Lieber Papa,
Jahrzehnte sind vergangen, seit wir das letzte Mal miteinander gesprochen haben. Und sehr oft, wenn sich in den letzten 40 Jahren wichtige Momente in meinem Leben zugetragen haben, dachte ich mir, wie schön es doch wäre, wenn auch Du sie mitbekommen hättest. Auch wenn es der normale Gang der Generationen vorsieht, dass Eltern vor ihrem Nachwuchs sterben – Du bist viel zu schnell aus meinem Leben geschieden. Ich war noch ein Kind, mehr noch, ich war Dein Augapfel, und Deine Liebe und Zuneigung hätte ich gerne viel, viel länger für mich in Anspruch genommen.
Ich will Dir erzählen, was mir vor rund einem halben Jahr Schönes passiert ist. 2015 wurde ich von den Organisatoren der ersten Eiskunstlauf-Pflicht-Weltmeisterschaft in Lake Placid kontaktiert und gefragt, ob ich nicht als Wertungsrichterin dabei sein möge. Die Pflicht, so bedeutend sie in den 1950ern und 1960ern bis hin zu Beginn der 1970er Jahre war, spielt im aktuellen Eiskunstlauf keine Rolle mehr. Eine Olympiasiegerin Schuba würde es im 21. Jahrhundert, nun ja, sagen wir, nur schwer geben. Das Telefonat mit Organisatorin Karen Courtland Kelly hat viele Erinnerungen wachgerufen. Diese Weltmeisterschaft, die von der International Skating Union (ISU) und vom US-amerikanischen Verband nicht goutiert wurde, war für mich persönlich mehr als nur ein sportlicher Anlass.
Karen Courtland Kelly sagte mir, dass das Organisationskomitee einen zusätzlichen Motivationsschub erhalten hätte, als ich zusagte, mit dabei zu sein – so sehr würden mein Fachwissen und meine Expertise geschätzt. Und dass sie sich auf eine lange, fruchtbare Zusammenarbeit freuen würde.
Papa, bei diesen Titelkämpfen, die sich im Laufe der nächsten Jahre etablieren wollen, habe ich tolle Pflichtfiguren gesehen. Respekt an alle Sportlerinnen und Sportler – sie haben ihr Bestes gegeben. Aber ich gebe zu, dass ich noch mehr beeindruckt war von den großen Namen in der Jury: Janet Lynn war da, mit der ich mich um WM-Titel und Olympiagold duelliert habe; Donald Jackson, Tim Wood, Julie Lynn Holmes, JoJo Starbuck waren auch dabei – sie alle haben Medaillen bei Weltmeisterschaften und/oder Olympischen Winterspielen geholt. Als wir vorgestellt wurden, gab es Applaus, und als ich am Ende der Weltmeisterschaft in einem Videoclip gewürdigt wurde, sogar Standing Ovations. „Look at her face, there was no stress“, sagte der ehemalige ABC-Fernsehreporter und Präsentator Doug Wilson. Die Menge hielt gebannt den Atem an, ehe die Jubelstürme losbrachen. Damit hatte ich wirklich nicht gerechnet und Tränen stiegen in meine Augen. Rückblickend würde ich sogar sagen, dass ich 2015 in den USA eine größere Wertschätzung erfuhr als 1972 nach meinem Olympiasieg in Österreich. Diese kleine Polemik wirst Du mir verzeihen, oder?
Es war ein Wiedersehen guter Bekannter. Willy Bietak, ein anderer Eiskunstläufer vergangener Zeiten, sagte einmal, dass die Eiskunstläufer eine große Familie bilden würden. Nicht immer sieht man sich, aber wenn, dann baut man recht schnell wieder eine gute Beziehung auf. Wie wahr! Während meiner Laufbahn als Aktive war ich mit Janet Lynn und anderen nicht befreundet, aber wir haben uns gegenseitig respektiert. Und jetzt, Jahrzehnte später, ohne den Druck, gegeneinander antreten zu müssen und mit der Reife des Lebens, tragen die Keime der Freundschaft Blüten. Wir „Alten“ haben uns wunderbar verstanden; es wurde erzählt, was jeder so macht und gemacht hat, was einem widerfahren ist. Der Gedankenaustausch ging oft weit weg vom Eiskunstlauf und vom Sport, bis hin zu politischen und religiösen Themen, war aber durchwegs geprägt von gegenseitigem Respekt und Verständnis. Es war ein „Eislauf-Klassentreffen“. Nach über 40 Jahren.
In der Halle beobachtete ich, wie Janet Lynn Pflicht-Unterricht gab und dachte mir insgeheim: Na ja, ich habe das irgendwie anders in Erinnerung. Später kam Janet zu mir und gestand, dass sie so nervös gewesen sei, weil ich zugeschaut hätte und sie sich dachte, was sie falsch gemacht haben könnte … Weißt Du, Papa, das sind sehr schöne Momente für mich, wenn eine hervorragende Kürläuferin wie Janet Lynn sich heute auch für die Pflicht starkmacht und sie als Grundlage des Eiskunstlaufs bezeichnet! Es ist einfach schön, dass wir uns nach so langer Zeit gefunden haben. Der Wettbewerb selber war sehr gut organisiert, steckt aber klarerweise in den Kinderschuhen. Gelaufen wurde auf schwarzem Eis, damit man die Linien bestmöglich erkennen konnte, und es gab lediglich Platzziffern, also: diese Pflichtfigur ist die beste, diese die zweitbeste usw. Noten wurden keine vergeben. Und ganz wichtig: Wir Preisrichter und -richterinnen wussten nicht, wer welche Kreise gezogen hatte. Dies schloss zusätzliche „Sympathiepunkte“ für den einen oder die andere aus.
