Teil 1
Interne Trigger bewältigen
Kapitel 3
Was motiviert uns wirklich?
Zoë Chance, Professorin an der Yale School of Management, die in Harvard promoviert hat, enthüllte ihrem TEDx-Publikum eine schockierende Wahrheit: »Ich komme heute ins Reine und erzähle diese Geschichte zum allerersten Mal – mit all ihren hässlichen Details. Im März 2012 … kaufte ich ein Gerät, das langsam, aber sicher mein Leben zerstörte.«1
In Yale unterrichtete Chance die Führungskräfte der Zukunft und weihte sie in die Geheimnisse des sich wandelnden Konsumentenverhaltens ein. Sie nannte ihren Kurs »Mastering Influence and Persuasion«, sie wollte also zeigen, wie man sich gegen Einflüsse und Überredungskünste wappnen kann. Aber ihr Geständnis im TEDx-Talk zeigt, dass sie selbst auch nicht immun gegenüber diesen Manipulationen war: was als Forschungsprojekt begonnen hatte, verwandelte sich schnell in einen sinnlosen Zwang.
Chance stieß auf ein Produkt, das für viele der Überzeugungstechniken steht, die sie in ihrem Kurs lehrte: »Wir sagten ständig erstaunt: ›Oh, das ist brillant, diese Typen sind genial. Sie nutzen tatsächlich jedes Motivationsinstrument, das man sich vorstellen kann.‹«2 Natürlich musste sie es selbst ausprobieren und stellte sich als Versuchskaninchen zur Verfügung. Sie konnte schließlich nicht ahnen, wie dieses Produkt sowohl ihren Kopf als auch ihren Körper manipulieren würde. »Ganz ehrlich: Ich konnte wirklich nicht damit aufhören, und es dauerte lange, bis ich das als Problem erkannte«, resümiert sie später.
Kein Wunder, dass Chance ihr Problem so lange leugnete: Das Produkt, von dem sie abhängig geworden war, war keine verschreibungspflichtige Pille oder eine Straßendroge, sondern ein Schrittzähler. Genauer: der Striiv Smart Pedometer. Ein Jahr zuvor hatten ehemalige Videospieldesigner ein Silicon-Valley-Start-up gegründet und ihn erfunden. Der Striiv ist aber kein gewöhnlicher Schrittzähler. Das Unternehmen vermarktet ihn als »Personal Trainer in der Tasche«. Dem widerspricht sie vehement: »Nein! Es ist Satan in Ihrer Tasche!«
Striiv nutzt aus Videospielen bekannte Verhaltenstaktiken, um die Nutzer zu mehr körperlicher Aktivität zu animieren. Sie werden mit bestimmten Challenges konfrontiert, bei denen sie fürs Gehen Punkte sammeln. Sie können sich mit anderen Spielern messen und wie bei Turnieren ihre jeweiligen Platzierungen auf Ranglisten anzeigen lassen. Gleichzeitig ist der Schrittzähler mit einer Smartphone-App namens MyLand gekoppelt, bei der die Spieler mit ihren Punkten virtuelle Welten aufbauen können.
All das hatte Chance in einen Bann gezogen und sie bewegte sich unentwegt, um weiter Schritte und damit Punkte zu sammeln. »Ich kam nach Hause, und während ich aß, oder während ich las, oder während ich aß und las, oder während mein Mann versuchte, mit mir zu reden, lief ich zwischen dem Wohnzimmer und der Küche und dem Esszimmer und dem Wohnzimmer und der Küche und dem Esszimmer kontinuierlich im Kreis.«
Leider begann all das kontinuierliche Gehen (meistens übrigens im Kreis), seinen Tribut zu zollen: Sie hatte weniger Zeit für ihre Familie und Freunde. »Die einzige Person, der ich näherkam«, gab sie zu, »war mein Kollege Ernest, der auch einen Striiv hatte, daher konnten wir uns gegenseitig Challenges stellen und miteinander konkurrieren.«
Sie entwickelte eine regelrechte Obsession: »Ich habe Tabellenkalkulationen erstellt, um zu optimieren und immer auf dem neuesten Stand zu sein – aber nicht mein Training, sondern meine virtuellen Transaktionen in einer virtuellen Welt, die auf einem Striiv-Gerät existierte.« Das kostete sie nicht nur Zeit, sondern fügte ihr allmählich auch körperlichen Schaden zu. »Als ich den Striiv benutzte, ging ich 24.000 Schritte pro Tag. Rechnen Sie sich selbst aus, wie viele Kilometer das täglich sind.«
Chance erinnert sich, dass sie am Ende eines besonders aktiven Tages von ihrem Striiv ein verlockendes Angebot erhielt: »Es war Mitternacht, ich putzte mir gerade die Zähne und machte mich bettfertig, als diese Pop-up-Challenge auftauchte. Da stand: ›Wir geben dir die dreifachen Punkte, wenn du nur zwanzig Stufen hinaufgehst!‹« Chance war sofort klar, dass sie für diese Challenge nur eine knappe Minute brauchen würde; sie müsste nur zweimal die Kellertreppe hoch und runter. Dann erhielt sie eine weitere Nachricht, die sie zu weiteren vierzig Schritten ermutigte – wieder für die dreifache Punktzahl. Also lief sie schnell noch viermal die Kellertreppe hoch und runter. Aber da hörte es noch lange nicht auf. Sie lief diese Treppen die nächsten zwei Stunden – von Mitternacht bis zwei Uhr morgens –, wie von einer seltsamen, den Verstand kontrollierenden Macht besessen. Als sie endlich ein Ende fand, war sie über 2.000 Stufen gestiegen. Das sind mehr als die 1.872, die man im Empire State Building bis nach oben braucht. Sie hatte sich mitten in der Nacht dank des Striiv in einen Fitnesszombie verwandelt!
