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E-Book

Die Macht der Kindheit

Wie negative Erfahrungen uns stärker machen

AutorMeg Jay
VerlagHoffmann und Campe Verlag
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl464 Seiten
ISBN9783455001365
FSK18
Altersgruppe18 – 
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis10,99 EUR
»Es ist unmöglich, dieses Buch zu lesen, ohne sich darin zu erkennen - klarer, als je zuvor.« The New York Times Wer in jungen Jahren mit einer trinkenden Mutter, einem übergriffigen Vater oder mobbenden Mitschülern zu kämpfen hatte, weiß, dass solche Erlebnisse das eigene Verhalten prägen. Psychologin und Erfolgsautorin Meg Jay erklärt, wie wir aus frühen Rückschlägen Positives ziehen können, und aus vermeintlichen Schwächen eine ungeahnte mentale Stärke erwachsen kann.

Meg Jay promovierte in Klinischer Psychologie und Gender Studies an der University of California, Berkeley. Heute lehrt sie als Professorin an der University of Virginia und unterhält eine private Praxis in Charlottesville. Ihre Artikel erscheinen regelmäßig u.a. in der New York Times, der Los Angeles Times oder USA Today. The Defining Decade (2012), ihr Debüt auf dem Buchmarkt, war in den USA ein Bestseller, ihr TED Talk zum Thema »Warum die 30er nicht die neuen 20er sind« gehört mit über 10 Millionen Abrufen zu den erfolgreichsten des Formats.

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Leseprobe

1 Supernormal


Es gibt keine größere Qual, als eine unerzählte Geschichte in dir herumzutragen.

Maya Angelou[2]

Im persönlichen Gespräch wirkte Helen auf mich genauso diszipliniert, wie sie am Telefon geklungen hatte. Zu ihrem ersten Termin erschien sie auf die Minute pünktlich, saß kerzengerade auf dem Sofa, eine Hand über die andere gelegt, wobei die untere Hand sich verkrampfte. Wir tauschten ein paar Freundlichkeiten aus, unter anderem fragte ich sie, ob sie meine Praxis ohne Probleme gefunden hatte. Auf diese Frage antwortete Helen, fast beiläufig, dass sie spät aus einer Besprechung gekommen und schnell ins Auto gestiegen sei, allerdings auf halbem Weg einen Platten hatte, in die nächste Werkstatt rollte, dort in aller Eile ihren Schlüssel abgab und im Fortgehen rief, sie sei in einer Stunde wieder da. Dann habe sie einen Bus genommen, der in die richtige Richtung fuhr, sei nach etwa anderthalb Kilometern ausgestiegen und von dort die paar Blocks hierher gerannt.

»Sie hören sich an wie eine Superheldin«, sagte ich.

Über Helens Wange liefen plötzlich Tränen, und sie schaute mich ironisch und traurig an. »Sie haben ja keine Ahnung«, erwiderte sie.

Helen erzählte mir, dass sie den größten Teil der letzten Jahre seit der Uni – »Wie viele sind das jetzt?« Sie machte eine Pause, um zu zählen. »Zehn? Elf?« – damit zugebracht hatte, im Auftrag von NGOs um die Erde zu reisen, um für eine bessere Welt zu kämpfen. Soziale Gerechtigkeit in Afrika. Klimagerechtigkeit in Südost-asien und Lateinamerika. Gerechtigkeit für Kinder und Jugendliche in Osteuropa und der Karibik. Helen ging dorthin, wo man sie brauchte. Doch dann, eines Tages, schickte ihre Mutter ihr eine Nachricht, dass sie zu Hause gebraucht würde.

Helens Vater hatte sich in dem Haus umgebracht, in dem sie aufgewachsen war. Es war ein schlichtes Haus in einem Vorort etwa zwei Stunden von San Francisco entfernt. Dort gab es einen Garten zum Spielen, und Helen und ihre zwei jüngeren Brüder hatten jeder ein eigenes Zimmer. Vielleicht war das der Grund, warum vor vielen Jahren niemand gehört hatte, wie der Jüngste mitten in der Nacht aus dem Haus zum Pool schlich. Vielleicht hatte deshalb niemand gesehen, wie er ertrank.

