Kapitel I
Stimmungen: Schlüssel zum Verständnis
»Denn nichts anderes tue ich, als dass ich umhergehe, um euch, Junge und Alte, zu überreden, weder für den Leib noch für das Vermögen so leidenschaftlich zu sorgen wie für eure Seele, auf dass diese bestmöglich gedeihe.«
Platon, Apologie des Sokrates
Meine Stimmungen – das ist all das, was mir bewusst wird, wenn ich mich den Automatismen des Alltags entziehe, wenn ich aus dem Handeln heraustrete und das beobachte, was in meinem Innern vorgeht. Das Problematische am Beobachten solcher Stimmungen ist bloß, dass sie sich immerzu verändern. Im Englischen spricht man vom stream of affects, einem Strom, einer Flut von Affekten.
Stimmungen sind der Widerhall, den das eben Erlebte in mir auslöst – oder das, was ich nicht erlebt habe, aber gern erlebt hätte oder noch zu erleben hoffe. Sie sind auch alles das, was in meinem Kopf weiter herumschwirrt, wenn ich mir sage: Schluss jetzt, denk nicht mehr daran!
Kurz gesagt, Stimmungen sind ein Universum für sich.
Stimmungen verstehen
Die Vorstellung von Stimmungen oder Seelenzuständen gehört nicht in den Bereich der wissenschaftlichen Psychologie; eher ist sie in der Poesie verwurzelt und im gesunden Menschenverstand. Dennoch sind Stimmungen eine psychische Realität, und jeder versteht, wovon die Rede ist. Als Psychiater glaube ich, dass es sich um einen einsatzfähigen und für meinen Beruf nützlichen Begriff handelt, auch wenn er poetisch und vage ist. Aber ist mein Beruf nicht manchmal ebenso poetisch und vage? Wenn man es richtig bedenkt, verweisen Stimmungen schließlich nicht auf eine verschwommene Wirklichkeit, sondern auf eine höchst komplexe Realität.
Definieren könnte man die Stimmungen folgendermaßen: Es sind bewusste oder unbewusste mentale Inhalte, in denen sich körperliche Zustände, subtile Emotionen und automatische Gedanken miteinander mischen; die meisten unserer Haltungen werden von ihnen beeinflusst. Wir widmen ihnen im Allgemeinen wenig Aufmerksamkeit und Mühe – weder um sie zu verstehen noch um sie in unsere Reflexionen mit einzubeziehen oder sie uns gar nutzbar zu machen. Glücklicherweise tun sie all dies von selbst: Sie haben einen immensen Einfluss auf das, was wir sind und was wir tun.
Denken Sie nur einmal daran, wie Trübsal oder Kummer auf Sie wirken. Denken Sie an Ihre Zornesausbrüche. Egal, ob sie sich nach außen ausdrücken oder nicht, sie verhalten sich oftmals ganz unproportional zu den momentanen Ereignissen. Rühren sie nicht häufig daher, dass man gewisse Stimmungen – Ressentiments, Groll, Demütigung oder auch einfach nur Enttäuschung oder Beunruhigung – zu lange wiedergekäut hat? Aber Stimmungen sind ja nicht nur eine Plage: Denken Sie auch daran, wie viel Kraft Sie aus Ihrer Begeisterung schöpfen können, wie leicht sich der Körper an freudigen Tagen anfühlt, wie viel Schwung Ihnen die gute Laune bringt.
Unsere Stimmungen sind mehr als nur Gedanken oder Emotionen: Sie sind eine Mischung aus beidem. Keine Emotion kommt ohne Gedanken daher, kein Gedanke ist frei von Erinnerungen, keine Erinnerung existiert ohne Emotionen. Stimmungen sind der Ausdruck dieser großen, untrennbaren Mixtur von Emotionen und Gedanken, von Körper und Geist, Außen und Innen, Gegenwärtigem und Vergangenem – einer Mixtur, die so reichhaltig wie komplex ist: unrein, einzigartig, unbeständig, immer neu entstehend und niemals exakt dieselbe. Ein bisschen wie die Wellen des Meeres.
Stimmungen sind nicht allein eine Anhäufung von Ideen, Emotionen oder Sinneseindrücken, sondern auch ein ganz eigenständiges Konstrukt: eine von uns automatisch vorgenommene Synthese von Innerem (Körperzustand, Weltsicht) und Äußerem (Reaktivität auf das, was uns geschieht). So sind Stimmungen ein psychisches Phänomen, in dem sich vielerlei sammelt und ballt: Sie verbinden Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in einem Gefühl von Kohärenz und Vorbestimmtheit.
»Ohne es zu wollen, fühle ich, dass ich soeben über mein Leben nachgedacht habe. Ich habe es selbst nicht bemerkt, aber so ist es gewesen. Ich meinte, ich sähe und hörte nur, ich wäre während meines ganzen müßigen Umherschlenderns nur ein Reflektor von vorgegebenen Bildern gewesen, eine weiße spanische Wand, auf welche die Wirklichkeit Farben und Licht anstelle von Schatten projiziert. Aber es war mehr, ohne dass ich es selber gewusst hätte. Es war die sich verleugnende Seele mit im Spiel, und sogar mein abstraktes Beobachten war noch eine Verneinung.«1 In dieser kurzen Passage aus seinem wunderbaren Buch der Unruhe zeigt uns Fernando Pessoa, wie Stimmungen permanent existieren, ohne dass wir bewusst eingreifen müssten. Unserer Selbstbeobachtung sind sie auf jeden Fall zugänglich. Bei jeder unserer Aktivitäten stellen sie sich ein. Wenn Sie ein Behördenformular ausfüllen, denken Sie vielleicht, dass Sie nichts weiter tun, als es eben auszufüllen. Aber nein, gleichzeitig keimen in Ihnen verschiedene Stimmungen: Gereiztheit, weil Sie durch diesen Papierkram Zeit verlieren, Beunruhigung, weil Sie vielleicht Fehler machen könnten, Sehnsucht, anderswo zu sein, vielleicht sogar Kindheitserinnerungen an schreckliche Klassenarbeiten … Stimmungen sind ein mentales Klima, das schönes oder trübes Wetter erzeugen kann, welches sich manchmal über mehrere Tage hält, manchmal aber auch mehrmals täglich wechselt.
