Fangen Sie mit dem Ei an, nicht mit der Henne
Auf YouTube gibt es Videoclips von The Great Egg Race, einer beliebten Fernsehshow aus den 1980er-Jahren, die von einem liebenswerten, deutschstämmigen »Eierkopf« namens Dr. Heinz Wolff moderiert wurde. In dieser Show mussten die Kandidaten mit begrenzten Mitteln eine Apparatur bauen, um damit eine zu Beginn der Sendung gestellte Aufgabe zu lösen. Anfangs ging es dabei immer um ein Ei, das nicht zerbrechen durfte; in der ersten Folge bestand die Aufgabe darin, nur aus Büroklammern, Pappe und Gummibändern eine Vorrichtung zu konstruieren, mit der sich ein Ei über die größtmögliche Distanz transportieren ließ. Die Grundidee war simpel, führte aber zur Erfindung unglaublich einfallsreicher Apparate. Und angefangen hatte alles mit einem kleinen, unscheinbaren Ei.
Das Leben kann manchmal überwältigend sein. Wir möchten etwas erleben, die Welt sehen, Neues lernen – das kann schnell zu viel werden. Ich bin in meinem Leben irgendwann an einen Punkt gekommen, an dem ich das Gefühl hatte, mich nicht mehr für alles interessieren zu können. Mir schien nichts anderes übrig zu bleiben, als einiges außen vor zu lassen, und das gefiel mir nicht. Ich lebte in der Annahme – der falschen Annahme, wie sich herausstellen sollte –, dass es sich nur lohnte, sich für etwas zu interessieren, wenn man sich jahrelang damit beschäftigte, und ich es daher ebenso gut gleich bleiben lassen konnte.
Dagegen aber regte sich Widerstand in mir. Ich wollte trotzdem noch Neues lernen, Neues erleben. Es brauchte ja nicht gleich etwas Weltbewegendes zu sein. Erst mal klein anfangen, sagte ich mir.
Zum Beispiel mit einem Ei.
So kam es, dass ich überlegte, wie lange es wohl dauern würde, richtig gut kochen zu lernen. Mir fiel ein Koch ein, der mir einmal gesagt hatte, wahre Meisterschaft offenbare sich im Einfachen – in einem perfekten Omelett zum Beispiel. Wie viel jemand vom Kochen verstehe, zeige sich in diesem schlichten Gericht. Und so beschloss ich, die Reihenfolge umzukehren. Statt Tausende von Stunden damit zu verbringen, das Einmaleins der Kochkunst zu lernen und dann mein Können bei der Omelett-Zubereitung unter Beweis zu stellen, wollte ich einfach mit dem Omelett anfangen.
Ich konzentrierte mich voll und ganz auf dieses Omelett. Ich betrachtete es losgelöst vom üblichen Zweck des Kochens – der Befriedigung meines Grundbedürfnisses nach einem gefüllten Magen –, und gab ihm stattdessen einen besonderen Platz in meinem Leben. Es wurde zu einer Mikromeisterschaft.
Eine Mikromeisterschaft ist eine sich selbst genügende Aktivitätseinheit, in sich vollständig, aber mit einem größeren Feld verknüpft. Man kann sie für sich allein perfektionieren oder sie auf größere Zusammenhänge ausweiten – oder auch beides. Eine Mikromeisterschaft ist wiederholbar und wird mit einem Erfolgserlebnis belohnt. Sie ist also schon an und für sich eine angenehme Erfahrung. Man kann innerhalb der Mikromeisterschaft auch experimentieren, denn sie ist gewissermaßen elastisch – man kann sie formen und dehnen, und das Lernen wird dadurch zu einem dreidimensionalen Erlebnis, das die multisensorischen Neuronen in unserem Gehirn anspricht.
Genauso lernen wir als Kinder. Man eignet sich nicht alle Grundlagen auf einmal an, sondern lernt stattdessen eine coole Sache nach der anderen. Man lernt, wie man mit dem Skateboard einen Kickflip macht oder wie man einen Detektorempfänger baut. Mein Vater war Lehrer, und er hoffte, mich zu motivieren, indem er versprach, mir die Bauteile für ein Transistorradio zu kaufen, wenn ich erklären könnte, wie ein Transistor funktioniert. Mein Interesse erlosch augenblicklich. Ich wusste, wie man das Radio bauen und damit Spaß haben konnte, aber seine Funktionsweise erklären zu müssen, war etwas Schwieriges, Erwachsenes, Fremdartiges. Und falsch. (Dad, ich verzeihe dir.)
Der ungarische Psychologe Mihály Csíkszentmihályi hat viel über den »Flow« geschrieben – einen Zustand, in dem die Zeit stillzustehen scheint, weil wir vollkommen in etwas vertieft sind, das uns sehr interessiert.[1] Die Mikromeisterschaft bietet uns, da sie wiederholbar ist, ohne repetitiv zu sein, alles Nötige, um in diesen Flow-Zustand einzutreten, der eine tiefe Zufriedenheit mit sich bringt und die körperliche und geistige Gesundheit fördert.
