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Die Kinder des Dschihad

Die neue Generation des islamistischen Terrors in Europa

AutorClaudia Sautter, Michael Hanfeld, Souad Mekhennet
VerlagPiper Verlag
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl240 Seiten
ISBN9783492971546
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,99 EUR
Auf die Frage, was er denn einmal werden wolle, gibt ein Fünfjähriger bei einer Razzia in Süddeutschland zur Antwort: »Ich will in den Heiligen Krieg ziehen und Ungläubige töten, wie mein Vater.« Ein Einzelfall? Nein. Nicht zuletzt die Tausenden von europäischen Jugendlichen, die in den Dschihad nach Syrien ziehen, zeigen, dass es immer mehr werden. Doch warum und in welcher Form radikalisiert sich diese wachsende Zahl muslimischer Jugendlicher? Diesen und anderen Fragen sind die Autoren nachgegangen. Sie erzählen die beunruhigenden Biografien dieser jungen Menschen, die zunächst integriert in Europa lebten und dann zu Terroristen wurden. Es ist ihnen u.a. gelungen, in der wichtigsten Koranschule der Taliban zu recherchieren und zu berichten, was dort gelehrt wird. Sie legen die Gründe offen, was die junge Generation in die Radikalisierung treibt und wie das weltweite Netz des Islamismus funktioniert.

Souad Mekhennet ist eine preisgekrönte Journalistin und arbeitet für die Washington Post und das ZDF. Mekhennet ist Expertin für den Nahen Osten, Nordafrika, Sicherheit und Terrorismus. Sie ist auch Visiting Fellow an der Harvard University, Johns Hopkins University und am Geneva Centre for Security Policy.

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Leseprobe

Vorwort

Als wir uns im Sommer 2005 entschlossen, unsere gemeinsamen Recherchen in einem Buch zu veröffentlichen, gab es weder den »Arabischen Frühling« noch den »Islamischen Staat«.

Eine zunehmende Radikalisierung junger Muslime, die vor allem nach dem Irakkrieg 2003 eingesetzt hatte, war allerdings nicht zu übersehen. Doch beschäftigte diese Entwicklung zunächst vor allem die Sicherheitsbehörden und die Geheimdienste, weniger die breite Öffentlichkeit in Europa. Das Problem schien weit weg, es schien sich in Afghanistan, Pakistan oder dem Irak abzuspielen.

Viele wollten es nicht als Problem westlicher Gesellschaften wahrnehmen, weder Politiker noch muslimische Gemeinden. Sie vermochten nicht zu erkennen, dass in ihren Ländern eine junge Generation von Muslimen heranwuchs, die sich aus verschiedensten Gründen der Mehrheitsgesellschaft nicht zugehörig fühlte und deren Werte nicht teilte.

Die Anschläge auf Züge und U-Bahnen in Madrid im März 2004 und in London im Juli 2005 oder die Ermordung des niederländischen Filmemachers Theo van Gogh im November 2004 sorgten zwar für Entsetzen, doch wurde die Tatsache, dass junge Leute, die eigentlich als integriert erschienen waren, den Rekrutierern des »Dschihad« folgten, verdrängt. Heute ist das nicht mehr möglich.

Der »Kleine Mudschahed« – ein Video für Kinder, das bei Hausdurchsuchungen in Süddeutschland gefunden wurde. [Abbildung Privatbesitz der Autoren]

Da sich Tausende junger Europäer, unter ihnen auch Mädchen, aus London, Konstanz oder Paris auf den Weg nach Syrien machten, stellt sich das Problem der Radikalisierung mit neuer Dringlichkeit. Wir haben uns deshalb entschieden, dieses Buch mit einem ergänzten Vor- und Nachwort und einigen Kapitelergänzungen noch einmal zu veröffentlichen. Das Phänomen, dass viele junge Muslime in Europa, Nord-Afrika und im Nahen Osten ihre Zukunft in einem politischen Islam sehen, ist zu einem bestimmenden Faktor geworden. Neue Akteure und Gruppen sind seit 2005 hinzugekommen, aber die Lebensläufe, die wir in diesem Buch beschreiben, ähneln der Vita junger Muslime, die sich dem »Islamischen Staat« angeschlossen haben.

