1. Einleitung
Man war bei Laune. Lachend berichtete der promovierte Physiker: «Sie waren sich alle einig! So müsste es gehen! Der Bürgermeister hatte sowohl Bürgerinitiativen als auch den ganzen Stadtrat hinter sich, denn Verkehrsdichte, Lärm und Luftverpestung in der Innenstadt waren ganz einfach unerträglich geworden. So wurde das Tempolimit für den Autoverkehr auf dreißig Kilometer gesenkt, und ‹Verkehrsberuhiger› aus Beton sorgten für Folgsamkeit. Nur einige Schönheitsfehler hatte das Ergebnis: Die Autos fuhren jetzt im zweiten statt im dritten Gang, also lauter und abgasreicher; die zuvor zwanzigminütige Einkaufsfahrt dauerte jetzt dreißig Minuten, sodass die Zahl der die Innenstadt gleichzeitig beengenden Autos deutlich anstieg. – Ein Flop? Nein, denn nun war es so nervtötend geworden, dort einzukaufen, dass immer mehr Menschen es unterließen. Also doch der gewünschte Erfolg? Nein, denn die Verkehrsdichte sank zwar allmählich fast wieder auf den Ausgangswert; Lärm und Abgase blieben aber beträchtlich. Die eine Hälfte der Einwohner wohnte im Übrigen auf der ‹richtigen› Seite der Stadt und kaufte nun im nahe gelegenen Großmarkt vor der Nachbargemeinde ein – und zwar gleich für die ganze Woche. (Das hat sich seitdem als sehr praktisch herumgesprochen und wird aus diesem Grunde zunehmend praktiziert.) Zuvor florierende Geschäfte gerieten zum Kummer des entschlussfreudigen Bürgermeisters an den Rand der Wirtschaftlichkeit, die Steuereinnahmen sanken beträchtlich. Also zum Schluss ein folgenschwerer Reinfall, der die Gemeinde noch lange belasten wird.»
Das Schicksal dieser umweltbewussten norddeutschen Gemeinde ist ein Beispiel dafür, wie menschliche Planungs- und Entscheidungsprozesse schief gehen können, weil man Neben- und Fernwirkungen von Entscheidungen nicht genügend beachtet; weil man Maßnahmen zu stark dosiert oder zu schwach; weil man Voraussetzungen, die man eigentlich berücksichtigen sollte, nicht beachtet; und so weiter. Um richtiges Planen und Entscheiden ging es dem promovierten Physiker und dem diplomierten Volkswirt, die an einem schönen Sommermorgen mit mir über einen Gang des Gebäudes Feldkirchenstraße 21 der Universität Bamberg gingen. Die beiden Herren kamen von einem bekannten und großen deutschen Industrieunternehmen, und es war ihre Absicht, computersimulierte Planspiele, die wir entworfen hatten, auf ihre Eignung zum Einsatz bei der Nachwuchsschulung in ihrem Unternehmen zu prüfen. Das einleitende Gespräch galt natürlich allgemeinen Fragen der bekannten Unzulänglichkeit menschlichen Denkens und Handelns. Und natürlich war das Gespräch ein wenig von dem Hochmut geprägt, dass die Unzulänglichkeiten immer bei den anderen zu finden seien, nämlich bei dem Bürgermeister einer norddeutschen Gemeinde, bei den Managern eines Großbetriebes, die durch falsche Geschäftspolitik den Betrieb an den Rand des Ruins führen, bei Politikern, Verbandsleitern und ähnlichen Personen. Man selbst könnte es wahrscheinlich besser, wenn man nur mal rangelassen würde – so die unausgesprochene Prämisse.
Zwei Stunden später hatte sich die Laune merklich verschlechtert. Inzwischen hatten nämlich die beiden Herren ein Planspiel absolviert. Es ging darum, den Moros, die irgendwo in Westafrika leben, bessere Lebensbedingungen zu verschaffen. Die Moros sind ein Stamm von Halbnomaden in der Sahelzone, die mit ihren Viehherden von Wasserstelle zu Wasserstelle ziehen und außerdem ein wenig Hirseanbau betreiben. Es geht ihnen nicht sonderlich gut. Die Säuglingssterblichkeit ist hoch, die Lebenserwartung insgesamt gering, aufgrund der spezifischen Wirtschaftsform treten immer wieder Hungersnöte auf, kurz: Ihre Situation ist bemitleidenswert. Nun sollte etwas für die Moros getan werden. Geld stand zur Verfügung. Man konnte etwas gegen die Tsetsefliege unternehmen, die den Rinderherden stark zusetzte. Die Tsetsefliege verbreitet die Rinderschlafkrankheit; diese Krankheit ist eine der wesentlichen Todesursachen der Rinder und verhindert eine Vergrößerung des Rinderbestandes. Man konnte einen Gesundheitsdienst für die Moros etablieren, den Hirseanbau durch Düngung und Wahl anderer Getreidesorten verbessern, man konnte tiefere Brunnen bohren und auf diese Weise durch bessere Bewässerung die Weidefläche vergrößern und vieles andere mehr. Natürlich fand das Planspiel nicht in der «richtigen» Sahelzone statt. Diese war vielmehr in einen Computer verlegt worden, der die Verhältnisse in Afrika «simulierte».
Der diplomierte Volkswirt und der Physiker machten sich mit Eifer an die Arbeit. Informationen wurden eingeholt, man betrachtete intensiv die Landkarte mit dem Gebiet der Moros, man fragte, erwog Möglichkeiten, verwarf Entscheidungen, plante neue Maßnahmen und kam schließlich zu bestimmten Entschlüssen. Diese Entschlüsse wurden dem Computer zugeführt, der sodann die Auswirkungen der Entscheidungen berechnete.
