch für immer geblieben – in Babi Jar.
Großvater Jakow Ulitzki, 1913
Großvater Jakow Ulitzki, 1954
Die mütterliche Linie sind die Ginsburgs. Das älteste Familienfoto der Ginsburgs wurde Ende des 19. Jahrhunderts aufgenommen, als Fotos noch etwas Neues und Seltenes waren. Es zeigt einen alten Juden mit der traditionellen Jarmulke auf dem Kopf. Das ist unser Stammvater, Isaak Ginsburg, mein Ururgroßvater. Wer sein Vater war, ist nicht mehr bekannt. Von Isaak weiß ich, dass er zur russischen Armee eingezogen wurde und sich in fünfundzwanzig Jahren zum Unteroffizier hochgedient hat. Die Jarmulke bedeutet vermutlich, dass er, wie alle Fremdstämmigen, als Rekrut getauft wurde, nach dem Armeedienst aber zum Glauben der Väter zurückgekehrt ist. Es ist belegt, dass er an der Einnahme von Plewna durch die Armee Skobelews beteiligt war und dafür mit dem Georgskreuz ausgezeichnet wurde. Dieses Kreuz lag bei den Nadeln und Garnen in Großmutters Handarbeitskasten. Ich habe oft damit gespielt und es wohl beim Spiel auf dem Hof verbummelt. Nach seinem Armeedienst erhielt Ururgroßvater Isaak Privilegien: Er durfte außerhalb des jüdischen Ansiedlungsgebietes leben. Er ließ sich in Smolensk nieder. Dort heiratete er auch. Er zeugte unzählige Kinder, die meisten davon starben im Säuglingsalter. Die Kindersterblichkeit war damals in Russland sehr hoch. Einer der überlebenden Söhne wurde Uhrmacher. Mein Urgroßvater Chaim. Auch von ihm besitze ich ein Foto. Die Fotos meiner beiden Uhrmacher-Urgroßväter, Galperin und Ginsburg, hängen nun nebeneinander. Die Nachkommen des Kiewer Uhrmachers sind aus ihrem provinziellen Milieu ausgebrochen – Großmutter war in jungen Jahren Schauspielerin, ihr Bruder Literat. Ein Beruf, den es heute wohl nicht mehr gibt.
Urgroßvater Jefim Isaakowitsch Ginsburg
Großmutter Maria Petrowna blickte auf die Familie Ginsburg herab: geistlose Kleinbürger! Die ihrerseits betrachteten Maria Petrowna mit leiser Verwunderung, aber ebenfalls missbilligend: Boheme! Während des Krieges brachte mein Großvater Ginsburg (Uhrmachersohn und schon fast Jurist – wegen der Revolution konnte er nicht zu Ende studieren, er arbeitete als Geschäftsführer eines Artels oder einer kleinen Fabrik) seiner Schwiegermutter oft Hirse zur Erhaltung des Leibes. Die Hirse nahm sie, doch Achtung gewährte sie ihm nicht: Schacher-Macher2! Sie hatte schließlich geistige Interessen und er nicht. Auch gesessen hat er nicht aufgrund eines verhängnisvollen politischen Paragraphen, sondern wegen eines Wirtschaftsvergehens.
Großvater Ginsburg wurde Anfang 1941 entlassen, kehrte aus dem Fernen Osten zurück und fand Arbeit in einem Bauunternehmen in Moskau. Zufällig kam Großvater Ulitzki etwa zur selben Zeit frei, und für ihn wurden die folgenden sieben Jahre zu den fruchtbarsten seines Lebens: Er beschäftigte sich mit der Demographie Russlands, schrieb ein Buch und promovierte. 1948 wurde er erneut verhaftet, wegen angeblicher Verbindungen zum internationalen Zionismus in Gestalt von Solomon Michoels, für den er irgendwelche Referate geschrieben hatte. Übermäßig Gebildete wurden aus dem Verkehr gezogen, ebenso wie in den vorhergehenden Jahren Überschüsse an Getreide beschlagnahmt worden waren. Mit wem Großvater Ulitzki diese glücklichen sieben Jahre zwischen den Haftstrafen verlebte, habe ich erst vor kurzem erfahren.
Die Familie Ginsburg – bis auf Großvater, der in der Beschaffungsabteilung eines Moskauer Bauprojekts arbeitete – war ab Juli 1941 in der Evakuierung im Ural, in Baschkirien. Großvater schickte der Familie Pakete.
Aus den Vorkriegsbriefen von Großvater Ulitzki weiß ich, dass er seinerseits zumindest bis 1936, bis sich Großmutter von ihm scheiden ließ, aus der Verbannung im Altai Lebensmittelpakete an seine Frau und seinen Sohn schickte. Er hatte damals drei Arbeitsstellen: als Klavierspieler im Kino, als Fremdsprachenlehrer und als Buchhalter einer Butterfabrik in Bijsk.
Ich wurde in Baschkirien geboren, im Dorf Dawlekanowo. Meine Großmutter Jelena Ginsburg hatte eine Ziege angeschafft, die tatarische Nachbarin brachte ihr das Melken bei. Die Nachbarin melkte geschickt und mühelos, Großmutter aber fürchtete immer, der Ziege Schmerzen zuzufügen. Großmutter hatte ihre Nähmaschine mit in die Evakuierung genommen – die alte Singer-Maschine steht noch heute bei mir. Damals nähte Großmutter für das ganze Dorf und verdiente damit ein Zubrot. Sie lebten alle in einer Hütte: die Vermieterin, Großmutter, meine Mutter Marianna, Mutters jüngerer Bruder Viktor und Tante Sonja. Großmutter Jelena und Sonja liebten einander wie Schwestern, aber sie waren keine Schwestern, sondern Tante und Nichte. Allerdings war die Nichte zwei Jahre älter als ihre Tante. Das kommt in patriarchalischen Familien vor, wenn die Töchter mit dem Kinderkriegen anfangen, während ihre Mütter selber noch fruchtbar sind. Sie waren mit zwei Brüdern verheiratet, mit Boris und Juli Ginsburg. Als der Ältere saß,...