VORSPIEL
Reich mir die Hand, mein Leben!
Leben, Liebe, Kunst
Auch, wenn zwei beieinander liegen, wärmen sie sich;
wie kann ein einzelner warm werden?
Prediger 4:11
1.
Wer heiratet, nimmt sich etwas vor, was er sich ohne eine gewisse Portion Optimismus nicht vornehmen würde. Das aber gilt erst für unsere schöne neue Welt, denn wenn zwei sich im neunzehnten Jahrhundert oder davor das Jawort gaben, dann sicher nicht mit Blick nur auf einen Teilabschnitt des kommenden Lebens. Heiraten, das war die Wette auf eine gemeinsame Zukunft, und so feierte man bei der Gelegenheit natürlich ein großes Fest. Heute sind sich die Mitspieler des Ausgangs nicht mehr so sicher, doch trotz alledem, das Leben als Paar ist immer noch ein gewünschtes Ideal, selbst wenn die Paare selber nicht so genau wissen, wie man dies gemeinsame Leben sicher über die Runden bringt. Wer heiratet, der baut darauf, dass er nun etwas hat, auf das er bauen kann. Dass er etwas hat, was ihn schützt gegen die kalte Welt und ihre Zumutungen.
Hoffnung und Enttäuschung, das ist seit alters her das große Thema der Literatur.
2.
»Romane schließen damit, daß Held und Heldin heiraten. Damit müßte man anfangen, aufhören aber damit, daß sie sich wieder trennen, das heißt befreien. Denn das Leben von Menschen so beschreiben, daß man mit der Schilderung der Hochzeit abbricht, ist nicht anders, als beschriebe man die Reise eines Mannes und bräche den Bericht an der Stelle ab, wo er Räubern in die Hände fällt.« Die Literatur hatte zwar immer schon einen Hang zum realistischen Pessimismus, aber Lew Tolstoi, der über Ehebruch nicht nur geschrieben, sondern auch selbst geheiratet hatte, wollte radikaler als jeder andere Schluss machen mit allen Sentimentalitäten, so, als müsse er sich selber jede täuschende Hoffnung austreiben. Am 30. August 1894, also mit sechsundsechzig Jahren, notierte er sich den so witzigen wie rabiaten Satz ins Tagebuch und machte kurzen Prozess nicht nur mit der Ehe, sondern genauso mit einer langen literarischen Tradition. Bis dahin war es nämlich auch anders gegangen, wie es eine der großen Autorinnen des Jahrhunderts vorgeführt hat. Jane Austens Stolz und Vorurteil ist nicht weniger als der kanonische Klassiker jenes Eheanbahnungsromans, dem Tolstoi jetzt den Laufpass gibt; für ihn wäre Austens Roman – der bekanntlich mit der Hochzeit endet – das Kultbuch der Räuber. Und der beginnt mit einem Satz, der genauso apodiktisch ist wie Tolstois, nur schöner: »Es ist eine allgemein anerkannte Wahrheit, daß ein Junggeselle im Besitz eines schönen Vermögens, nichts dringender braucht als eine Frau.«
Die Voraussetzung dieser allgemein anerkannten Wahrheit gilt sogar ohne die Bedingung eines schönen Vermögens: Die Ehe sei das Ziel eines jeden Menschen. Und Tolstois Forderung, man möge den Roman dort beginnen, wo Jane Austen die ihren zu beenden pflegte, drückt vor allem anderen den Zweifel aus, ob diese Wahrheit auch ganz kurz vor Anbruch des zwanzigsten Jahrhunderts noch wahr bleibt. Denn Jane Austens Vorstellung bedeutet ja, das Problematische im Verhältnis eines Paares sei der Weg zum Zusammenfinden, und ist dieser einmal erfolgreich zurückgelegt, werde schon nichts mehr schiefgehen. Tolstoi aber denkt das Gegenteil: Zusammenfinden ist nicht schwer, das Zusammenbleiben jedoch das eigentliche Problem. Ganz sicher hat er damit das moderne Lebensgefühl getroffen, das heute noch gilt. Und offenbar löst die Ehe inzwischen keineswegs mehr so einfach jene Probleme, zu deren Lösung sie einst erfunden worden ist. Etwas hat sich geändert, in der Gesellschaft, zwischen Männern und Frauen, etwas, was die traditionellen Sicherheiten aufgelöst hat – ob auch die Wünsche, das ist eine andere Frage.
Aber nicht nur darum geht es im Streit zwischen Jane Austen und Lew Tolstoi, denn die beiden sind keine Soziologen, sondern Schriftsteller, Verfasser von Romanen, Erzähler von Geschichten. Auch an den Romanen, am Erzählen selbst wird sich etwas Wesentliches ändern. Jene Romane, die damit schließen, dass Held und Heldin heiraten, setzten ja von Anfang an dies bestimmte Ende voraus, und das ist, im Großen und Ganzen, ein glückliches. Das weiß jeder Leser, der ein solches Buch aufschlägt. Die anderen Romane aber, wie sie Tolstoi verlangt, die mit der Hochzeit nur beginnen, sind zwangsläufig offen: Wie diese Ehe sich auflöst, wie diese Menschen sich trennen, was sie danach tun werden, all das ist unklar, all das weiß man nicht. So ist der Eheanbahnungsroman ganz natürlich einer, der mit festen Formen spielt, der einen gegebenen Rahmen individuell auszufüllen hat, der bekannte Motive auf neue Art variiert, und dieses neue Spiel mit klassischen Voraussetzungen eignet sich deshalb wunderbar für das komödiantische Fach. Der Eheanbahnungsroman ist als Tragödie nicht denkbar, als heiteres, ironisches Déjà-vu dagegen immer. Nicht aber der Roman, den Tolstoi verlangt: Dort ist das Problematische, das Zerfallende, die Zerstörung eine unvermeidbare Voraussetzung.