Chances Geschichte liest sich wie eine perfekte Fallstudie aus dem Lehrbuch: Etwas so gesund Wirkendes wie ein Schrittzähler mutiert zu einer schädlichen Ablenkung. Ich hörte von ihrer seltsamen Besessenheit mit ihrem Fitness-Tracker und wollte mehr wissen. Aber zuerst musste ich die Motivation hinter ihrem Verhalten verstehen, ihren Antrieb.
Seit Jahrhunderten sind wir davon überzeugt, dass Motivation durch Belohnung und Bestrafung getrieben wird. Jeremy Bentham, der englische Philosoph und Begründer des Utilitarismus, schrieb dazu: »Die Natur hat die Menschheit unter die Kontrolle zweier souveräner Meister gestellt, Schmerz und Freude.«3 Dabei hat Motivation tatsächlich viel weniger mit Lust zu tun als ursprünglich angenommen.
Wir denken, wir wollen uns vergnügen, wollen uns aber eigentlich nur von unserer Begierde nach etwas anderem ablenken.
Bereits der altgriechische Philosoph Epikur brachte es auf den Punkt: »Mit Vergnügen meinen wir die Abwesenheit von körperlichen Schmerzen und von seelischen Leiden.«4
Unser Unbehagen zu lindern ist der Antrieb unseres Verhaltens, alles andere nur eine unmittelbare Ursache.
Das Billardspiel ist eine gute Metapher dafür: Warum rollen die farbigen Kugeln in die Taschen, wegen der weißen Billardkugel, des Queues oder der Aktionen des Spielers? Die weiße Kugel und der Queue sind zwar notwendig, die eigentliche Ursache ist aber der Spieler. Kugel und Queue sind also nicht die Hauptursachen, sondern die unmittelbare Ursache des daraus resultierenden Ereignisses.5 Im wahren Leben ist es dennoch oft schwer, die Hauptursache zu erkennen. Wenn wir bei einer Beförderung übergangen werden, könnten wir dem Kollegen die Schuld geben, der den Job angenommen hat – statt über unseren Mangel an Qualifikationen und Initiative nachzudenken. Bei einem Streit mit unserem Partner könnten wir den Konflikt auf einen winzigen Vorfall schieben, etwa einen hochgeklappten Toilettensitz – statt auf die jahrelang ungelösten Probleme. Und wir könnten unsere politischen und ideologischen Gegner für die globalen Probleme zum Sündenbock erklären, statt die tieferen systemischen Gründe für diese Probleme verstehen zu wollen.
Diese unmittelbaren Ursachen haben eines gemeinsam: Wir können die Verantwortung abwälzen. Es ist nicht so, dass die weiße Billardkugel und der Queue nicht in die Gleichung einfließen, ebenso wie der Kollege oder der Toilettensitz, aber sie sind nicht allein verantwortlich für das Ergebnis. Ohne die eigentliche Ursache zu verstehen und anzugehen, sind wir hilflose Opfer in unserer letztlich selbst geschriebenen Tragödie.
Unsere Ablenkungen sind das Ergebnis derselben Kräfte. Sie sind unmittelbare Ursachen, die wir als schuldig deklarieren, während die eigentlichen Ursachen verborgen bleiben. Wir neigen dazu, etwas anzuprangern, zum Beispiel das Fernsehen, Junkfood, Social Media, Zigaretten und Videospiele – aber das sind alles nur unmittelbare Ursachen für unsere Ablenkung.
Ein Smartphone ist genauso wenig schuld an der Ablenkung wie der Schrittzähler an den vielen erklommenen Stufen.
Wenn wir nicht die eigentlichen Ursachen der Ablenkung angehen, werden wir uns weiterhin ablenken lassen. Es geht nämlich nicht um die Ablenkung per se, sondern um unsere Reaktion.
Zoë Chance schilderte mir in mehreren E-Mails, was sie in ihrem TEDx-Talk nicht preisgeben wollte: ihren eigentlichen Antrieb, die düstere Realität. »Striiv fand seinen Weg während einer der stressigsten Phasen meines Lebens zu mir«, schrieb sie. »Ich wollte mich gerade auf die Suche nach einer Einstiegsstelle als Marketingprofessorin machen: ein zermürbender, monatelanger Prozess ohne auch nur den Hauch einer Sicherheit. Es ist nicht ungewöhnlich, dass Wissenschaftler während der Stellensuche körperliche Stresssymptome zeigen. Ich verlor Haare, hatte Schlaf- und Herzrhythmusstörungen. Ich fühlte mich, als würde ich verrückt werden, auch weil ich scheinbar keine Schwäche zeigen durfte.«6
Komplizierter wurde es noch dadurch, dass ihr Mann ebenfalls Marketingprofessor war, sie deshalb eine gemeinsame Anstellung finden mussten, entweder für sie an seiner Universität oder für beide...