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E-Book

Die Kunst, nicht aneinander vorbeizureden

AutorMalcolm Gladwell
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl384 Seiten
ISBN9783644006034
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis11,99 EUR
Unsere Instrumente und Strategien, mit denen wir andere Menschen verstehen wollen, funktionieren nicht, schreibt Bestsellerautor Malcolm Gladwell. Und weil wir nicht wissen, wie wir mit Fremden reden sollen, kommt es immer wieder zu Missverständnissen, zu Krisen und Konflikten. Amanda Knox beteuert ihre Unschuld, von den italienischen Richtern wird sie dennoch wegen Mordes verurteilt. Anleger fallen auf Betru?ger wie Bernie Madoff rein, die CIA lässt sich von Castros Spionen täuschen, und immer wieder deuten wir die Worte der anderen einfach falsch. Gladwell beschreibt diese dramatischen Fälle des Aneinandervorbeiredens und zeigt, warum unsere Zusammentreffen mit denen, die wir nicht kennen und die uns fremd sind, so oft scheitern. Wir reden an dem anderen vorbei, weil wir mit seinen Erwartungen und Empfindungen nicht vertraut sind. Gladwell gibt unserer Kommunikation einen Rahmen: Sein Buch ist eine kluge Analyse der psychologischen Faktoren, die unser Reden und Verhalten bestimmen. Und es ist ein Ratgeber in Zeiten, in denen u?berall Missverständnisse lauern, weil wir uns heute mehr denn je mit Menschen verständigen mu?ssen, die uns nicht vertraut sind.

Malcolm Gladwell, geboren 1963 in London, schreibt seit 1996 für den New Yorker. Für sein Porträt von Ron Popeil erhielt er 1999 einen National Magazine Award, 2005 führte ihn Time auf seiner Liste der '100 Most Influential People'. Gladwell ist Autor der Bestseller Tipping Point: Wie kleine Dinge Großes bewirken können (2000), Blink! Die Macht des Moments (2005), Überflieger: Warum manche Menschen erfolgreich sind - und andere nicht (2009) und zuletzt David und Goliath. Die Kunst, Übermächtige zu bezwingen (2013) und verantwortet den Podcast 'Revisionist History'. Gladwell lebt in New York City.  

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Leseprobe

3.


Im 16. Jahrhundert wurden in Europa an die siebzig Kriege geführt. Die Dänen kämpften gegen die Schweden, die Polen gegen den Deutschherrenorden, die Osmanen gegen Venedig, die Spanier gegen die Franzosen und so weiter. Wenn es in diesem endlosen Blutvergießen ein Muster gab, dann waren es überwiegend Nachbarn, die einander bekriegten. Man bekriegte sich mit Menschen, die auf der anderen Seite der Grenze lebten und schon immer dort gelebt hatten. Oder mit Menschen im eigenen Land: Im Osmanischen Krieg des Jahres 1509 prallten sogar zwei Brüder aufeinander. In der gesamten Geschichte der Menschheit fanden nur die wenigsten Begegnungen – ob friedlich oder feindlich – zwischen Menschen statt, die sich nicht kannten. Die Menschen, die einander begegneten und bekämpften, hatten dieselben Götter, bauten dieselben Häuser, lebten in denselben Städten und führten ihre Kriege mit denselben Waffen und nach denselben Regeln.

Der blutigste Konflikt des 16. Jahrhunderts fällt allerdings aus der Reihe. Als der spanische Eroberer Hernán Cortés dem Aztekenherrscher Moctezuma Xocoyotzin gegenübertrat, wusste keine der beiden Seiten etwas von der anderen.

Cortés landete im Februar 1519 in Mexiko und machte sich auf den beschwerlichen Weg ins Landesinnere, in Richtung der Aztekenhauptstadt Tenochtitlan. Als die Spanier Tenochtitlan erreichten, waren sie beeindruckt. Der Anblick war atemberaubend, an Größe und Reichtum übertraf die Stadt alles, was er und seine Männer aus Spanien kannten. Sie befand sich auf einer Insel, die über Brücken mit dem Festland verbunden und von Kanälen durchzogen war, und die mit breiten Prachtstraßen aufwartete, mit ausgeklügelten Aquädukten, florierenden Märkten, mit Tempeln, die mit weißem Stuck verkleidet waren, mit öffentlichen Parks und sogar mit einem Zoo. Tenochtitlan war blitzsauber, was für jemanden, der im Schmutz einer mittelalterlichen europäischen Stadt aufgewachsen war, ein wahres Wunder gewesen sein muss.

