II. Vermeidbarer Fehlstart unserer Jungen – und eine überfällige Folgerung
Nachdem das vorangegangene Kapitel gezeigt hat, wie die Beziehung von Vater und Sohn über die Jahrtausende zu dem wurde, was sie heute im Großen und Ganzen ist, unternehmen wir nun einen kleinen Streifzug durch aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse über die kindliche Entwicklung.
Zweierlei wird hierbei deutlich werden: Nicht zuletzt die psychischen Altlasten unserer Gesellschaft – und vor allem der heutigen Väter – aus vielen Tausend Jahren Geschichte hemmen die Jungen massiv in ihrer Persönlichkeitsentfaltung.
Dabei zeigen neueste wissenschaftliche Studien, dass die kindliche Förderung früher und umfassender einsetzen müsste, als heutige Familien dies selbst unter günstigen Voraussetzungen zu leisten vermögen.
Doch aus anderen historischen Familienmodellen lassen sich Alternativen zu den heute gängigen Vater-Sohn- Beziehungen ableiten. Zum Glück für unsere Jungen – denn es wird allerhöchste Zeit, dass wir unsere Vorstellungen von Vaterschaft den Bedürfnissen unserer Zeit anpassen.
Von Natur aus gefühlsarm?
Nicht nur in vielen Er- und Beziehungsratgebern wird seit Jahren die Behauptung wiederholt, dass Jungen und Männer »von Natur aus« weniger kommunikative Kompetenz und emotionale Intelligenz besäßen als Mädchen und Frauen.
Auch in der Jugendpädagogik melden sich immer häufiger »maskulinistische« Meinungsmacher zu Wort, so beispielsweise der Schweizer Psychologe Allan Guggenbühl, der schlichtweg verkündet: »Bei Männern und Frauen handelt es sich um zwei unterschiedliche Wesen.«
Folglich gebe es auch eine ganze Reihe grundlegender »weiblicher und männlicher Eigenschaften«, die »auf den Einfluss der Gene und Hormone zurückzuführen sind und nicht von Gesellschaften produziert« seien ((1)) – darunter die Begabung zu »Beziehungssprache« und »Einfühlungsvermögen «, die eben typisch weibliche Attribute seien.
Jungen und Männer dächten dagegen von Natur aus in Hierarchien statt in Beziehungen, könnten sich in ihr Gegenüber nicht einfühlen, dafür jedoch technische Sachverhalte analysieren und mittels »Berichtssprache« darstellen, worin wiederum Mädchen schwach seien – und dies alles kraft der wundersamen Macht der Gene und Hormone, die in pseudowissenschaftlichen Texten längst jene Rolle eingenommen haben, die im mittelalterlichen Weltbild dem Einfluss der Sterne zugemessen wurde.
Einen stichhaltigen Beweis für die angeblich unabänderlich unterschiedlichen Eigenschaften von Jungen und Mädchen bleiben die biologistischen Mythologen allerdings ebenso schuldig wie ihre Vorläufer, die mit astrologischen Formeln Verwirrung stifteten.
Schauen wir uns stattdessen einmal an, was die seriöse Wissenschaft zu der Frage herausgefunden hat, wie sich Emotionalität, Einfühlungsvermögen und sprachliche Ausdrucksfähigkeit bei Jungen und Mädchen entwickeln.
Sprechen und fühlen
Die Formbarkeit des Gehirns ist niemals größer als in den allerersten Lebensjahren – für Intelligenz und Persönlichkeit des Menschen werden in dieser Phase die entscheidenden Weichen gestellt.
Neurophysiologen sprechen von der »neuronalen Plastizität« des Gehirns, das zu Beginn des Lebens einer leeren Festplatte ähnelt: ein extrem flexibles Netzwerk von Nervenzellen, das »Programme« aller Art und Dichte ausbilden kann – je nachdem, welche Anforderungen die Umwelt an es richtet.
Diese Plastizität stellt das Gehirn jedes gesunden Säuglings zum Beispiel dadurch unter Beweis, dass es in einem vergleichsweise kurzen Zeitraum die Sprache seiner Umgebung erlernt.
Anfangs vernimmt das Kind lediglich bedeutungsfreie Laute – die Grammatik wie auch das Wörterbuch muss es selbst erstellen und im Laufe seines Lebens erweitern. So lernt es seine Muttersprache immer differenzierter zu verwenden.
Bereits mit Vollendung des ersten Lebensjahrs können Kinder normalerweise ihre ersten Wörter nicht nur artikulieren, sondern fangen überdies an, deren Bedeutung zu begreifen.
Mit anderthalb Jahren kennen manche Kinder 20, andere bereits 50 oder 80 Vokabeln – je nachdem, wie intensiv sich die Bezugspersonen um den Säugling kümmern.
Mit etwa zweieinhalb Jahren sollte ein Kind mehrere Hundert Wörter sprechen und verstehen. Wird seine Entwicklung angemessen gefördert, so kann es im Vorschulalter, also mit vier bis fünf Jahren, wenigstens 3000 Wörter beherrschen.
Zwei Jahre später kann das Lexikon in seinem Gehirn bereits um das Achtfache angewachsen sein – auf einen passiven Wortschatz von 24 000 Vokabeln! ((2)) Das setzt allerdings voraus, dass Eltern und Erzieherinnen im Kindergarten nicht nur viel und intensiv mit dem Kind kommunizieren, sondern ihrerseits über sprachliche Ausdrucksvielfalt verfügen.
