1. Von der Höhle des Löwen zu Warren Buffett
O schmölze doch dies allzu feste Fleisch,
Zerging’ und löst’ in einen Tau sich auf!
[…]
Wie ekel, schal und flach und unersprießlich
scheint mir das ganze Treiben dieser Welt!
Pfui, pfui darüber! ’s ist ein wüster Garten,
Der auf in Samen schießt; verworfnes Unkraut
Erfüllt ihn gänzlich.
Hamlet, Akt 1, Szene 2
Haben Sie sich jemals so gefühlt? Schon einmal schiere Selbstverachtung empfunden? Im Unterschied zu Hamlet war ich zwar nicht selbstmordgefährdet. Aber mir ekelte vor der Spezies der Investmentbanker und ganz besonders vor denjenigen, mit denen ich zusammenarbeitete. Dasselbe empfand ich für meine Investmentbanking-Firma. Was aber am schlimmsten war: Ich war angeekelt von mir selbst.
Knapp zwei Jahre zuvor hatte ich mich gefühlt, als könnte ich die Welt erobern. Damals war ich Student an der Harvard Business School (HBS) und obendrein hatte ich auch einen Abschluss von der Universität Oxford, wo ich der Beste meines Kurses in Wirtschaftswissenschaften war. Alles schien möglich – bis ich mit einer furchtbar dummen beruflichen Entscheidung alles zunichtemachte.
1993, ein paar Monate vor meiner Abschlussprüfung in Harvard, stieß ich auf eine Stellenanzeige als Assistent des Chairman bei der D. H. Blair Investment Banking Corp. Ich hatte einiges über Investmentbanking gelesen und hielt mich für einen der aufgehenden Sterne am Finanzhimmel.
Strotzend vor jugendlichem Selbstvertrauen machte ich mich auf nach New York City, um mich mit dem Chairman von D. H. Blair, J. Morton Davis, zu treffen. Morty, als Kind armer Juden in Brooklyn aufgewachsen, machte 1959 seinen Abschluss an der Harvard Business School und arbeitete sich danach zum Eigentümer und Chairman von D. H. Blair hoch, die 1904 gegründet worden war. Man erzählte mir, er habe Hunderte Millionen Dollar verdient.
Unser Treffen fand in seinem holzgetäfelten Eckbüro in der Wall Street 44 statt. Es war seit Jahren nicht mehr renoviert worden und sah aus wie ein traditionelles Investmentbanking-Büro aus der Ära John Pierpont Morgan. Tatsächlich befand sich J. P. Morgans Zentrale fast nebenan.
Morty war ein Vollblutverkäufer und schaffte es mit Bravour, mich zu ködern. Er sprach mit mir über die größten Deals, die er in heißen Branchen an Land gezogen hatte, etwa in Biotechnologie, und fügte hinzu: »Auch Sie werden sofort eigene Deals machen können, indem Sie direkt mit mir zusammenarbeiten.« Er versicherte mir, es gebe »keine Grenzen« für das, was ich hier mit ihm gemeinsam erreichen konnte, und dann gab er mir Frank Bettgers Buch How I Raised Myself from Failure to Success in Selling (deutsche Ausgabe: Lebe begeistert und gewinne). Es gefiel mir, dass Morty ein Außenseiter war, dass er unkonventionell und höchst erfolgreich war und es aus eigener Kraft geschafft hatte.
Kurz darauf las ich in der New York Times einen Artikel, in dem D. H. Blair als Firma von schlechtem Ruf bezeichnet wurde, deren »Broker dafür bekannt sind, Kunden den Verkauf zu verweigern, wenn diese die Auflösung ihres Depots verlangen«. In dem Bericht wurde auch erwähnt, dass die Aufsichtsbehörde in Delaware »versucht hatte, Blair die Lizenz zu entziehen«, und dass die Aufsichtsbehörden in Hawaii »Blair beschuldigten, betrügerische und verschleiernde Verkaufspraktiken anzuwenden«. Als ich Morty auf den Artikel ansprach, sagte er, dass Erfolg die Menschen neidisch mache und sie deshalb versuchen, dem Erfolgreichen Schaden zuzufügen. Ich war naiv genug zu glauben, was auch immer er mir erzählte.
Manche meiner Harvard-Freunde zogen die Augenbrauen hoch, als sie hörten, dass ich für D. H. Blair arbeitete, aber ich ignorierte ihre Warnungen. Ich war arrogant und ein wenig rebellisch und entschlossen, nicht den ausgetretenen Pfad der etablierten Unternehmen wie Goldman Sachs und J. P. Morgan zu gehen. Ich wollte meine eigene Spur hinterlassen und eher ein Entrepreneur sein. Ich hatte das Gefühl, als habe Morty mir ein Angebot gemacht, das ich nicht ablehnen konnte, auch wenn ich das hätte tun sollen. Also unterschrieb ich den Vertrag, denn ich glaubte, etwas ganz Besonderes zu sein und dass die Wall Street mich schon zum Geld führen würde.
Mit hochfliegenden Erwartungen fing ich im September 1993 bei D. H. Blair als »Vice President« an, wie mein großspuriger Titel lautete. Ich teilte mir im zweiten Stock ein schummrig beleuchtetes holzgetäfeltes Büro mit einem netten älteren Banker. Er hatte seit Jahren keinen einzigen Deal getätigt, aber er gehörte zum Inventar und trug dazu bei, der Investmentbank einen seriösen Anstrich zu geben.
