Im Folgenden wird eine Definition zweier terminologischer Grundlagen der Arbeit vorgenommen, wobei sich einleitend auf die Definition des UMF konzentriert wird. Im Anschluss erfolgt eine Abgrenzung und Beschreibung des zentralen Begriffes der Lebenssituation.
Die Bezeichnung des UMF wird zwar vordergründig im Kontext der Kinder- und Jugendhilfe verwendet, stützt sich aber im weiteren Zusammenhang auf internationale Rahmenbedingungen und Schutzabkommen (wie bspw. dem Haager Minderjährigenschutzabkommen und der UN-Kinderrechtskonvention), denen die Bundesrepublik beigetreten ist (vgl. Stauf 2012: 15). Im Folgenden werden die drei einzelnen Elemente beleuchtet.
unbegleitet:
Als unbegleitet gelten alle minderjährigen Kinder und Jugendliche, die ohne ihre Personensorge- oder Erziehungsberechtigten (§ 7 Abs. 1 Nr. 5 und 6 SGB VIII) in das Bundesgebiet einreisen oder nach der Einreise getrennt werden und bei denen davon auszugehen ist, dass die Trennung von Dauer ist und die Personensorge- oder Erziehungsberechtigten aufgrund einer räumlichen Distanz nicht in der Lage sind, für den Minderjährigen zu sorgen (vgl. BAG Landesjugendämter 2014: 7).
Ein möglicherweise über Internet bestehender Kontakt zu den Eltern, z. B. via Skype ist für den Tatbestand einer begleiteten Einreise lt. dem Ministerium für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport des Landes Nordrhein-Westfalen nicht hinreichend (vgl. 2015: 5).
Minderjährige gelten auch dann als unbegleitet, wenn sie sich in Begleitung von Familienmitgliedern (z. B. Onkel oder Tante) befinden, die nach dem deutschen Recht keine gültige Vollmacht vorweisen können (vgl. MFKJKS 2015: 16). In diesem Fall gilt unter vorrangiger Berücksichtigung des Kindeswohls ein spezielles Verfahren bei der Zuweisung, wobei im Zweifelsfall davon auszugehen ist, dass der Minderjährige unbegleitet ist (vgl. ebd.: 5, 16).
Reist ein Minderjähriger unbegleitet nach Deutschland und wird dann bei Familien-angehörigen bzw. Verwandten aufgenommen, die auch die Vormundschaft ausüben, gilt er ab diesem Zeitpunkt nicht mehr als unbegleitet (vgl. BAMF 2009: 13).
minderjährig:
Als minderjährig gilt jede Person, die noch nicht 18 Jahre alt ist und damit jedes Kind und jeder Jugendliche (vgl. § 7 Abs. 1 Nr. 1 und 2 SGB VIII).
Nicht berücksichtigt bleibt dabei der Umstand, dass in einigen Ländern (bspw. in Ägypten, Kenia und der Elfenbeinküste) die Volljährigkeit erst mit 21 Jahren eintritt. In diesem Fall richtet sich die Volljährigkeit der UMF nicht nach dem deutschen Recht, sondern nach dem Recht des Herkunftslandes (vgl. Flüchtlingsrat NRW 2016: 1).
Seit dem 1. November 2015 gelten UMF (auch wenn sie das 16. Lebensjahr vollendet haben) nicht mehr eigenständig verfahrensfähig im Rahmen des AufenthG und AsylG (vgl. MFKJKS 2015: 3). Sie können seitdem nicht mehr selbstständig einen Asylantrag stellen. Unterschiedliche Rechtsauffassungen gibt es hinsichtlich dessen, ob das Jugendamt für die UMF während der vorläufigen oder der regulären Inobhutnahme dazu berechtigt ist, dies für sie zu übernehmen (vgl. MFKJKS 2015: 3).
Flüchtling:
Der Begriff Flüchtling bezieht sich vornehmlich auf die Definition nach der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK 2011 [1951/1967]):
Flüchtling ist, wer aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe oder ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will; oder die sich als Staatenlose infolge solcher Ereignisse außerhalb des Landes befindet, in welchem sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatten, und nicht dorthin zurückkehren kann oder wegen der erwähnten Befürchtungen nicht dorthin zurückkehren will. (Artikel 1 A, Abs. 2)
Bei den UMF wird der Flüchtlingsbegriff generell jedoch ebenso auf die minderjährigen Personen angewandt, die den Status des Flüchtlings anstreben oder die nicht die Voraussetzungen im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK 2011 [1951/1967]) erfüllen und nach erfolgter Prüfung durch das Bundesamt für Migration keinen Flüchtlingsschutz für sich in Anspruch nehmen können (vgl. BAG Landesjugendämter 2014: 7). Aus rechtlicher Perspektive handelt es sich de facto erst einmal um unbegleitete minderjährige Schutzsuchende.