Die Sprachentwicklung der Jungen beginnt im Allgemeinen etwas später als bei den Mädchen, aber bei der Zahl der gelernten Vokabeln oder der Komplexität der verwendeten Satzgebilde sind sich die Geschlechter während der ersten Lebensjahre ziemlich gleich.
Ähnlich sieht es beim Ausdruck von Gefühlen aus – soweit sich hier in den ersten Jahren deutliche Geschlechtsunterschiede zeigen, widersprechen sie sogar eher den Verhaltensmustern, die herkömmlich Jungen und Mädchen zugeordnet werden.
So haben diverse Studien übereinstimmend ergeben, dass Jungen in den ersten Lebensjahren häufiger als Mädchen weinen. Dagegen zeigen Mädchen im zweiten Lebensjahr öfter als Jungen offen ihren Ärger. Erst im Grundschulalter beginnt sich der emotionale Ausdruck der Kinder den Geschlechtsklischees anzupassen:
Die Jungen versuchen dann verstärkt, Gefühle wie Trauer oder Scham zu verbergen, und die Mädchen unterdrücken ihrerseits Ärger und Enttäuschung. Im Jugendalter schließlich verneinen Jungen meist die Frage, ob sie häufig Traurigkeit, Schuld oder Scham empfänden – Mädchen dagegen erklären überwiegend, dass sie solche Gefühle öfter und intensiver als in vorherigen Lebensphasen verspürten. ((3))
Bis etwa zum zweiten Lebensjahr entwickeln Kinder ein »sprachliches Selbst«: Erst durch ihre verbale Ausdrucksfähigkeit entsteht ein Bewusstsein dafür, was zu ihrer Person gehört – und was nicht.
Ungefähr zur gleichen Zeit bildet sich daher bei Kindern nicht nur die Fähigkeit heraus, sich selbst im Spiegel zu erkennen, sondern ebenso das Vermögen, ihre Gefühle mitzuteilen.
Im Verlauf des dritten Lebensjahrs verfeinern die Kinder immer weiter ihre Fertigkeit, durch sprachlichen Ausdruck, insbesondere durch gefühlsbetontes Vokabular, das Verhalten ihrer Umwelt zu beeinflussen sowie die emotionalen Untertöne in den Äußerungen anderer Menschen zu verstehen und darauf einzugehen.
Deutliche Unterschiede zwischen dreijährigen Jungen und Mädchen konnten auch beim Erwerb und Gebrauch dieser Fertigkeiten nicht beobachtet werden.
Ebenso ist die Empathie, also das Vermögen, sich in andere Lebewesen einzufühlen, beiden Geschlechtern offenbar gleichermaßen angeboren: Bereits im ersten Lebensjahr sind Jungen und Mädchen für das Leid anderer Babys empfänglich. Zweijährige versuchen, weinende Spielgefährten zu trösten, indem sie ihnen Geschenke oder etwas zu essen anbieten – unabhängig davon, ob es sich um Jungen oder Mädchen handelt. ((4))
Sprache ist geschlechtlich
Indem Kinder sprechen lernen, werden sie jedoch auch vollends »vergeschlechtlicht«: Unerbittlich teilt unsere Sprache die Menschen und Dinge, Eigenschaften und Tätigkeiten in männlich und weiblich auf.
Androgyne Fantasien sind für die ersten Lebensjahre jedes Menschen charakteristisch – in Tagtraum und Spiel sehen die Kleinen sich selbst und andere Menschen als zweigeschlechtliche Wesen an.
Doch solche Vorstellungen werden nun im gleichen Maß in unbewusste Regionen abgedrängt, wie die Kinder sich und ihre Welt sprachlich zu benennen lernen. Etwa mit zweieinhalb Jahren können Kinder sich selbst, ihre Eltern und andere Menschen den Kategorien »männlich« und »weiblich« zuordnen.
Während beim Spracherwerb in den ersten Lebensjahren keine nennenswerten Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen festzustellen waren, werden diese durch den Sprachgebrauch von nun an massiv verstärkt.
Bereits dreijährige Kinder greifen bevorzugt Floskeln und Sprechweisen von Angehörigen ihres eigenen Geschlechts auf: Kleine Mädchen finden Babys »süß«, und nicht wenige Jungen lernen heutzutage mit unbewegter Miene »cool« zu murmeln, ehe sie auch nur aus den Windeln heraus sind.
Was die Kinder vorher nur als Einstellungen der Eltern und anderer Bezugspersonen im vorsprachlichen Bereich gespürt haben, bekommt jetzt eine sprachliche Gestalt. Frauen sind »schön« und hilfsbereit, Männer »stark« und kämpferisch – und die Aufgabe der Mädchen und Jungen ist es offenbar, diesen Klischees ihres Geschlechts möglichst rasch und vollkommen zu entsprechen.
Gleich einer ebenso gigantischen wie gnadenlosen Maschinerie drückt die Sprache allem und jedem den Stempel »männlich« oder »weiblich« auf: »cool« oder »schön«, »stark« oder »süß« und so weiter.
Was der angebliche Unterschied von »Genen und Hormonen« bis dahin nicht vermocht hat, gelingt nun Eltern, Umwelt und den Kindern selbst mithilfe der Sprache: Mehr und mehr zeigen die Jungen nur noch solche Einstellungen und Verhaltensweisen, die männlichen Geschlechtsstereotypen entsprechen, während die Mädchen »typisch weibliches« Verhalten kultivieren.
Breit angelegte Untersuchungen haben seit den Achtzigerjahren immer wieder...