Was in uns zurückbleibt, wenn der Zug des Lebens vorübergefahren ist
Ein weiteres Merkmal von Stimmungen ist ihre Remanenz – der partielle Fortbestand eines Phänomens, nachdem seine Ursache längst verschwunden ist. Für Stimmungen ist es geradezu typisch, dass sie länger währen als die Situationen, durch welche sie ausgelöst worden sind. Man beobachtet auch häufig, dass sie wiedererstehen. Die feinziselierte Analyse ihres erneuten Auftauchens, bisweilen nach jahrelanger Pause, trägt zum Reiz der Romane von Marcel Proust bei: »Nur ein Augenblick der Vergangenheit? Vielleicht weit mehr als das; etwas, was – zugleich der Vergangenheit und der Gegenwart zugehörig – viel wesentlicher als beide ist.«2 Stimmungen sind das Kielwasser unserer Taten und Gesten, all die kleinen Zwischenräume, durch welche sich unsere Vergangenheit oder unsere Erwartungen schleichen, um ungeladen am Tisch des Heutigen Platz zu nehmen.
Um von unseren Stimmungen zu sprechen, verfügen wir über verschiedene Wörter: Seelenlagen, Launen, Gefühle, Gemütszustände … Die Briten sprechen von feeling oder mood. In der Fachliteratur stammt der Begriff, den ich bevorzuge und der dem Phänomen am nächsten kommt, von dem Neurowissenschaftler Antonio Damasio. Er spricht von »Hintergrundgefühlen«3, was das Verdienst hat, auf ihre Diskretheit hinzuweisen.
Es gibt viele Wege, auf denen man sich seinen Stimmungen nähern kann. Oft muss man dazu innehalten. Innehalten in dem, was man gerade tut: arbeiten, sich abhetzen, auf die ganze Welt schimpfen … Unsere Stimmungen sind als Hintergrundgeräusch immer vorhanden. Man hält inne und horcht, wie man es im Wald tut, wenn man stehen bleibt und die Ohren spitzt: Nun erst vernimmt man den Wind, die Bäume, die Vögel, alle Geräusche der Natur. Am Anfang reicht es oft aus, wenn wir innehalten und das beobachten, was in uns murmelt. Dann möchten wir ein bisschen weiter gehen, und dazu werden wir lernen müssen, unseren Stimmungen noch besser zuzuhören, beispielsweise durch Meditation oder »Schreiben des Selbst« (Foucault). Von den vielen Praktiken, mit deren Hilfe wir die Wahrnehmung unserer Stimmungen vertiefen können, wird noch die Rede sein. In der Zen-Meditation gibt es dazu die schöne Metapher vom Wasserfall: Jeder von uns kann seine Stimmungen beobachten und dabei trotzdem ganz nahe an ihnen bleiben, gerade so wie ein Wanderer, der hinter den Wasserfall geschlüpft ist und sich zwischen Fels und herabstürzenden Fluten vorübergehend sicher fühlen kann – ein wenig nassgespritzt, ein wenig zitternd, aber doch geschützt und privilegiert. Eines der Ziele der Meditation in Achtsamkeit ist es denn auch, dass man einen Augenblick zur Seite tritt und seine Stimmungen vorüberrauschen sieht, wodurch man sie zergliedern und verstehen kann. Aber man soll nicht versuchen, ihren Fluss aufzuhalten – wer würde im Ernst daran denken, einen Wasserfall abzuschneiden?
Subtilität und Komplexität der Stimmungen
Als ich meine Angehörigen bat, mir Beispiele für ihre Stimmungen zu liefern, kamen ihnen zunächst Dinge in den Sinn, die um die Vorstellung »positiv oder negativ« kreisten. Positive Stimmungen wären es, wenn man gute Laune hat oder sich ruhig, entspannt und gelassen fühlt, negative Stimmungen, wenn man Trübsal bläst, schlechtgelaunt oder von Sorgen geplagt ist.
Aber viel typischer für Stimmungen ist doch die subtile Mischung, in der angenehme Elemente mit schmerzlichen Schattierungen einhergehen. In der Nostalgie beispielsweise ist eine solche Mischung deutlich erkennbar: Dieses melancholische Nachtrauern längst vergangener Dinge verbindet eine gewisse Süße (angenehme Erinnerungen) mit Schmerz (darüber, dass sie Vergangenheit sind). Man erinnert sich, lächelt, aber leidet auch an der Erinnerung. Nostalgie ist angenehm genug, dass wir gern in ihr schwelgen. Der leise Unterton von Traurigkeit hat hierbei die gleiche Funktion wie das Salz in einem gelungenen Gericht.
Auch bei der Enttäuschung läuft es ganz typisch ab für eine Stimmung. Sie beruht auf der angenehmen Erinnerung an einmal geschenktes Vertrauen (es tut uns gut, jemandem zu vertrauen, denn es bedeutet,...