Gesehen habe ich auch Dick Button, den zweifachen Olympiasieger (1948 und 1952) und fünffachen Weltmeister und späteren ABC-Reporter. 1952 in Oslo hatte er über Helmut Seibt triumphiert, meinen ersten Trainer, erinnerst Du Dich? Und bei der abschließenden Eislauf-Party saß ich mit anderen an einem Tisch, als eine Person auf mich zukam, die ich nicht auf Anhieb erkannte. „Schubsi!“, rief sie aus, nannte mich bei meinem Kosenamen, den ich während Revuezeiten hatte. Es war Judy Sladky. Vor 44 Jahren begann ich gemeinsam mit ihr bei der Revue in San Francisco! Sie war, wie viele andere auch, zu diesen Titelkämpfen gekommen, um alte Gesichter wiederzusehen und alte Kontakte neu aufleben zu lassen. Ich fand’s einfach nur toll und Schauer liefen mir über den Rücken.
Die Einladung nutzte ich zu einem ausgedehnten USA-Urlaub. War ja schon länger nicht mehr dort. Und so traf ich in New York beispielsweise Ken Shelley, den Paarlauf-Partner von JoJo Starbuck und habe mit ihm über unseren Sport gefachsimpelt. Ich erzählte, dass ich selbstverständlich zwei Paar Schuhe gehabt hatte, eines für die Pflichtfiguren, eines für die Kürläufe. JoJo war davon sehr überrascht, während Ken trocken kommentierte: „Mein Trainer sagte mir: ‚Save the money‘.“ Bei ihm wurde ein Paar Küreisen auf Pflichteisen umgeschliffen, was für mich unvorstellbar war. (Bei der Pflicht benötigte man Eisen, die nicht so hohl geschliffen waren, um eine kantenreine Drehung zustande zu bringen, und bei denen die untere Zacke weggeschliffen war.) Klar ist mir durch unsere Gespräche und generell bei dieser WM geworden, dass in den USA die Pflicht derzeit verkompliziert wird; die Haltung ist meines Erachtens viel zu verkrampft – die würde ich auch zu meinen besten Zeiten nur schwer zusammengebracht haben. Gefragt wurde ich, ob ich denn nicht Trainerin werden wolle. Ich habe dankend abgelehnt. Momentan reizt es mich sicher nicht auf dem Eis zu stehen.
Getroffen habe ich mich auch mit Viktor Pfeifer, unserem Olympiateilnehmer 2006, 2010 und 2014, dem ich als Mentorin über Jahre hinweg zur Seite stand und immer noch stehe. Wenn ich sehe, welchen Weg er eingeschlagen hat und wie er sich heute in den USA an der Universität wie auch als Trainer bewährt, zehn Stunden am Tag als Trainer arbeitet, wie er mit Kindern umgehen kann und mit kulturellen Mentalitätsunterschieden klarkommt, dann bin ich auch ein wenig stolz auf mich. Er ist jener Eiskunstläufer Österreichs, der mir am nächsten steht. Nur schade, dass er zu seiner Aktivenzeit wegen seines Studiums nicht (noch) härter an sich und für seinen sportlichen Erfolg arbeiten konnte. Schon interessant: Das, was er heute von seinen Schützlingen verlangt, hätte er vor einigen Jahren auch bei sich selbst umsetzen können. Aber was soll’s – was war, das war. Ich war seit über 20 Jahren nicht mehr in den USA, und wenn ich Vergleiche ziehe, dann fällt mir auf, dass sich die Mentalität nicht sonderlich verändert hat. Amerikaner gehen offen auf andere zu, zuweilen ist es ehrliche Freundschaft, zuweilen auch oberflächliche Freundlichkeit. Das Gesundheitsbewusstsein lässt zu wünschen übrig. Es gibt, charmant formuliert, sehr viele dicke Menschen, die einen Burger in der Hand oder schon im Mund haben und sich auf dem Weg in einen Drugstore befinden, um Nahrungsergänzung zu kaufen.
Papa, die Tage und Wochen, in denen ich im Zug oder Greyhound-Bus durchs Land gefahren bin, werde ich nie wieder vergessen. Ganz besonders jene Stunden, in denen ich durch den Capilano-Park, einen Regenwald in Vancouver, gewandert bin. Die Wanderung durch diesen wolkenverhangenen Park war dermaßen mystisch, dass ich mir wie in einem „Herr der Ringe“-Film vorkam.
Lieber Papa, Du fehlst mir. Du fehlst mir so sehr. Wie gerne würde ich Dir all das persönlich erzählen, doch auch wenn Du zu früh gegangen bist – Du würdest 2017 110 Jahre alt werden, und selbst wenn die Medizin gewaltige Fortschritte macht, sind solche Zahlen noch nicht das Durchschnittsalter eines Menschen in Mitteleuropa. Wenn doch, würde ich Dir erzählen wollen, wie sehr mir dieser neue Wettbewerb am Herzen liegt, wie sehr ich hoffe, dass er überleben wird. Am besten wäre es doch, dass die Pflicht-WM von der ISU als eine ihrer Konkurrenzen integriert würde. Mal...