Versklavung
Das erste Mal, dass ich die Nordsee sah, war als junger Mann und frischgebackener Rekrut, als mich die Bundeswehr aus mir heute unerklärlichen Gründen einen Winter lang nach Husum an die Nordsee beorderte. Das war 1983. Ich stammte aus dem äußersten Südwesten und fand mich dennoch ganz in den Norden versetzt, tausend Kilometer von zu Hause, um dort auf einem Flugplatz der Luftwaffe Dienst zu tun, den es längst nicht mehr gibt. Er fiel der Bundeswehrreform zum Opfer und heute erinnert in dem kleinen Küstenstädtchen nichts mehr daran, dass hier einst Alpha Jets abhoben und die Schafe auf den nordfriesischen Deichen in Angst und Schrecken versetzten. Nicht weit von Husum entfernt lag Sylt. Wenn man im Zug, von Hamburg her kommend, verschlief, was vorkam, wachte man spätestens an der Endstation auf: Westerland auf Sylt. So lernte ich die Insel kennen. Damals war sie noch nicht so sehr für ihr illustres Publikum bekannt, sondern war einfach eine ziemlich wilde und ziemlich natürliche Insel. Man sah das Anrennen der Nordsee, hörte, wie die Wellen krachend auf den Strand schlugen und bekam als Zugereister eine Ahnung davon, was eine steife Brise war. Die Gewalt in den Elementen war jederzeit spürbar – aber auch sichtbar. Sylt verlor Land. Mit jedem Wintersturm war wieder ein Stück Insel ins Meer gerissen, war Sylt wieder etwas kleiner geworden. Die Insulaner stemmten sich dagegen und überall sah man Wellenbrecher aus Beton, die das Schlimmste abhalten sollten, oder neue Aufschüttungen aus Sand, um das verlorene Terrain zurückzugewinnen. Und doch war die Prognose nicht gut und wahrscheinlich ist sie das immer noch nicht. Sylt würde irgendwann verschwinden und endgültig vom Meer eingenommen. Dann bliebe nichts von ihr als ein Eintrag in einer Schiffskarte, ein nautischer Vermerk etwa über eine gefährliche Untiefe, auf der sich einst eine Insel mit Häusern befand, auf der Touristen die Promenade entlang flanierten oder im Strandkorb den Tag verdösten.
Sylt kommt mir vor wie unser Leben. Auch das wird allmählich eingenommen. Von einer Kraft, die heranrollt wie Brandung und uns langsam anknabbert, uns aufknabbert und aufzehrt, die uns Terrain und Substanz entzieht und nicht mehr hergibt, bis wir wie Sylt ein langer, dünner Strich sind. Ich rede vom Staat. Ich rede von seiner Allgegenwart. Ich rede von seinen Ritualen und Obsessionen. Ich rede von der schieren Größe, die er in unserem Leben eingenommen hat, und der scheinbar kein Wellenbrecher widersteht. Obwohl wir alles versuchen: Längst haben wir uns auf höheres Gelände zurückgezogen, haben die Deiche verstärkt und neuen Sand aufgeschüttet. Und sind doch auf verlorenem Posten. Mit jedem Jahr werden wir kleiner und unfreier. Und mit jedem Jahr wird unser Strandspaziergang kürzer. Das Meer, das uns umgibt, ist groß geworden. Wir können es an vielem ablesen: An der Steuerlast und den tausend Abgaben, denen wir unterliegen, an der Flut von neuen Regeln und Verordnungen, die jährlich über uns hereinbricht, schließlich an der pathetischen Größe der Ziele, die sich der Staat regelmäßig selbst gibt. Aber hauptsächlich spüren wir es an uns selbst. Wir sind seltsam geschrumpft, nur noch ein Schatten unseres ehemaligen Selbst und wie ein Mündel müssen wir jetzt wegen allem um Erlaubnis fragen. Wir sind also in Abhängigkeit geraten und eine Fremdbestimmung zieht sich durch unser Leben, die wir seit der Kindheit nicht kannten. Sie lässt uns