Nach nur sechs Monaten in diesem Job fühlte ich mich miserabel. Ich hatte eine Reihe harter Rückschläge erlitten und das würde immer so weitergehen. Zunächst glaubte ich, als einziger Assistent des Chairman die Gelegenheit zu haben, mir vom Meister etwas abzuschauen, wenn ich ihm beim Analysieren der Vielzahl von hereinkommenden Angeboten half. Stattdessen erfuhr ich, dass er noch zwei weitere Assistenten hatte.
Jeder von uns hatte einen glänzenden MBA-Abschluss in der Tasche: Len kam von der Harvard Business School, Drew von Wharton. Es hieß also jeder gegen jeden und wir drei waren alles andere als ein Team. Bald merkte ich, dass man mich an der Analysefront überhaupt nicht brauchte. Ich lernte auf die harte Tour, was Normalität an der Wall Street bedeutete. Es gibt immer genügend andere Leute, die deinen Job genauso gut erledigen können. Der Konkurrenzkampf ist hart und Dutzende von Leuten stehen hinter dir in der Schlange und warten nur darauf, deinen Platz einzunehmen.
Der einzige Weg, wie ich in diesem Umfeld meinen Wert erhöhen konnte und wozu mich die Firma wirklich brauchte, war, Deals zu liefern. Ich dachte, ich sei der Herausforderung gewachsen. Genau das war ja der Reiz an dem Job. Doch die Konkurrenz war beängstigend, sowohl von innerhalb als auch außerhalb der Firma. Und ich war neu. Neu bei D. H. Blair, neu im Investmentbanking und Finanzwesen und neu in New York.
Doch ich war fest entschlossen, nicht aufzugeben. Denn damit hätte ich mir mein Scheitern eingestanden. Ich wäre vor Scham im Erdboden versunken, wenn meine Studienkollegen erfahren hätten, dass ich einen Fehler gemacht hatte. Schlimmer noch, man hätte mich einen Versager genannt, und diesen Ruf wäre ich vielleicht so schnell nicht mehr losgeworden. Denn vor allem anderen motivierte mich, was andere von mir hielten, nicht, wie ich mich selbst sah. Wäre es andersherum gewesen, ich glaube, ich wäre keine Minute mehr an diesem Ort geblieben. Ich hätte einfach alles hingeschmissen. Aber ich versuchte verzweifelt, erfolgreich zu wirken.
Ein Deal wurde zu meinem einzigen Ziel. So konnte ich einen Sieg davontragen und anschließend aus freiem Entschluss gehen. Also setzte ich monatelang ein Lächeln auf, wählte mir die Finger wund, putzte Klinken und verfolgte jede Aussicht auf einen Deal, so gering sie auch sein mochte. Doch ich stand noch immer mit leeren Händen da. Trotz meiner festen, testosterongetriebenen Entschlossenheit, in diesem meinem ersten Job nach dem MBA-Abschluss Erfolg zu haben, war alles, was ich tat, nur ein hoffnungsloses Herumrudern.
Mein Problem war nicht nur, dass die besten Geschäfte von den großen Namen weggeschnappt wurden, wie Goldman Sachs und Morgan Stanley, obwohl das durchaus der Wahrheit entsprach. Es gab eigentlich noch viele weitere Gelegenheiten. Aber um diese Geschäfte erfolgreich zu D. H. Blair zu bringen, waren Dinge erforderlich, die ich nie zuvor getan hatte.
D. H. Blairs Spezialgebiet waren Venture Capital und Banking. Gerade das hatte ich an der Firma attraktiv gefunden: die Möglichkeit, bei den neu gegründeten Start-ups mit neuen Technologien, welche die Welt verändern würden an vorderster Front mit dabei zu sein. Ach ja, habe ich erwähnt, dass ich dabei natürlich schrecklich reich werden würde? Passend zu meiner Arroganz und Hybris besaß ich nämlich auch noch eine schöne Position an Wall-Street-Gier. Ich war überzeugt, mich auf der Überholspur ins Nirwana zu befinden. Die ernüchternde Wahrheit lautete, dass Unternehmen mit Technologien oder Innovationen, die wirklich funktionierten und eine sichere Erfolgsaussicht hatten, extrem selten waren – selbst bei der großen Anzahl der Unternehmen, deren Finanzierung über prominentere Investmentbanken wie Goldman Sachs oder Morgan Stanley lief.
Stattdessen fiel die weit überwiegende Mehrheit in die Kategorie »Könnte Erfolg haben«. Es gab unzählige Managementteams, die mit aller Verzweiflung ihren Traum verwirklichen wollten und bereit waren, alles Mögliche zu tun und zu behaupten, wenn sie dadurch eine Finanzierung bekämen. Noch bevor mir klar wurde, was geschehen war, hatte ich einen Haufen mistiger Verträge am Hals, zu denen mich Unternehmer gedrängt hatten in der Hoffnung, dass ich sie gnädigerweise berücksichtigen würde.
Die unerbittliche Logik der Wahrscheinlichkeit, die ich erst auf der Hochschule gelernt und dann in Harvard studiert hatte (in einem Kurs, der sich »Entscheidungstheorie« nannte) besagte, dass ein Geschäft, wenn ich es empfehlen wollte, zumindest eine gute Chance haben sollte, Gewinn abzuwerfen. Angesichts der hohen Anzahl der Geschäfte, die danebengingen, und der sehr kleinen Anzahl derer, die ihren Investoren ein Vielfaches ihrer ursprünglichen Investition einbrachten, kalkulierte ich grob, dass die Erfolgswahrscheinlichkeit...