1. Fötus-Tuning
Der Irrglaube, Embryonen bereits für den Nobelpreis fit zu machen
Ein markerschütternder Schrei, das Baby ist da! Ein kurzer Blick aufs Tablet … und das Baby versteht, wie die Nabelschnur durchschnitten wird. Zweimal schnippt das Neugeborene mit den Fingern – und schon wird im Kreißsaal dem Wunderkind eine Schere gereicht. Schnipp, schnapp; endlich frei und bereit fürs erste Selfie: Das Baby angelt sich ein Smartphone, knipst sich und eine Schwester mit roter Haube. Rundum erstaunte Gesichter, der digitale Knirps amüsiert sich prächtig.
Jetzt kann er schon krabbeln, zielsicher steuert er einen Laptop an. Passwort? Kein Problem – und das Baby ist eingeloggt. Kurz mal die Cam aktiviert, und schon landet das strahlende Kindergesicht im Internet. Weiter geht’s: Der Knirps im blauen Strampler marschiert mit dem Smartphone zu einem Arzt, der vor Schreck auf dem Boden gelandet ist. Klick, auch dieses geschockte Gesicht ist im Kasten. Sicheren Schritts verlässt das Wunderkind den Kreißsaal, das Navi zeigt den Weg. Vorbei an einem Pfleger, der auf einen Bildschirm starrt, wo das Video aus dem Kreißsaal läuft … Kurze Einblendung: Born for the Internet.
Fötus-Tuning vom Feinsten, allerdings nur in einem Werbevideo, das ein russisch-indisches Telekom-Unternehmen durch soziale Netzwerke jagt. Auf Facebook wurde es über 13.000-mal geteilt, die Kommentare reichen von »sooooooooooooo süß!« bis zu »Das ist doch krank« (Stand Juli 2014).
Krank? Blättern wir doch einmal in einer vergilbten Ausgabe des Lakeland Ledger vom 10. November 1987 (1). Da wird eine »pränatale Universität« vorgestellt, die sich Dr. Rene Van de Carr in Hayward (Kalifornien) ausgedacht hatte. Er war einer der ersten Geburtshelfer und Gynäkologen, die Ungeborene in die Schule schicken wollten. Das geht natürlich nicht ohne Eltern! Sie müssen zum Beispiel bereit sein, ihrem Kind erste Worte laut durch die Bauchdecke zuzurufen: »pat« (klopfen), »rub« (reiben) oder »squeeze« (drücken). Das sind Begriffe erster Wahl – und zugleich wird der Bauch der Schwangeren beklopft, gerieben oder gedrückt. Van de Carr zum Lakeland Ledger: »Es ist wirklich ganz einfach. Manche Leute machen das auf Spanisch, Chinesisch oder Arabisch; die Babys assoziieren die Worte mit den Bewegungen.« Doch nicht alles ist erlaubt, Worte wie »poo-poo« landen auf einem vorgeburtlichen Index. Das ist in Amerika Baby Language und heißt schlicht »Aa machen«.
Wer aber für sein Kind den Doktortitel in Physik fest eingeplant hat, dem gibt Van de Carr weitere Tipps zum Lernen von Zahlen: einfach eine Halogenlampe auf den Bauch richten und dem Ungeborenen erst zweimal, dann drei-, vier- und fünfmal ein Lichtsignal geben. Dabei sagt die werdende Mutter: »Two lights«, »three lights« usw.
Das ist Mathe light, gelehrt im »prenatal classroom«, wie der Gynäkologe dieses Konzept genannt hat. Doch ohne weitere Hilfsmittel klappt keine Mathematik-Stunde: Eine Sprechtüte aus Papier muss her, durch die Mütter ihre Durchsagen verstärken – so wie ein Megafon Stimmgewalt auf Demonstrationen verleiht.
Das brachte Dawn Hodson aus Ventura (Kalifornien) auf eine Idee: Sie ließ sich Ende der 1980er-Jahre ein »Pregaphone« patentieren – ein hellgelbes Gerät, das aus drei Teilen bestand: einem Mundstück, einem 46 Zentimeter langen Schlauch und einem Trichter. Es diente der direkten Kommunikation zwischen Mutter und Kind; angeblich verkaufte Hodson 10.000 Stück. Heute gibt es ihre Firma Pregaphone, Inc. nicht mehr, aber das Netz vergisst bekanntlich nichts: Einfach die Patentnummer US D297234 S googeln, und schon lässt sich eine genaue Zeichnung der Erfindung anschauen.
Wer jetzt die Ideen von Van de Carr und Hodson für analoge Höhlenmalerei hält, der irrt gewaltig. Sie sind heute genauso präsent – aufgeladen mit digitaler Technik, die alle steinzeitlichen Versuche der 1980er-Jahre in den Schatten stellt. »Pränatale Stimulation« lautet das Zauberwort, das die Hersteller dieser Hardware in der Werbung aufblitzen lassen. Ihr Argument: Wenn ein Fötus gezielt Sinnesreizen ausgesetzt wird, entwickelt sich sein Gehirn besser. Ein höherer Intelligenzquotient sei die Folge, Babys sind nach der Geburt ruhiger – und damit pflegeleichter. Was für wunderbare Verheißungen für angehende Eltern, die Nachtruhe bald nur noch vom Hörensagen kennen. Und dann noch die Aussicht auf den Doktortitel in Teilchenphysik!