nur wenig, worüber wir noch Kontrolle hätten. Wie sollen wir das bezeichnen? Kontrollverlust? Ohnmacht? Hörigkeit? Eine Art Lebensenteignung? Und wie nennt man die Arbeit, die man nicht für sich selbst tut, sondern gezwungen ist, zu leisten? Knechtschaft, Fron, Leibeigenschaft, Sklaverei? Noch fehlt es uns das treffende Wort dafür. Unsere Abhängigkeit ist so modern und neu, dass uns die Worte fehlen. Ist das bereits Sklaverei, wenn man hauptsächlich für andere arbeitet? Nein, das würde viele zu Sklaven machen. Zur Sklaverei wird es erst, wenn sich die Früchte unsere Arbeit abzukoppeln beginnen und mit dem eigenen Leben oder der eigenen Familie nichts mehr zu schaffen haben. Also anonymisiert und vergemeinschaftet werden, ohne dass man sich dagegen wehren könnte – indem man zum Beispiel die Arbeit niederlegte. Dann wäre man tatsächlich in der Knechtschaft angekommen. Knechtschaft ist noch nicht Sklaverei. Sklaverei setzt Eigentum am Menschen voraus. Einen Sklaven kaufen wir auf einem Sklavenmarkt und besitzen ihn, damit er uns als Mensch gehört und wir frei über seine Arbeitskraft verfügen können. Das hat die Menschheit zum Glück hinter sich gelassen. Trotzdem nennen wir uns bisweilen Sklaven – aus Scherz. Dann sind wir Sklaven der Bank, bei der wir unseren Hauskredit haben. Oder unseres Chefs, der uns bis an den Urlaubsort verfolgt und anruft. Der Begriff ist uns so vertraut und geht uns so leicht von der Zunge, dass er alltäglich geworden ist. So alltäglich, dass es uns zu denken geben sollte. Läuft da die Sprache der Entwicklung voraus? Scherzen wir auch zukünftig, wenn wir uns als Sklaven bezeichnen? Oder hört der Spaß dann auf? Schon jetzt ächzen die Menschen unter dem Druck, der auf ihnen lastet. Er hat zugenommen, überall und gleichzeitig. Kaum ein Lebensbereich, der davon ausgenommen wäre, und so schaukelt sich alles gegenseitig hoch, weil plötzlich alles miteinander funktionieren muss, gleichberechtigt ist: Das Privatleben mit dem Beruf, zwei Privatleben mit zwei Berufen, dann zwei Privatleben und zwei Berufe mit zwei Kindern. Dann der Sport, die Freunde, die Pläne, die man hatte. Das geht natürlich nicht gut, kann nicht gut gehen und lässt alle ausgebrannt und erschöpft zurück. Der Befund ist eindeutig: Das Land leidet an Erschöpfungsdepression. Trotzdem lesen wir, dass die Deutschen alles in allem zufrieden sind. Bei Umfragen zum Lebensglück rangieren die Deutschen regelmäßig an vorderer Stelle. Sie sind zufrieden mit sich und ihrem Leben, zufriedener jedenfalls als die Engländer und sogar die Franzosen. Wie geht das zusammen? Das Geheimnis liegt in unserer demografischen Entwicklung, konkret in unserer Alterung. Unser Glück und unsere Zufriedenheit werden an Orten gemessen und abgefragt, zu denen wir keinen Zutritt haben: Auf der Blumen-Insel Mainau zum Beispiel; oder im Reisebus auf dem Weg zur Landesgartenschau. Dort, wo nicht wie früher trauerschwarz dominiert, sondern ein einheitliches Hell und Beige signalisiert, dass man mit dem Leben noch nicht abgeschlossen hat, –dort ist die Zufriedenheit greifbar und nachvollziehbar. Fidel und sorglos geht es zu im Bus. Sowieso, wenn der Spaßvogel der Truppe, ein ältere Herr, wie üblich das Mikrofon ergreift und alle mit Witzen und Zoten unterhält. Dann ist die Stimmung glänzend. – „Chaque age a son plaisir.“, sagen die Franzosen. Jedem Alter also sein Glück und seine Erfüllung. Auch und gerade im Bus zur Landesgartenschau.