Natürlich ist auch jener großen Tradition, für die Jane Austen hier steht, das Problematische in den menschlichen Verhältnissen sehr bewusst, sonst wäre sie keine große Tradition. Das heitere Spiel mit den traditionellen Formen – und der Roman ist eine Form, ganz wie die Ehe – verdankt sich aber dem Wunsch, jedem Zwang zur radikalen Konsequenz und auch zur radikalen Wahrheitssuche auszuweichen; oder besser noch: sogar zu bezweifeln, dass es sie überhaupt gibt, diese radikale, ausschließliche Wahrheit. Radikale Wahrheit nämlich – Tolstoi wiederholt es noch und noch – ist immer kompromisslos. Stolz und Vorurteil ist der Versuch, durch Literatur zu klären, was die Voraussetzungen eines gelingenden Zusammenlebens, einer glücklichen Ehe überhaupt sind, und der Verlauf des Romans erzählt davon, dass dieses Gelingen, das Zusammenleben nur möglich ist als Kompromiss. Wenn das rechte Paar sich am Ende findet, dann waren bis dahin nicht wenige Probleme aus dem Weg zu räumen, sonst hätte man nicht drei, vier- oder fünfhundert Seiten dafür gebraucht, und dieser Weg war der beständige Ausgleich zwischen dem, was ein Leben ausmacht: Traum und Wirklichkeit, Wunsch und Erfüllung, Leidenschaft und Ordnung, Freiheit und Bindung, und all das vor dem Hintergrund der Notwendigkeit, dieses Leben auch materiell über die Runden zu bringen. Der Roman aber will allein dadurch, dass er existiert, beweisen, dass dieser Weg möglich ist.
Die Ehe ist die Wette, das ganze Glück durch einen Kompromiss zu bekommen.
3.
Der Roman beginnt dort, wo etwas im Leben nicht stimmt, und deshalb hat er sich immer schon besonders gern mit den Paaren beschäftigt. Leicht war das Leben als Paar noch nie, nicht einmal bei Adam und Eva, die bekanntlich keine Wahl hatten. Doch ist es immer ein großer Unterschied, mit welchen Paarkonstellationen ein Autor zugange ist; ob mit den sich bildenden oder den zerfallenden, und macht man sich jetzt an die Lektüre der einschlägigen Romane, so gilt auch hier eine Wette: Eine literarische Mode ist nie nur eine Mode, sondern sie verweist genau auf das, was nicht stimmt. Und wenn plötzlich das Zerfallen der Ehe interessanter wird als ihr Zustandekommen, dann müssen auch dafür Gründe zu finden sein.
Drei Frauen des neunzehnten Jahrhunderts, das ist schon vielen aufgefallen, teilen ein so ähnliches Schicksal, dass man fast von einer Mode sprechen möchte: Emma Bovary, Anna Arkadjewna Karenina und Effi von Innstetten, geborene Briest. Sie teilen ihr Schicksal im doppelten Sinne. Zum einen riskieren und verlieren sie ihre Männer, ihre bürgerliche Existenz und dann ihr Leben, weil sie der Versuchung durch einen anderen Mann nicht widerstehen konnten oder wollten. Zum anderen wird die Geschichte ihrer katastrophal scheiternden Lebensläufe zur Handlung dreier Romane, die eingegangen sind in die Weltliteratur. Drei Frauen, drei Romane, drei Autoren bilden eine einsam dastehende Trias, denn auch wenn naturgemäß noch eine Unzahl von Werken die Melodie von Treue und Betrug, Liebe und Verrat in endlosen Variationen durchgespielt hat, weder davor noch danach gibt es diese gleiche Szenerie, die einen ganzen Roman von vorn bis hinten bestimmt: Heirat, Ehebruch, Tod, und das nicht im verdorbenen Adel mit seinen Gefährlichen Liebschaften und nicht in mythischer Ferne, sondern in einem realen, wiedererkennbaren Milieu der bürgerlichen Gegenwart. Flaubert, Fontane, Tolstoi, so weit sie auseinanderliegen mögen, literarisch und biographisch, so nahe sind sie einander doch. Die ersten beiden Folgen von Madame Bovary – laut Émile Zola »die Formel des modernen Romans« und »das definitive Modell des Genres« – stehen am 1. und 15. Oktober 1856 in der Revue de Paris als Vorabdruck. Fontane ist vom 14. bis 22. Oktober in Paris. Ab Ende des Jahres ist der spektakuläre Prozess gegen Flaubert Stadtgespräch, und er endet mit dem Freispruch am 7. Februar 1857. Am 15./16. April...