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Die letzten Tage Europas

Wie wir eine gute Idee versenken

AutorHenryk M. Broder
VerlagKnaus
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl224 Seiten
ISBN9783641113285
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis15,99 EUR
Henryk M. Broder verteidigt das gute alte Europa der Freiheit und Vielfalt
In »Die letzten Tage Europas« beschreibt Henryk M. Broder die Tragödie, wie aus der großen europäischen Idee eine kleinteilige, Europa in Frage stellende Ideologie geworden ist. Mit einem brandgefährlichen Hang zur totalen Bevormundung von allem und jedem.

Mit seiner Polemik outet sich Henryk M. Broder als wahrer Europäer, der die europäische Vielfalt schätzt und deswegen der totalen Gleichmacherei durch die europäischen Bürokraten den bösen Spiegel vorhält. Wie kann es beispielsweise sein, dass ein europäischer Spitzenpolitiker freimütig erklärt, Europa könne wegen seiner strukturellen Demokratiedefizite niemals Mitglied der EU werden? Wie kommt es, dass es für jede unmaßgebliche Bagatelle detaillierte Regeln gibt (vom Gemüse bis zum Kondom), aber nicht für den Umgang mit Diktaturen? Kann es angehen, dass die spanische Polizei 'europaskeptische' Demonstranten niederprügelt wie weiland unter Franco? Broder entlarvt das Europa der Bürokraten und der Gleichschaltung als geprägt von einem neuen Totalitarismus, erfunden und propagiert von einer Politikerkaste, die die europäischen Völker in Geiselhaft genommen hat: Das uns verordnete Europa sei alternativlos, heißt es, wer es ablehnt, gefährde den Frieden.

Da ist Broder doch sehr viel optimistischer und gibt all denen eine Stimme, die an Europa glauben, aber vom geldvernichtenden Merkel-Barroso-Draghi-Europa und dessen Alarmismus genug haben. Im Übrigen plädiert er für deutsche Solidarität mit den Armen in Europa, wenn das Geld auch bei denen ankommt, die es wirklich nötig haben.

Henryk M. Broder, geboren 1946 in Kattowitz/ Polen, ist ein deutscher Journalist und Schriftsteller. Seine Hauptthemen sind Judentum, Islam, Nationalsozialismus und die deutsche Linke. Broder schreibt für die 'Welt' sowie für den politischen Blog 'achgut.com'. Er lebt in Berlin und Virginia/USA.

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Leseprobe

2. Gut, dass wir darüber gesprochen haben

Fast jeder Witz, in dem es um Psychologen, Psychiater, Psychotherapeuten und Angehörige verwandter Berufe geht, endet mit der Pointe: »Gut, dass wir darüber gesprochen haben!« Über etwas gesprochen zu haben, verschafft den Beteiligten eine Art von immaterieller Befriedigung, wie sie auch eintritt, wenn man ein schlafendes Kleinkind anschaut. Diese Reinheit, diese Unschuld! Man möchte sein Leben dafür geben, dass es so bleibt.

So war es auch am Ende des EU-Frühjahrsgipfels in Brüssel im März 2013. Die EU-Politiker diskutierten darüber, so hieß es in den Medien, »wie man Sparmaßnahmen durchsetzen kann, ohne dem wirtschaftlichen Wachstum entgegenzuwirken«, das heißt, wie man gleichzeitig bremsen und Gas geben kann, ohne die Kontrolle über das Auto zu verlieren. Dieses Paradox hören wir seither als Mantra fast aller Politiker, die sich öffentlich zur europäischen Wirtschaftspolitik äußern. Sparen und investieren. Investieren und sparen. Und immer an die Konjunktur denken!

Hätte sich eine Konferenz der Weight Watchers mit dem Thema beschäftigt, wie man schlemmen kann, ohne an Gewicht zuzunehmen, wäre daraus eine witzige Reportage in der »heute show« mit Oliver Welke geworden. Weil es aber eine Konferenz der 27 EU-Staats- und Regierungschefs war, wurde die Sache ernst genommen, musste man in den Berichten den Witz zwischen den Zeilen beziehungsweise in den Originaltönen suchen.

Herman Van Rompuy, der EU-Präsident, verglich Europas Weg zur Erholung mit einem »Langstreckenrennen«, man habe bereits viele Hindernisse hinter sich gelassen, »doch diese Ergebnisse führen noch nicht zu stärkerem Wachstum und mehr Jobs, das ist es, was den Menschen jetzt wehtut, dort muss unser Fokus sein«. Die EU, so Van Rompuy, müsse »wirtschaftliche Turbulenzen vermeiden, gesunde Staatshaushalte sichern, Arbeitslosigkeit bekämpfen und langfristiges Wachstum fördern«, alles gleichzeitig.