Die Mehrheit in diesem Land fährt Bus und trägt Beige. Es ist ein müßiger Bus, ein Bus jenseits des Erwerbslebens. Zumindest gefühlt. Natürlich gibt es nach wie vor mehr Erwerbstätige als Rentner. Irgendwie kommt ja jeder in einer Erwerbsstatistik vor, und sei es nur als zwanzigprozentige Wiedereinsteigerin, als Hartz4-Aufstocker, als Selbständiger ohne Aufträge, als Altersteilzeitler. Alle sind ja irgendwie erwerbstätig, scheinbar, und doch ist die Lebensanmutung im Bus und im Land eine andere. Wir sind dabei, die Arbeit hinter uns zu lassen. Besser gesagt denen zu überlassen, die ihr nicht entrinnen können. Also den wenigen Jungen, die aber auch schon gehätschelt werden wollen; die von Work-Life-Balance reden, noch bevor die Arbeit überhaupt angefangen hat. Vorsorglich sozusagen, da sie spüren, dass man sie sonst gnadenlos rupfen wird. Höchstbesteuert und ohne Chance, der Sozialversicherungspflicht zu entkommen, bleibt ja nur die Absenz vom Arbeitsmarkt. Also noch einmal ein Jahr um die Welt, vielleicht ein Sabbatical zum Durchschnaufen – mit Ende Zwanzig. Vielleicht überhaupt etwas anderes versuchen, nochmal studieren gehen, nur ja nicht der Tretmühle zu früh und zu sehr anheimfallen. Was hatte man da für schlechte Beispiele an den Eltern: 40 Jahre Installationsbetrieb, immer Kundenwünsche, Nachbesserungen, Zahlungen hinterherlaufen. Dann die Angst vor dem Finanzamt. Eine Prüfung womöglich, wo herauskäme, dass man die Putzfrau zu Unrecht abgesetzt hat – weil ohne Sozialversicherung beschäftigt. Und wofür das alles? Der Vater kurz nach der Pensionierung schwerkrank, niemand, der den Laden übernehmen will, der sich diese Plackerei antun will. Nein, die Jüngeren handeln instinktiv in ihrem Interesse. Sie spüren, dass sich die Gesellschaft geteilt hat, nämlich in den Bus und in den Untersatz. Den fahrbaren Untersatz, der den Bus oben trägt und bei Laune hält. Den Karren insgesamt am Laufen hält. Das ist schwer und wird immer schwerer. So viel Rentenanspruch gab es nie. Den Osten mit hinein zu nehmen, war teuer genug. Aber jetzt kommen auch noch die Lehrerinnen und Lehrer, die vorzeitig, weil ausgebrannt, der Pädagogik den Rücken kehren und sich pensionieren lassen. Von den anderen Beamten zu schweigen. Alles keine Mini-Pensionen. Im Gegenteil, der Rock des Beamten ist nicht mehr wie früher eng, aber warm, sondern in jeder Hinsicht komfortabel. Hier sind die höheren Laufbahnen in der Mehrzahl. Aber auch in der Privatwirtschaft schaut man, dass man bald rauskommt – noch rauskommt. Wer weiß, wie lange das gut geht? Vielleicht gibt es schon bald Notstandsgesetze und dann ist es vorbei mit der schönen Vorruhestandsregelung, mit dem erträumten Ruhestand, ja, überhaupt mit der Ruhe. – Unruhen?
Die Erleichterung in den...