Der Entschluss, in etwas Mikromeister zu werden, nimmt uns nicht auf so lähmende Art und Weise in die Pflicht, wie es zum Beispiel die Anschaffung eines Lehrbuchs für Anfänger tut. Indem wir uns von vornherein auf einen Teilbereich beschränken, können wir unser Interesse an der Welt im Allgemeinen aufrechterhalten. Wir gehen nicht die Verpflichtung ein, uns für eine gefühlte Ewigkeit mit dieser einen Sache zu beschäftigen, und brauchen auch nicht zu befürchten, letztlich unsere Zeit verschwendet zu haben.
Kennen Sie das? Sie belegen einen Einführungskurs in irgendetwas, geben es dann wieder auf, und wenn Sie ein paar Jahre später jemandem erzählen wollen, was Sie damals gelernt haben, fällt Ihnen rein gar nichts mehr ein? Bei einer Mikromeisterschaft ist das anders. Die bleibt Ihnen für immer erhalten – und anderen etwas zeigen zu können, ist schön. Wenn man beispielsweise eine Kampfsportart erlernt, braucht man etwas, womit man seine Freunde beeindrucken kann, wenn sie fordern: »Na los, mach doch mal was vor.«
Eine Mikromeisterschaft besitzt eine Struktur, die essenziell mit wichtigen Elementen des weiteren Felds, zu dem sie gehört, verbunden ist. Sie macht die Beziehungen und die Gewichtung der Teilelemente der Aufgabe deutlich, die sich mit lehrbuchmäßigen Erklärungen nicht vermitteln ließen. Ihre Wiederholbarkeit und der spielerische Aspekt des Ganzen (die Gameability) – den Leuten schmeckt Ihr Omelett, sie verlangen nach einem weiteren, und Sie stecken daraufhin Ihre Ziele höher – machen die Mikromeisterschaft zu einem autodidaktischen Mechanismus, bei dem das Experimentieren innerhalb klar umrissener Grenzen den Lernerfolg noch einmal spürbar erhöht.
Doch zurück zum Anfang. Man nehme also ein Ei – oder auch zwei.
Ein Koch gab mir den Tipp, das Omelett mit der Gabel aufzulockern. Ich habe immer wieder geübt. Dann habe ich mir im Internet weitere Tipps geholt. Und eine Französin riet mir, die Eier vorher zu trennen, weil das Omelett dadurch doppelt so dick und locker wird. Wenn ich meine Omeletts auftische, sagen die Gäste immer nur: »Wow!«
Das ist es, was ich als »Einstiegskniff« bezeichne. Den gibt es bei jeder Mikromeisterschaft. Es ist ein Trick, mit dem man beim Ausführen der gestellten Aufgabe mit einem Schlag merklich weiterkommt und sofort belohnt wird – im Gehirn werden positive Botenstoffe ausgeschüttet, die ein wohlig-warmes Gefühl hervorrufen.
Bei manchen Mikromeisterschaften ist der Einstiegskniff eine große Sache, ein integraler Bestandteil des Ganzen. Bei anderen gibt er einem lediglich den Impuls zum Loslegen. Es gibt viele Angeber, die sich damit brüsten, mit welcher Leichtigkeit sie Fremdsprachen, die Infinitesimalrechnung oder das Programmieren in C++ erlernt haben, doch sie alle scheinen das Wesentliche nicht zu begreifen. Lernen sollte sich nicht wie Schule anfühlen; es darf nicht langweilen. Natürlich muss es auch kein alberner Spaß sein, es sollte uns allerdings weder abstumpfen noch anöden und auch nicht überfordern. Der Einstiegskniff räumt all das im Handumdrehen beiseite.
Beim Bauen von Steinmännchen ist der Einstiegskniff besonders raffiniert. Vielleicht haben Sie schon einmal gesehen, wie ein Erbauer von Steinskulpturen am Strand zu Werke geht. Es sieht aus wie Zauberei – gerundete Steine und Mini-Felsblöcke werden zu scheinbar unmöglichen Türmen gestapelt. Als ich so eine Skulptur zum ersten Mal sah, dachte ich, da müsse Klebstoff oder eine Metallstange im Innern im Spiel sein … bis ein kleiner Junge angelaufen kam und das Werk umstieß. Als ich beim Wiederaufbau helfen wollte, zeigte mir der Künstler den Einstiegskniff.
(Die folgenden Bilder zeigen Türme, die ich selbst später, nachdem ich gelernt hatte, wie es geht, am Strand errichtet habe.)
Man kann jeden beliebigen Stein ausbalancieren, muss dazu aber auf einer Seite des stützenden Steins drei nah beieinanderliegende erhöhte Punkte finden – drei kleine Unebenheiten, oder auch nur Körnchen. Sie können winzig, fast unsichtbar sein, und je kleiner sie sind, desto besser sieht es aus. Diese drei Stellen bilden ein flaches Dreieck, in das ein zweites gerundetes Objekt sich hineinschmiegen kann. So funktioniert dieser verrückte Balanceakt. Die meisten Leute suchen nach flachen Stellen an den Steinen, um sie dort aufeinanderzustapeln, doch das klappt nicht, denn in der Natur ist nichts wirklich flach.
Steine aufeinanderzuschichten macht nicht nur Spaß, es ist auch eine perfekte Form der Mikromeisterschaft. Einerseits in sich abgeschlossen, könnte es Ihnen andererseits aber auch, sofern Sie das möchten, die Welt der Bildhauerei und Landschaftskunst eröffnen.