Das klang wie der Katalog der guten Vorsätze, die jeder von uns am 31. Dezember kurz vor Mitternacht fasst: nicht mehr rauchen, weniger trinken, gesünder essen und mehr Zeit mit der Familie verbringen, ohne den Job und die Freunde zu vernachlässigen.

Der Präsident des EU-Parlaments, Martin Schulz aus Würselen bei Aachen, warnte davor, die Bürger vor den Kopf zu stoßen. »Wenn wir nicht riskieren wollen, dass die Menschen sich immer mehr von der Idee Europa abwenden, dann müssen wir eine Politik machen, die verständlich ist.« Auch das war nicht ganz daneben, wenn man mal davon absieht, dass die Forderung, eine Politik zu machen, die verständlich ist, zu den Binsenweisheiten gehört, die seit den Tagen der »res publica« vor zweieinhalbtausend Jahren in jeder Rede genannt werden. Immerhin gab Schulz mit seiner Forderung zu, dass die Politik, die in Brüssel gemacht wird, nur noch von denjenigen verstanden wird, die sie machen. Und auch das nicht von allen und nicht immer. »Häufig erreichen wir als Handelnde auf nationaler wie auch auf europäischer Ebene die Menschen nicht mehr.«

Auch der listige luxemburgische Ministerpräsident Jean-Claude Juncker, einer der erfahrensten Europapolitiker, sah dunkle Streifen am Horizont aufziehen, die bis jetzt niemand bemerkt hatte: »Ich schließe nicht aus, dass wir Gefahr laufen, eine soziale Revolution zu erleben«, die Haushalte der EU-Staaten müssten zwar saniert werden, aber so, dass die »Sparmaßnahmen dem Wachstum nicht schaden«. Bei Anwendung der Sparregeln sei »eine gewisse geistige und handwerkliche Geschmeidigkeit« vonnöten. Was er sagen wollte, war: Regeln können freihändig ausgelegt, umgangen, notfalls auch gebrochen werden, man muss es nur geschickt anstellen.

Den Vogel in Sachen Klarheit, Entschlossenheit und Gradlinigkeit schoss aber die deutsche Kanzlerin ab. Am Ende des Frühjahrsgipfels trat Angela Merkel vor die wartenden Kameras und erklärte: »Wir haben einen Wachstumspakt im Sommer vergangenen Jahres verabschiedet und jetzt wird es darum gehen, dass dieser Wachstumspakt auch mit Leben erfüllt wird … Das Geld ist da und jetzt muss das Geld zu den Menschen kommen, damit die jungen Menschen in Europa Jobs bekommen.«

Einen »Wachtstumspakt« mit Leben zu erfüllen, ist in der Tat eine höchst anspruchsvolle Aufgabe, dient ein »Wachstumspakt« doch seinerseits dem Zweck, Impulse zu vermitteln, damit eine schwache oder marode Ökonomie ihrerseits auf die Beine kommt und wieder laufen kann. Nur die Aufgabe, einer Mumie Leben einzuhauchen, wäre noch anspruchsvoller. Man muss sich auch fragen, warum angesichts einer katastrophalen Jugendarbeitslosigkeit in Italien, Griechenland und Spanien ein »Wachstumspakt«, der im Sommer 2012 beschlossen wurde, erst im Frühjahr 2013 auf den Weg gebracht wird. Was hat das Geld, das nun »zu den Menschen kommen« soll, die ganze Zeit gemacht? Hat es in einem Café gesessen und Latte macchiato getrunken? Musste es erst eine Weile abhängen wie Parma-Schinken? Würde Angela Merkel es nicht seltsam finden, wenn sie seit dem Sommer letzten Jahres kein Gehalt überwiesen bekommen hätte?