Der fünfjährige »Mudschahed« richtet wie selbstverständlich die Pistole gegen die »Ungläubigen«. [Abbildung Privatbesitz der Autoren]

Aus Anschlägen ist ein Kriegszug für ein Kalifat geworden. Die Propaganda der Dschihadisten ist professioneller, perfider und brutaler geworden. Der IS stellt seine grausamen Taten in Videoclip-Ästhetik aus und bezieht dabei ausdrücklich Jugendliche und Kinder ein – als Protagonisten und als Publikum. So zeigt ein IS-Video aus dem März 2015, wie ein zwölf Jahre alter französischer Junge mit kalter Zielstrebigkeit einem der Spionage für Israel verdächtigten Palästinenser mehrmals in den Kopf schießt. Die Rekrutierung von Kindern begann schon als wir erstmals unser Buch veröffentlicht haben.

Die Frage, die ein Polizist einem Fünfjährigen bei einer Hausdurchsuchung in Süddeutschland stellte, war unverfänglich gemeint. Der Beamte wollte dem Jungen die Angst nehmen, als seine Kollegen die Wohnung seiner Eltern auf den Kopf stellten und seinen Vater vorübergehend festnahmen: »Was willst du einmal werden, wenn du groß bist?« Die Antwort kam ohne Zögern: »Wenn ich groß bin, möchte ich ein Mudschahed werden wie mein Vater und Ungläubige töten.«

Ein »Mudschahed« muss nicht nur kämpfen, sondern von klein auf den Koran studieren [Abbildung Privatbesitz der Autoren]

Ein Fünfjähriger will töten. Er lebt mitten in Deutschland und will in den Krieg ziehen. Er ist eines der »Kinder des Dschihad«, um die es in diesem Buch geht. Sie bereiten sich von der Wiege an auf einen Krieg vor, von dem einige von ihren Vätern, die meisten aber in der Moschee gehört haben. Sie lernen, dass dieser Krieg jetzt schon stattfindet, dieser »heilige Krieg«, der Dschihad, dessen Definition man erst einmal anerkennen muss. Die Bedeutung des Begriffs ist umstritten, er ist eine Verkürzung. Dem arabischen Wortsinn nach bedeutet Dschihad so viel wie »umfassende Anstrengung und Bemühen um den Glauben«. Und doch meinen viele, die das Wort heute in den Mund nehmen, nichts anderes als Krieg. Krieg zwischen den Kulturen, Krieg zwischen den Konfessionen. Ein Krieg, in dem jedes Mittel recht ist und es keine Unbeteiligten gibt. Nur wenn man ihn als gegeben annimmt, nur wenn man ihn als historisch gegebene Tatsache verinnerlicht, die einem keine andere Wahl lässt, als den Geboten seines Glaubens zu folgen, ist zu verstehen, warum viele, vor allem junge Muslime auf der ganzen Welt der Überzeugung sind, es sei ihre persönliche Pflicht, an diesem Krieg teilzunehmen. Weil sie davon überzeugt sind, dass der Westen Krieg gegen den Islam führt.

… und er hat ein Vorbild, dem er nacheifert: Seinen Vater, der mit modernen Waffen kämpft. [Abbildung Privatbesitz der Autoren]

Warum sie glauben, keine Wahl zu haben, sondern in eine Konstellation geworfen zu sein, die ihre Gegner, die »Ungläubigen«, vorgegeben haben, das wollten wir herausfinden. Wir haben uns gefragt, woher diese Überzeugung stammt. Wer sie predigt und warum die Propaganda verfängt. Wir haben uns gefragt, warum junge Menschen, die in Europa aufwachsen, die hier als Kinder der zweiten oder dritten Einwanderergeneration geboren sind, die anscheinend bestens integriert sind und die Chance haben, aus ihrem Leben etwas zu machen, sich radikalisieren. Warum sie radikalen Predigern folgen. Warum sie, statt einen bürgerlichen Beruf zu ergreifen und eine friedliche Existenz zu führen, lieber »Märtyrer« werden wollen. Warum sie sich von der Gesellschaft abwenden, die ihnen ein Maß an Freiheit und Toleranz beschert, das es in keinem islamischen Land gibt. Liegt es an ihnen? Oder liegt es an unserer Gesellschaft? Wollen sie hier nicht Fuß fassen oder können sie es nicht und stoßen auf Barrieren, die sie nicht überwinden können?