Der Begriff UMF umfasst insofern unbegleitete einreisende Kinder bzw. Jugendliche aus Nicht-EU-Staaten, die entweder Asyl suchen, keinen Asylantrag gestellt haben oder deren Verfahren eingestellt bzw. abgeschlossen wurde. Wird im weiteren Verlauf der Arbeit der aufenthaltsrechtliche Status explizit von Interesse, wird dieser entsprechend differenziert.
Der hier verwendete Ausdruck der Lebenssituation umschreibt die alltägliche Lebenswelt der UMF im Rahmen der betrachteten Clearingeinrichtung in physischer, psychischer und sozialer Hinsicht. Die Akteure werden dabei nicht als homogene Flüchtlingsgruppe betrachtet (Breithecker & Freesemann 2011: 39), wenngleich angenommen werden kann, dass ihre aktuellen Lebenssituationen in der betrachteten Clearingeinrichtung (in der Mittelstadt X) bis zu einem gewissen Grad miteinander vergleichbar sind. Alle betrachteten UMF sind zudem männlich, befinden sich im Alter der Adoleszenz und haben z. T. ähnliche Erfahrungen in ihren Herkunftsländern erlebt. Diese Erfahrungen wirken sich, gemeinsam mit den äußeren Umständen im Aufnahmeland (z. B. in Form von rechtlichen Restriktionen) prägend auf ihre jeweilige Lebenssituation aus. Darüber hinaus haben sie jedoch alle unterschiedliche Biografien und individuelle Ressourcen, wie bspw. eine gute Schulbildung oder Kompetenzen in alltagspraktischen Dingen (vgl. Breithecker & Freesemann 2011: 37ff.).
Der Begriff der Lebenssituation wird in der vorliegenden Arbeit als ein temporärer Ausschnitt des Begriffes der Lebenslage in Anlehnung Weißer (1978) verwendet. In seinem gesellschaftspolitisch-soziologischen Ansatz ging er davon aus, dass sich die Lebenslage einer Person oder Gruppe nicht einzig durch ihre sozioökonomischen Variablen (wie Einkommen, Berufsposition, Wohnumfeld) bestimmen lassen. Es sollten vielfältigere Dimension genutzt werden, wie bspw. die soziale Position, der Gesundheitszustand oder die Familien- und Bildungssituation. Daher plädierte er dafür, bei der Untersuchung einer Lebenslage immer mehrere Lebensbereiche mit einzubeziehen. Diese sollen hinsichtlich der äußeren Umstände und ihres Spielraumes betrachtet werden, die sie dem Menschen für die Erfüllung seiner Grundanliegen bieten. Ein Handlungsspielraum kann dabei als eine begrenzte jedoch auch beeinflussbare Dimension betrachtet werden, in der es letztlich um die Qualität der Chance geht, zu Wohlbefinden zu gelangen. Nach Weißers soziologischem Verständnis werden dabei alle Handlungsweisen durchweg gesellschaftlich rückgekoppelt, sodass jegliches soziales Handeln immer in sozial vorstrukturierte Bezüge eingebunden ist und damit konträr zu der Illusion des freien Willens geschieht.
Es gibt eine Vielzahl individueller Gründe, weshalb Kinder und Jugendliche ihre Heimat verlassen und häufig treffen diese ebenso auf Erwachsene zu. Sie fliehen vor Kriegen, militärischen Konflikten, Unruhen, vor Armut oder Naturkatastrophen, die ihnen und ihrer Familie die Existenz genommen haben (vgl. BAMF 2009: 19). Ebenso kann ihre Religionszugehörigkeit, die Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen Gruppe oder die Beteiligung an politischen Aktivitäten der Auslöser für ihre Flucht sein (vgl. Hargasser 2015: 88). Viele Kinder und Jugendliche haben in ihrem Herkunftsland Tod, Folter oder Verfolgung von Familienmitgliedern miterlebt oder begeben sich auf die Flucht, weil sie Angst vor Sklaverei in Form von körperlicher und sexueller Ausbeutung haben (vgl. Rieger 2010: 21). Sie flüchten vor den Konsequenzen von Wehrdienstverweigerung oder einer drohenden Zwangsrekrutierung als Kindersoldaten (vgl. Bundeszentrale für politische Bildung 2015: 1). Bei Mädchen oder weiblichen Jugendlichen liegen die Fluchtursachen oftmals in einer drohenden Genitalverstümmelung, Zwangsheirat oder sexuellem Missbrauchs begründet (vgl. ebd.). Zuweilen kann es auch sein, dass sie sich zunächst gemeinsam mit ihren Eltern und Geschwistern auf die Flucht begeben und sie dann durch Schleuser von ihrer Familie getrennt werden (vgl. BAMF 2009: 19; BAMF 2014a: 1). Dass auch schon Kleinkinder in den Statistiken der UMF auftauchen, lässt vermuten, dass es auch Fälle gibt, in denen ein Elternteil (oder beide Erziehungsberechtigte) auf der Flucht ums Leben kommen ist (vgl. Bundeszentrale für politische Bildung...