Noch bevor sie ein Teenager war, hatte Helen begonnen, ebenfalls in der Nacht aus dem Haus zu schleichen. Zuerst wollte sie einfach nur wissen, wie die Welt für ihren kleinen Bruder ausgesehen hatte, kurz bevor er starb. Doch dann machte sie damit weiter, weil sie so allem entfliehen konnte, wenigstens für eine Weile. Ihr Vater drängte nicht darauf, irgendwo anders einen Neuanfang zu machen. Ihre Mutter weinte nicht und weigerte sich, die Erinnerungen an ihr jüngstes Kind – einschließlich der Kerben im Rahmen der Küchentür, die sein Wachstum angaben – hinter sich zu lassen. Tagsüber lief Helen durch die Korridore der Schule, wo sie sich lächelnd gute Noten erarbeitete – für ihre Eltern war es wichtig, dass sie »die Starke« war, und so war sie es denn auch. Im Dunkel der Nacht jedoch wanderte Helen entlang der Häuserblocks, und wenn sie in den gelben Lichtschein der Straßenlaternen hinein- und wieder heraustrat, gab es niemanden, für den sie stark sein musste, niemanden, den sie retten musste.

Als sie von ihren beruflichen Reisen rund um den Erdball zurückkehrte, fuhr Helen mit dem Mietwagen durch dieselben Straßen und war sich nicht sicher, was ihr mehr gegen den Strich ging: die Tatsache, dass die Häuser alle gleich aussahen, oder das Gefühl, dass ihres nie wie der Rest gewirkt hatte. Danach fuhr sie zum Büro ihres Vaters und packte seine persönlichen Dinge in einen Karton, darunter eine leere Wasserflasche, die verdächtigerweise in der unteren Schublade versteckt lag. Als sie den Deckel abschraubte und ihre Nase daranhielt, roch sie Alkohol. Auch Helen hätte gern etwas getrunken, als sie sich im Bürostuhl ihres Vaters hin- und herdrehte und die Stapel von Ordnern betrachtete, die achtlos auf den restlichen Stühlen herumlagen. Als sie ging, dankte Helen den Kollegen ihres Vaters höflich, die ungeschickt nach tröstenden Worten suchten und sie für ihre Arbeit beglückwünschten: »Ihr Vater war so stolz auf Sie. Wissen Sie, er hat die ganze Zeit über Sie gesprochen.« Helen wusste es. Sie war immer der lebende Beweis gewesen, dass es ihrer Familie gut ging.

Im Handumdrehen hatte Helen einen Job in der Nähe ihres Heimatortes gefunden, diesmal als Spendensammlerin für einen Präsidentenwahlkampf. Sie redete sich ein, dass es auch in den USA wichtige Arbeit zu leisten gab; außerdem brauchte ihre Mutter sie. Im Büro wurden freundliche und neutrale Gespräche mit Geldgebern von Anrufen ihrer weinenden Mutter unterbrochen: Ihr Haus – das sie nie hatte verlassen wollen – sollte zwangsversteigert werden. An einem solchen Tag machte Helen sich zu meiner Praxis auf, um mir ihre Geschichte zu erzählen.

»Das alles habe ich noch nie jemandem erzählt«, teilte Helen mir mit, während ihr die Tränen über die Wangen liefen. »Einige Leute wissen einige Dinge, aber niemand kennt die ganze Geschichte. Die Menschen schauen mich an und sehen all die großartigen Sachen, die ich geleistet habe – und dann sind sie überrascht, wenn sie etwas über meine Familie herausfinden. Aber niemand weiß, wer ich wirklich bin. Ich glaube, es hat mich noch nie jemand richtig gekannt. Das macht einsam.«

Lange saß Helen schweigend da, während sie unentwegt ein Taschentuch faltete und entfaltete.