Die Jahre vergingen im Minutentempo; der Computer arbeitete gewissermaßen als Zeitraffer. Nach zwanzig (simulierten) Jahren und zwei (echten) Stunden war, wie gesagt, die Stimmung ziemlich trübe. Mit zurückhaltender, aber deutlicher Schärfe kommentierte der Physiker die Meldung des Simulationssystems über die schwindende Ergiebigkeit der Quellen und Brunnen im Lande der Moros: «Herr Kollege, ich war ja von vornherein der Meinung, dass diese exzessive Tiefbrunnenbohrerei zu nichts Gutem führen kann. Damals im Jahre 7 (der Simulation) hatte ich ja auch entschieden davor gewarnt!»
Mit nur wenig verhüllter Schärfe reagierte der Volkswirt: «Daran kann ich mich gar nicht erinnern! Sie gaben damals sogar noch Hinweise, wie man eine solche Tiefbrunnenbohrung möglichst effektiv ansetzen könne. Im Übrigen: Ihre Ideen über die Gestaltung des Gesundheitswesens bei den Moros haben sich ja auch nicht gerade als sehr intelligent erwiesen!»
Der Grund für diese Auseinandersetzung war der in der Tat desolate Zustand der Moros, deren Lebensbedingungen sich in den vergangenen zwanzig Jahren zunächst sehr deutlich verbessert hatten, um sich dann aber rapide zu verschlechtern. Die Anzahl der Moros hatte sich in den zwei Jahrzehnten verdoppelt. Dank der hervorragenden Gesundheitsfürsorge, die man eingerichtet hatte, war die Sterblichkeit stark gesunken, insbesondere die Säuglingssterblichkeit. Allerdings gab es im zwanzigsten Jahr kaum noch Rinder; denn die Weideflächen waren fast vernichtet. Zunächst hatten sich die Rinder stark vermehrt, da man die Tsetsefliege erfolgreich bekämpft hatte. Zugleich hatte man die Weideflächen stark vergrößert, indem man eine große Anzahl Tiefwasserbrunnen bohrte, durch die man das (zunächst) reichlich vorhandene Grundwasser nutzbar machte. Schließlich aber reichte die Weidefläche nicht mehr für die großen Herden: «Überweidung» trat ein; die Rinder fraßen vor Hunger die Graswurzeln; die Vegetationsfläche verminderte sich. Das Bohren weiterer Brunnen half nur kurzfristig und erschöpfte die restlichen Grundwasservorräte umso schneller. Schließlich befand man sich in einer ausweglosen Situation, die allein durch Hilfe von außen noch bewältigt werden konnte.
Wie konnte es dahin kommen? Natürlich handelte es sich bei den beiden akademisch vorgebildeten Herren nicht um Spezialisten der Entwicklungshilfe. Andererseits fühlten sie sich zunächst den Problemen völlig gewachsen und hatten die besten Absichten. Dennoch ging alles schief: Man bohrte Brunnen, ohne zu überlegen, dass Grundwasser eine schwer ersetzbare Ressource ist. Man kann diese Ressource gebrauchen, aber wenn sie weg ist, kriegt man sie nicht mehr wieder! – Man richtete ein effektives System der Gesundheitsfürsorge ein, ohne zu überlegen, dass sich daraus notwendigerweise eine Verlängerung der Lebenszeit, eine Verringerung der Säuglingssterblichkeit, also insgesamt eine Vermehrung der Bevölkerung ergeben würde. Man unterließ es daher, sich beispielsweise gleichzeitig zu den Maßnahmen der Gesundheitsfürsorge Maßnahmen zur Geburtenregelung zu überlegen. Kurz gesagt: Man löste die anstehenden Probleme, ohne an die zu denken, die man durch die Problemlösungen neu erzeugte. Man hob gewissermaßen den Wagen aus dem einen Straßengraben heraus, um ihn gleich mit Schwung in den gegenüberliegenden hineinzuwerfen. All die klug überlegten Maßnahmen führten schließlich nur dazu, dass man am Ende vor der Notwendigkeit stand, eine erheblich angestiegene Anzahl von Menschen mit erheblich verringerten Ressourcen ernähren zu müssen. Alles war im Grunde noch viel komplizierter geworden als vorher. Hätte es keine Hilfe von außen gegeben, so hätte nun alles in einer großen Hungersnot geendet.
Vielleicht ist es wichtig anzumerken, dass das «Moro-Planspiel» nicht etwa irgendwelche «dirty tricks» enthält. Man braucht keine besonderen Fachkenntnisse, um mit der Planspielsituation operieren zu können. Alles, was sich ereignet, ist im Grunde ganz einfach und «selbstverständlich». Bohrt man Brunnen, so verbraucht man Grundwasser. Und wenn dieses nicht «nachgefüllt» wird (und wie sollte man am Südrand der Sahara in großem Umfang Grundwasser nachfüllen?), so ist es halt weg! Das ist sehr einfach einzusehen – hinterher! Die Betroffenheit durch die Misserfolge bei dem «Moro-Planspiel» erklärt sich gerade aus der Einfachheit der Effekte. Etwas nicht vorausgesehen zu haben, wozu es spezifischer Fachkenntnisse und komplizierter Gedankengänge bedurft hätte, macht niemanden betroffen. Anders aber ist es, wenn man Selbstverständlichkeiten übersieht. Und das war hier der Fall gewesen.
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