Viele derer, die wir gesprochen haben, schätzen die Freiheiten des Westens, das haben wir immer wieder erfahren. Sie verachten aber zugleich eine Gesellschaft, die ihre Religion angeblich mit Füßen tritt, die die Freiheit höher schätzt als den Glauben. Sie verachten eine Gesellschaft, die scheinbar keinen inneren Halt besitzt außer dem Materialismus, die sich auf strafrechtliche Normen, nicht aber auf kulturelle Leitbilder verständigen kann. Bis heute werfen muslimische Jugendliche dem Westen moralische Doppelzüngigkeit vor und sie beziehen sich dabei immer noch auf Foltermethoden durch die CIA, das Gefangenenlager Guantanamo und die Erniedrigungen muslimischer Gefangener in Geheimgefängnissen.

Der Streit um die Mohammed-Karikaturen der dänischen Zeitung Jyllands-Posten im September 2005 und die anschließenden Ausschreitungen und Anschläge markierten eine Zäsur. Es nahm seinen Anfang mit dem Imam Abu Laban aus Kopenhagen, der den Protest gegen die Mohammed-Karikaturen anführte. Um nichts als die Integration der Menschen in seiner Gemeinde gehe es ihm und sei es ihm schon immer gegangen, sagte er uns damals. Und erst zu dem Zeitpunkt, zu dem er erkannt habe, dass die Gesellschaft und insbesondere die politische Klasse, angeführt von der Regierung, ihm und den Muslimen nicht ein Mindestmaß an Respekt entgegenzubringen gewillt sei, habe er sich zu dem Schritt entschlossen, den Protest in die arabische Welt zu tragen. Was die bekannten Folgen zeitigte, die wir in diesem Buch beschreiben.

Dass sich insbesondere in Karikaturen ausdrückt, was Islamisten bekämpfen, wurde der Welt am 7. Januar 2015 mit dem Anschlag auf die Redaktion der Satirezeitschrift Charlie Hebdo vor Augen geführt, in der die beiden Attentäter ein Blutbad anrichteten.

Wir haben mit den »Kindern des Dschihad« selbst gesprochen. Mit einer Generation junger Muslime, die keine Heimat hat – außer ihrer Religion. Ihre Staatszugehörigkeit ist der Islam, von den Zielen und Werten ihrer Elterngeneration halten sie nichts. In ihren Augen haben ihre Eltern die falschen Ziele verfolgt, nämlich sich anzupassen. Der Generationenkonflikt ist unverkennbar, und er ist unverkennbar einer der Auslöser der Radikalisierung. Wir haben uns auch mit den Familien von Attentätern und Verdächtigen unterhalten.

Nicht wenige unserer Gesprächspartner verfolgen allerdings handfeste politische und radikale Ziele. Ihnen geht es nicht um Respekt, nicht um Gleichbehandlung, sondern um die Errichtung einer staatenübergreifenden islamischen Nation, des Kalifats. Mit ihnen, wie etwa Vertretern der islamistischen Partei Hizb-ut-Tahrir, die in ganz Europa aktiv, in Deutschland aber verboten ist, haben wir uns zum Teil unter konspirativen Umständen getroffen. Wir haben mit Sympathisanten, Mitläufern und mit Kämpfern gesprochen, die im Irak oder in Afghanistan waren. Wir haben radikale Prediger im Libanon, in Großbritannien und Deutschland besucht. Wir mussten Autos und Handys wechseln, um an manche Gesprächspartner heranzukommen, die aus ihren politischen Zielen keinen Hehl, aber eine Pause machen, sobald ihnen die Frage gestellt wird, ob der Terror, der überwiegend zivile und im Irak und in Afghanistan zumeist muslimische Opfer fordert, berechtigt ist und ob sie ihn womöglich unterstützen. Da werden schnell Verschwörungstheorien angeboten, wird etwa in Frage gestellt, dass die Anschläge vom 11. September tatsächlich von Al Qaida verübt worden sind – es könnten ja auch westliche Geheimdienste gewesen sein, die durch eine solche Tat die Muslime in Misskredit bringen wollten.

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