»Ich bin so müde«, fuhr sie irgendwann fort. »Es ist mir peinlich, das zu sagen, hier zu sitzen und zu weinen, wenn ich an all die Menschen denke, denen es im Leben so viel schlechter geht als mir. Es ist, als hätte ich nicht das Recht, so erschöpft oder traurig zu sein. Ich weiß nicht, was mit mir nicht stimmt. Manchmal fühlt es sich an, als würde ich nirgendwo hinpassen, als gäbe es kein Wort für … was immer ich auch bin. Ich habe einfach das Gefühl, dass ich nicht wie andere Menschen bin«, schloss sie. »Dass ich nicht normal bin.«

Als ich Helen fragte, ob sie sich selbst jemals für resilient gehalten hätte, war sie nicht verwirrt, sondern vielmehr völlig verblüfft. Ihre Antwort kam sehr schnell und bestimmt: »Nein.«

»Wenn ich resilient wäre«, erklärte sie sachlich, so als wäre ich diejenige, die sich irrte, »hätte ich Sie wohl kaum aufgesucht. Dann brauchte ich niemanden wie Sie, um zu reden.«

Und dann blickte Helen mit unfehlbarem Timing auf ihre Uhr und unterbrach sich selbst: »Unsere Zeit ist um. Ich sehe Sie nächste Woche.« Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und verließ meine Praxis, um zurück zu ihrem Auto zu eilen.

***

Helen ist ein Wunder. Egal, ob es darum geht, dass sie ihre Kindheit überstanden hat oder dass sie es an diesem ersten Tag in meine Praxis geschafft hat: Sie hat Schwierigkeiten überwunden, große und kleine. Den Verlust des Bruders. Die Trauer ihrer Eltern. Den Tod ihres Vaters. Internationale Ungerechtigkeit. Einen Platten. Ganz gleich, was es war, Helen ist sofort aktiv geworden. Stark und bestimmt, mitfühlend und tapfer, war sie für ihre Familie eine Heldin und vielleicht auch für andere Personen. Unermüdlich, so scheint es, kam sie all jenen zu Hilfe, die sie brauchten, und hat sich dabei auch um fremde Menschen auf der ganzen Welt gekümmert. Für all jene, die sie kannten, war Helen ein Wunder, und nur wenige hätten geahnt, dass sie sich – hatte sie einmal die Tür hinter sich geschlossen – erschöpft, anders als andere und allein fühlte.

Aber Helen ist nicht in dem Maße anders als andere, wie sie glaubt. Es folgt eine Liste der häufigsten Schwierigkeiten, mit denen Kinder und Teenager aufwachsen. Wenn Sie sich fragen, ob Sie selbst zu dieser Gruppe von Kindern oder Jugendlichen gehören, stellen Sie sich einmal folgende Fragen.[3]

Haben Sie, bevor Sie zwanzig Jahre alt waren,

  • ein Elternteil oder ein Geschwister durch Tod oder Scheidung verloren?

  • ein Elternteil gehabt, das Sie beschimpft, klein gemacht, erniedrigt, isoliert oder in sonst einer Weise behandelt hat, dass Sie sich gefürchtet haben?

  • mit einem Elternteil oder Geschwister gelebt, die Problemtrinker waren oder andere Drogen genommen haben?

  • durch die Kinder in der Schule oder Ihrer Nachbarschaft Mobbing erfahren?

  • mit einem Erwachsenen oder Geschwister gelebt, die unter psychischen Störungen, einer schweren Krankheit oder Behinderungen litten?

  • mit einem Elternteil oder Geschwister gelebt, die sie oft geschubst, hart angefasst, geschlagen oder Dinge nach Ihnen geworfen haben oder die Sie sogar so sehr geschlagen haben, dass Sie blaue Flecken, Narben oder andere Verletzungen davontrugen?

  • in einem Zuhause gelebt, in dem es keine saubere Kleidung oder ausreichend Nahrung gab, nicht genug Geld für einen Arztbesuch da war und wo Sie das Gefühl hatten, nicht beschützt zu werden?

  • in einem Haushalt gelebt, in dem ein Mitglied im Gefängnis saß?

  • mit einem Elternteil oder einem Geschwister gelebt (oder jemanden in Ihrem Umfeld gekannt, der mindestens fünf Jahre älter als Sie war und) der oder die Sie auf sexuelle Weise bedrängt hat oder Sie gebeten hat, sexuelle Handlungen auszuführen?

  • in einem Haushalt gelebt, in dem ein Elternteil oder Geschwister manchmal geschlagen, getreten oder mit einer Waffe bedroht wurde?

Wenn Sie auf eine oder mehrere dieser Fragen mit Ja...

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