An Geld jedenfalls herrscht kein Mangel. Zweimal im Laufe des vergangenen Jahres hat die Europäische Zentralbank den Banken in den EU-Ländern sehr viel Geld zu extrem günstigen Konditionen zur Verfügung gestellt, zusammen fast eine Billion (tausend Milliarden) Euro für eine Laufzeit von drei Jahren zu einem Zinssatz von einem Prozent. Die EZB habe, schrieben die Zeitungen, den Markt mit Geld »geflutet«, während zur selben Zeit kleine und mittelständische Betriebe klagten, dass es immer schwieriger würde, Kredite zu bekommen. Was auf den ersten Blick wie ein Widerspruch erscheint, kann relativ einfach erklärt werden. »Die Rekord-Finanzspritze soll eine Kreditklemme verhindern«, hieß es in einem Expertenbericht der SZ. Denn: »Die Banken leihen sich derzeit aus Angst vor Risiken in den Bilanzen kaum mehr gegenseitig Geld.« Ein zu Rate gezogener Analyst meinte, die EZB-Mittel würden den Banken helfen, »ihre Bilanzen aufzupolieren«, die Frage sei nur, »warum sie so viel Geld brauchen«. Der Präsident der EZB, Mario Draghi, stellte klar, die Banken würden selbst darüber entscheiden, »was sie mit den frischen Mitteln machen«, man erwarte aber, »dass sie mit dem Geld die Realwirtschaft finanzierten«.

Der Ex-Goldman-Sachs-Banker Mario Draghi tat so, als habe er ein lange gehütetes Geheimnis verraten: Die Banken sollen die Realwirtschaft finanzieren, aber ob sie es wirklich tun, das entscheiden sie nach eigenem Gutdünken. Denn die Realwirtschaft steckt voller realer Risiken. Firmen können Pleite gehen, faule Kredite müssen als Verluste abgeschrieben werden, das kann einer Bank die Bilanz verhageln. Die Alternative zur Realwirtschaft heißt Finanzwirtschaft. Wird in der Realwirtschaft aus einem Baum ein Tisch gemacht, aus einem Rind Tafelspitz und aus Aprikosen Marillenschnaps, macht man in der Finanzwirtschaft Geld mit Geld.

Im Falle der Banken, denen die EZB mit Milliardenkrediten zu Hilfe kam, bedeutet das: Sie wurden in die Lage versetzt, »ihre Bilanzen aufzupolieren«; indem sie sich gegenseitig Geld leihen, gehen sowohl die Umsätze wie die Gewinne in die Höhe. Dabei ist alles nur eine Frage der Buchhaltung. Das Verfahren funktioniert, solange das Geld den Bankenkreislauf nicht verlässt, also mit der Realwirtschaft nicht in Verbindung kommt.

Man kann das am besten mit einer alten jüdischen Anekdote erklären:

Schlomo besucht Mosche und sieht in dessen Wohnzimmer ein Bild an der Wand, das ihm gut gefällt. »Ich kaufe dir das Bild ab«, sagt Mosche. »Was willst du dafür haben?« Man einigt sich auf 100 Rubel. Ein paar Wochen später kommt Mosche zu Schlomo, sieht das Bild an der Wand hängen und sagt: »Ich möchte es zurückhaben.« – »Geht in Ordnung«, sagt Schlomo, »aber es ist jetzt mehr wert, als ich dir dafür gegeben habe.« Für 120 Rubel bekommt Mosche sein Bild zurück. Ein paar Wochen später besucht Schlomo wieder seinen Freund Mosche. Das Bild hängt im Salon über dem Kamin und sieht prächtig aus. Schlomo will es wieder haben. Diesmal verlangt Mosche 150 Rubel, Schlomo zahlt und nimmt das Bild gleich mit.

Und so geht es weiter, immer hin und her. Bis Schlomo eines Tages zu Mosche kommt und mit Entsetzen feststellen muss, dass das Bild weg ist. »Mosche, was hast du mit dem Bild gemacht?« – »Ich habe es an Rafi verkauft, für 200 Rubel.« – »Wie konntest du nur?«, ruft Schlomo verzweifelt. »Jetzt hast du unser schönes Geschäft kaputtgemacht!«

Und so machen es auch die Banken untereinander, nur ist das Rad, das sie drehen, viel größer. Aber das Prinzip ist dasselbe. Umsätze und Gewinne werden in einem geschlossenen System generiert. In der realen Welt geht es nur in Swinger-Clubs ähnlich zu: A treibt es mit B, B mit C, C mit D und so weiter, bis der Letzte wieder beim Ersten landet. Die Idee ist nicht neu. Arthur Schnitzler hat sie zu einem Bühnenstück verarbeitet: »Der Reigen«.

Die SZ hat ihren Bericht über den Milliarden-Segen der EZB mit der Frage »Warum brauchen die Banken so viel Geld?« überschrieben und mit einem Foto illustriert, auf dem ein Stapel frisch gedruckten Geldes zu sehen ist. So stellt sich der gemeine SZ-Redakteur den finanzpolitischen Urknall vor – Paletten voller Geld.

Tatsächlich wird nur das Geld gedruckt, das für den Bargeldumlauf benötigt wird und einen sehr kleinen Teil der gesamten Geldmenge ausmacht. Das Geld, das die...

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