Kapitel 2
Allahu Akbar!
Von der kühnen Eroberung Hispaniens bis zum Untergang der Kulturhauptstadt Córdoba
Es beginnt wie ein ganz normaler Raubzug. Ghassiya oder, abgeleitet davon, Razzia heißen die plötzlichen Überfälle der nordafrikanischen Reiternomaden, bei denen sie vor allem christliche Sklaven verschleppen, aber auch gern Wertsachen, Hausgerät und Vieh erbeuten. Jeder Bewohner im Maghreb, ob Besitzender oder besitzloser Sklave, fürchtet sich vor den wilden Horden, denn sie nehmen alles und schonen dabei nur selten ein Leben, das sich ihnen in den Weg stellt. Diese Razzia unter der gleißenden Julisonne des Jahres 710 jedoch ist besonders. Sie wird Geschichte schreiben.
Denn als sich der Berber Tarif Abu Zura mit 500 Mann von Afrika aus über das Mittelmeer in das von den Westgoten beherrschte Südspanien aufmacht, wird sein Trupp zur Vorhut einer Invasion, die Hispania, so der lateinische Name der iberischen Halbinsel, für Jahrhunderte beherrschen wird. Davon ahnt Tarif freilich nichts, als er mit seinen Gesellen auf christlicher Erde raubt und plündert und anschließend mit reicher Beute nach Afrika zurücksegelt. Am Ufer angelangt, dankt er seinem Gott für die geglückte Überfahrt, schwingt sich auf sein Pferd und eilt zu seinem Zeltlager. Doch 20 Seemeilen entfernt, am südlichen Rand Westeuropas, wird man den Namen des ersten muslimischen Eindringlings niemals vergessen. Tarifa heißt bis heute der Ort am windumtosten Ende Europas, an dem Tarif, der Berber, einst sein Lager aufschlug.
Der Reichtum Andalusiens ist verlockend für die Araber, zumal er kaum gesichert ist. Bereits auf dem ersten Streifzug durch al-Andalus wird ihnen klar, dass das Land politisch zerrissen und in seiner Identität fragil ist. Die dunkelhäutigen, bärtigen Männer treffen auf eine einheimische Bevölkerung von Kelten und Iberern, die gegen die fremden westgotischen Herrscher opponieren, auf widerwillig getaufte Juden und auf schwache Fürsten, die Gewalt wenig entgegenzusetzen haben. Die Chancen auf Beute stehen gut. Es braucht nur einen Mutigen, der sie ergreift und zu nutzen versteht.
Die Eroberung von al-Andalus im Handstreich
Im Jahr darauf ist der gefunden. Tariq Ibn Ziyad, Gouverneur von Tanger, überquert mit rund 7000 Soldaten im Gefolge die schmale Meerenge zwischen Nordafrika und der iberischen Halbinsel. Von Ceuta aus segelt er auf einen hoch aufragenden Felsen auf dem europäischen Festland zu. Dschabal Tariq, Berg des Tariq oder Gibraltar wird dieser Vorposten im äußersten Südwesten Europas bis heute genannt.
Abbildung 1: Tariq Ibn Ziyad
Entgegen dem ausdrücklichen Befehl seines Vorgesetzten Musa Ibn Nusair, dem arabischen Statthalter der römischen Provinz Ifriqiya – von der sich übrigens das Wort „Afrika“ ableitet –, dringt Tariq Ibn Ziyad immer weiter in das Festland vor. Die Westgoten sind alarmiert. Rasch eilt der in Toledo residierende König Roderich (Rodrigo) mit seinen Soldaten herbei, um sich den heranstürmenden Berbern entgegenzustellen. Am 28. Ramadan des Jahres 92 (nach christlicher Zeitrechnung 711) kommt es am Rio Barbate zwischen Cadiz und Sevilla zu einer entscheidenden Schlacht. Roderichs Heer wird vernichtend geschlagen, er selbst getötet.
Rodrigo und Cava Florinda: Eine mittelalterliche False Flag-Operation?
Der Sage nach hat Tariq Ibn Ziyad einen triftigen Grund, Roderich persönlich zu bekämpfen. Graf Julian, Gouverneur der seit 616 von den Westgoten regierten nordafrikanischen Stadt Ceuta, hatte wenige Jahre zuvor seine Tochter Cava Florinda an Roderichs Hof nach Toledo gesandt. Der König fand Gefallen an dem schönen jungen Mädchen, missbrauchte und schwängerte sie. Um sich für diese Schmach zu rächen und um die Ehre seiner Tochter wiederherzustellen, hatte sich Julian mit Tariq Ibn Ziyad gegen Roderich verbündet. Ob in dieser Geschichte ein wahrer Kern steckt, ist umstritten. Viele Forscher bezweifeln, dass es Julian je gegeben hat. Auch sei Ceuta nie wirklich westgotisch gewesen, sondern immer byzantinisch.