«Wir marschierten wie im Traum durch diese Herrlichkeiten», schrieb Bernal Díaz del Castillo, einer der Begleiter von Cortés:

Zum ersten Mal [sahen wir] die große Zahl der Städte und Dörfer, die mitten in den See gebaut waren, und die noch weitaus größere Zahl der Ortschaften an den Ufern und schließlich die sehr gepflegte, kerzengerade Straße, die in die Stadt Mexiko führte. Wir waren bass erstaunt über dieses Zauberreich, das fast so unwirklich erschien wie die Paläste in dem Ritterbuch des Amadis. Hoch und stolz ragten die gemauerten, steinernen Türme, Tempel und Häuser mitten aus dem Wasser. Einige unserer Männer meinten, das seien alles nur Traumgesichte.

Auf einer der Brücken wurden die Spanier von einer Abordnung aztekischer Granden in Empfang genommen und zu Moctezuma geführt. Moctezuma war ein Herrscher von beinahe surrealem Prunk, er wurde auf einer mit Gold und Silber bestickten und mit Blumen und Edelsteinen geschmückten Sänfte getragen. Einer seiner Hofleute ging vor ihm her und fegte den Boden. Cortés stieg von seinem Pferd, Moctezuma von seiner Sänfte. Als Spanier wollte Cortés Moctezuma umarmen, doch Moctezumas Begleiter hielten ihn zurück. Niemand durfte Moctezuma umarmen. Stattdessen verbeugten sich die beiden voreinander.

«Bist du es? Bist du Moctezuma?»

Und Moctezuma erwiderte: «Ja, ich bin es.»

Kein Europäer hatte je seinen Fuß nach Mexiko gesetzt. Kein Azteke war je einem Europäer begegnet. Cortés wusste nichts von den Azteken, er hatte nur von ihrer legendären Stadt gehört. Moctezuma wusste nichts von Cortés, außer dass er mutig in die aztekische Hauptstadt aufgebrochen war und sonderbare Waffen und große, geheimnisvolle Tiere mitbrachte – es waren Pferde –, wie sie die Azteken nie zuvor gesehen hatten.

Es ist kein Wunder, dass die Begegnung zwischen Cortés und Moctezuma die Historiker seit Jahrhunderten fasziniert. In diesem Moment vor 500 Jahren, als europäische Entdecker über das Meer segelten und kühne Expeditionen ins Unbekannte wagten, kam es zu einer ganz neuen Form der Begegnung. Cortés und Moctezuma mussten miteinander kommunizieren, obwohl sie nicht das Geringste voneinander wussten. Wie verlief dieses Gespräch? Jedenfalls nicht so, wie ich es eben beschrieben habe. Als Cortés fragte: «Bist du es? Bist du Moctezuma?», richtete er die Frage nicht direkt an den Herrscher der Azteken, denn Cortés sprach ja nur Spanisch. Aber er hatte zwei Dolmetscher dabei. Einer war eine Frau von der Golfküste namens Malinche, die neben verschiedenen Maya-Dialekten auch die Aztekensprache Nahuatl beherrschte. Der andere war der spanische Priester Gerónimo del Aguilar, der bei einer früheren Expedition in Yucatán Schiffbruch erlitten, bei den Mayas gelebt und ihre Sprache gelernt hatte. Cortés richtete die Frage also an Aguilar, der sie Malinche ins Maya übersetzte, und diese wiederum übersetzte das Maya für Moctezuma ins Nahuatl. Und als Moctezuma erwiderte: «Ja, ich bin es», nahm die Übersetzung den langen Umweg in umgekehrte Richtung. Moctezuma sprach in Nahuatl mit Malinche. Malinche übersetzte das Nahuatl für Aguilar ins Maya. Und Aguilar übersetzte das Maya für Cortés ins Spanische. Selbst eine so einfache und alltägliche Frage war plötzlich hoffnungslos kompliziert.

Cortés und seine Männer wurden in einem der Paläste Moctezumas einquartiert. Aguilar beschrieb den Palast später so: «Ungezählte Räume, Vorräume, prachtvolle Hallen, mit Betten aus großen Tuchen, Kissen aus Leder und Pflanzenfasern, gute Federdecken und wunderbare weiße Felle». Nachdem die Spanier gegessen hatten, kehrte Moctezuma zurück und hielt eine Ansprache. Sofort kam es zu Verwirrung. Die Spanier wollten in den Sätzen Moctezumas ein ganz erstaunliches Zugeständnis gehört haben. Er schien zu glauben, dass Cortés ein Gott sei und eine uralte Prophezeiung erfülle, die besagte, dass eines Tages ein Gott aus seinem Exil im Osten zurückkommen werde. Es schien, als wollte er sich Cortés daher unterwerfen. Man kann sich die Reaktion von Cortés vorstellen: Diese großartige Stadt gehörte nun ihm.