Mit solchen Hoffnungen spielt in ihrer Werbung die Nuvo Group USA, Inc. Das Unternehmen hat seinen Sitz in Valley Cottage (Staat New York) – und preist einen Ritmo Pregnancy Audio Belt an: einen Gurt mit vier Lautsprechern, den sich Schwangere um den Bauch binden sollen. Die werdende Mutter lauscht über Kopfhörer, womit sie ihr Kind beglückt; der Sound kommt vom MP3-Player oder Smartphone. Warum gleich vier Lautsprecher? »Weil sich Babys im Bauch der Mutter viel bewegen, muss die Musik strategisch an verschiedenen Stellen zu hören sein. Nur so erreicht sie effektiv das Kind, egal wo sich gerade sein Kopf befindet«, behauptet die Nuvo Group USA, Inc.
Das Ergebnis ist ein Surround-Sound-System, das die gesamte Gebärmutter abdeckt. Seine Wirkung hat die Schwangere voll im Griff, sie bestimmt Lautstärke und Zeit der Beschallung. Anders beim Produkt Ritmo Advanced: Es wurde mit einem Ritmo Safe & Sound Controller ausgestattet, »der die Musik sicher, kontinuierlich in einer geeigneten Lautstärke abspielt, die exakt zur Wachstumsphase des Babys passt«, so die Werbung. Die werdenden Eltern können auch eigene Texte sprechen und als MP3 speichern. Außerdem macht es das System möglich, dass amerikanische Soldaten mit ihrem Ungeborenen »sprechen« – aus Afghanistan via Smartphone. Das verspricht zumindest die Werbung des US-Unternehmens.
Und die Slogans zur Fötenförderung kommen an, zum Beispiel bei der Schauspielerin Bree Turner, die begeistert schreibt: »Was für eine fantastische Idee! Unser kleines Mädchen wird bereits in der Gebärmutter musikalisch ausgebildet.« Zudem steigt durch den Mozart-Effekt der IQ – und wieder rückt die Reise nach Stockholm näher, wenn der eigene Nachwuchs den Nobelpreis erhält. Ein sicheres Zeichen, dass die Digitalisierung der Bildung am besten im Mutterleib beginnt, oder?
Mozart-Effekt: Dieser Mythos lässt werdende Eltern glauben, ihr Kind ergattere einen Wettbewerbsvorteil, sobald es klassischen Klängen lauscht, und das alles vor dem ersten Schrei im Kreißsaal. So ist ein spezielles Segment am Musik-Markt entstanden, das diese Nachfrage bedient. Ein Titel lautet: »W. A. Mozart – Wohlfühlen in der Schwangerschaft für mich und mein Baby«. Dazu heißt es in einer Rezension auf www.amazon.de: »Sehr schöne DVD, höre sie mir jeden Tag an. Es entspannt mich, und unserem Sonnenschein gefällt sie auch. Es boxt ab und zu zur Musik mit.«
Oder eine weitere CD heißt: »Mein Baby – Klassik für Mutter & Kind«. Eine Rezension zeigt, wie der Mythos vom Mozart-Effekt Wirkung entfaltet: »Ich bin sehr zufrieden mit der CD. (…) Sie hat eine beruhigende Wirkung auf mich, und mein Baby kann ja ab der 16. Woche mithören, und es ist ja wissenschaftlich erwiesen, dass Mozart eine beruhigende Wirkung auf Babys hat, auch schon im Mutterleib [Hervorhebung durch die Autoren].«
Die »beruhigende Wirkung auf Babys« ist ein weiteres Versprechen, das oft zu hören ist, damit Eltern digital aufrüsten – für den globalen Wettbewerb, dem sich angeblich ihr Nachwuchs zu stellen hat. Im Vordergrund steht dabei immer die Intelligenz, um die sich Eltern gar nicht früh genug kümmern können.
Aber: Der Mozart-Effekt geht auf ein Experiment mit erwachsenen Studenten (!) zurück, das ein Team um die Neurologin Frances Rauscher durchgeführt hat. Es berichtete 1993 in der angesehenen Zeitschrift Nature: Wer zehn Minuten Musik von Mozart hört, zeigt direkt danach bessere räumlich-visuelle Vorstellungsleistungen als eine Vergleichsgruppe, die in derselben Zeit still in einem Zimmer saß oder eine Anleitung zum Entspannen hörte. Die Vorstellungsleistungen wurden durch spezielle Aufgaben getestet: Die Probanden mussten herausfinden, was für Muster sich ergeben, wenn Papier geschnitten, gedreht und gefaltet wird.
Dieses Experiment sorgte weltweit für Schlagzeilen, zumal die Forscher ihre Ergebnisse so interpretierten, dass die Mozart-Klänge die Studenten intelligenter machten. »Eine weitere Folge bestand in der Entwicklung einer ganzen Frühförderungsindustrie, die bildungsorientierte Eltern mit Mozart-CDs versorgte, mit denen die kognitive Entwicklung ihrer Kinder optimal gefördert werden sollte«, schreiben Ralph Schumacher und seine Koautoren (2). Eine andere Blüte des...