Aber was hatte Moctezuma wirklich gesagt? Nahuatl, die Sprache der Azteken, kannte einen Modus der Ehrerbietung. Herrscher wie Moctezuma verwendeten einen traditionellen Code, in dem sie ihren Status durch gewundene Gesten der Bescheidenheit zum Ausdruck brachten. Im klassischen Nahuatl ist das Wort für «Adelige» nahezu identisch mit dem Wort für «Kind», wie der Historiker Matthew Restall erklärt. Wenn ein Herrscher wie Moctezuma sich als klein und schwach beschreibt, dann ist das in Wirklichkeit nichts anderes als ein subtiler Hinweis auf sein Ansehen und seine Macht.

«Eine solche Sprache lässt sich unmöglich korrekt übersetzen», schreibt Restall:

Die Sprecher sind oft gezwungen, das Gegenteil dessen zu sagen, was sie eigentlich meinen. Die wahre Bedeutung wird in ihre ehrerbietige Sprache eingebettet. Solche Feinheiten gehen in der Übersetzung verloren und werden durch mehrere Dolmetscher verzerrt. Deshalb war es nicht nur unwahrscheinlich, dass Moctezumas Rede korrekt wiedergegeben wurde, sondern sogar sehr wahrscheinlich, dass die Bedeutung in ihr Gegenteil verkehrt wurde. Das heißt, Moctezuma unterwarf sich nicht etwa, sondern er nahm vielmehr die Unterwerfung der Spanier an.

Vielleicht erinnern Sie sich noch aus dem Geschichtsunterricht, wie die Begegnung von Moctezuma und Cortés endete. Moctezuma wurde von Cortés als Geisel genommen und schließlich ermordet. Beide Seiten griffen zu den Waffen. Etwa 20 Millionen Azteken starben, einige durch die Waffen der Spanier, die allermeisten durch Seuchen, die diese eingeschleppt hatten. Tenochtitlan wurde zerstört. Mit dem Feldzug von Cortés nahm die katastrophale Ära der kolonialen Eroberungen ihren Anfang. Und es begann ein typisch modernes Muster der sozialen Interaktion. Heute kommen wir andauernd mit Menschen in Berührung, deren Annahmen, Sichtweisen und Kontexte so ganz anders sind als unsere. Das Bild für die moderne Welt sind nicht zwei Brüder, die im Streit um das Osmanische Reich aufeinandertreffen. Das Bild für unsere moderne Welt sind Cortés und Moctezuma, die darum ringen, sich auf Umwegen über mehrere Dolmetscher zu verständigen.

Dieses Buch handelt davon, warum wir so schlechte Dolmetscher sind.

Jedes der folgenden Kapitel nähert sich unseren Problemen mit Fremden aus einer anderen Richtung. Einige der Geschichten kennen Sie vielleicht aus den Nachrichten. Auf einer Verbindungsparty an der Stanford University lernt ein Student namens Brock Turner eine junge Frau kennen, und am Ende des Abends ist er in Polizeigewahrsam. An der Pennsylvania State University wird ein ehemaliger Assistenztrainer der Footballmannschaft, Jerry Sandusky, des sexuellen Missbrauchs von Jugendlichen bezichtigt, und der Rektor der Universität und zwei seiner führenden Mitarbeiter werden der Mitwisserschaft angeklagt. Sie werden einer Spionin begegnen, die jahrelang unerkannt in den obersten Führungsebenen des Pentagons aktiv war; lernen den Mann kennen, der den Hedgefondsmanager Bernie Madoff überführte; und erfahren mehr über den Justizirrtum im Fall der amerikanischen Austauschstudentin Amanda Knox und den Selbstmord von Sylvia Plath.

In jedem dieser Fälle verließen sich die Beteiligten auf ganz bestimmte Strategien, um die Worte und Absichten der anderen Seite zu übersetzen. Und in jedem dieser Fälle ging irgendetwas schief. In diesem Buch möchte ich diese Strategien erklären – analysieren, kritisieren, zu ihren Wurzeln vordringen und herausfinden, wie sie sich korrigieren lassen. Am Ende kehre ich...

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