Trotzdem greift das Rachemotiv um sich, wird geglaubt und liefert beiden Seiten Rechtfertigungsgründe für den Kampf. Für die hispanischen Christen ist Julian ein ehrloser Verräter, der das Abendland den Muslimen ausliefert. Die Muslime wiederum verachten in Roderich die angebliche Verderbtheit und Dekadenz der Westgoten.
Nach dem Sieg über Roderich kann Tariq ohne größeren Widerstand die Stadt Toledo einnehmen. Die westgotische Besatzungsmacht hat ihm wenig entgegenzusetzen. „Von inneren Auseinandersetzungen geschwächt, häufig von schwachen Königen regiert, zu gering an Zahl, geradezu verloren in der Masse der einheimischen Bevölkerung, werden die Westgoten zur leichten Beute für kühne und landhungrige Krieger.“ (Clot, A., 2002, S. 19) Die überlebenden Adligen fliehen nach Norden oder unterwerfen sich den neuen Machthabern, um ihre Privilegien, ihren Reichtum und ihre Macht zu sichern. Tariq bekommt Unterstützung durch 18.000 vorwiegend arabische Soldaten unter Führung von General Musa Ibn Nusair. Es ist ein starkes, ein kämpferisches, ein hochmotiviertes Heer, denn im Diesseits winken Schätze und im Jenseits die Belohnung durch Allah. Innerhalb weniger Jahre gerät fast die gesamte iberische Halbinsel unter muslimische Vorherrschaft.
Die Mauren etablieren sich auf der Halbinsel zwischen Mittelmeer und Atlantik
Wer darüber staunt, hat tatsächlich allen Anlass dazu. Zumal die Ausdehnung des Islams auf Südwesteuropa keiner Regieanweisung eines mächtigen Kalifen weit im Osten folgt, sondern allein auf die Neugier, Raublust und Verwegenheit der arabischen Heerführer zurückzuführen ist. Als Musa und Tariq auf spanischem Boden zusammentreffen, kommt es denn auch zum Streit. Musa wirft seinem Untergebenen vor, wider seinen ausdrücklichen Befehl gehandelt zu haben. Tariq kann ihn mit einem Teil der Beute beschwichtigen, und fortan gehen die beiden vereint vor.
Musa ist es, der die entscheidenden Weichen stellt, um in den eroberten Regionen eine feste Herrschaft der Mauren zu etablieren. Denn so werden die muslimischen Invasoren fortan heißen, ganz gleich, ob sie Abkömmlinge eines arabischen Hauses oder eines nordafrikanischen Berbervolkes sind. Musa ist fest entschlossen, in Hispanien zu bleiben, der Fülle und Schönheit des Landes wegen und um die Christen zum einzig wahren Gott Allah zu bekehren. „Ab 714 herrschte sein Sohn ‘Abd al-‘Azîz ibn Mûsâ als wâlî, als Gouverneur in Stellvertretung des Kalifen, über al-Andalus. Von nun an ging es nicht mehr um Beutezüge, sondern um die Errichtung eines stabilen islamischen Staatswesens.“ (Bossong, G., 2007, S. 15) Die Araber konzentrieren sich vor allem auf den südlichen Teil der Halbinsel. Allerdings unternehmen sie immer wieder Vorstöße nach Norden. Es gelingt ihnen sogar, über die Pyrenäen bis ins Frankenreich vorzudringen. Jedoch fassen sie weder in Nordspanien noch in Südfrankreich langfristig Fuß.
Der Kalif misstraut den Führern seines Heeres
Zunächst aber muss sich Musa vor dem wichtigsten arabischen Machthaber seiner Zeit für seine eigenmächtigen Eroberungen rechtfertigen. Kalif Walid ist unangefochtener Herrscher über die wachsende Gemeinschaft der Muslime und somit auch der Befehlshaber Tariqs und Musas. Er zitiert seinen Statthalter nach Damaskus und fordert Rechenschaft für den tollkühnen Eroberungsfeldzug. Als Stellvertreter Allahs auf Erden sorgt sich der Kalif um eine zahlenmäßige Schwächung des arabischen Führungspersonals in den eroberten Gebieten Nordafrikas. Dieser Aderlass, so fürchtet er, könnte das Vordringen des Islams verlangsamen.
Abbildung 2: Vorstöße der Mauren auf fränkisches Gebiet im frühen 8. Jahrhundert
Obwohl die wagemutigen Krieger kostbares Beutegut im Gepäck haben, empfängt sie der Kalif mit unverhohlener Ablehnung. Walid wie später auch sein Nachfolger Soliman misstrauen den afrikanischen Gesandten. Die Konsequenzen: Musa verliert seinen Posten als Gouverneur Nordafrikas, Tariq wird entmachtet. Beide sterben einsam und ohne Anerkennung fern des Landes, das sie für ihren Kalifen in Damaskus in Besitz genommen haben. Die muslimische Herrschaft in al-Andalus aber bleibt lebendig – ebenso wie der Eroberungsdrang der Männer aus Afrika, die mit Gebetsmatte und Schwert von weither über das Meer gekommen sind.
Der Franke Karl Martell setzt dem Eroberungszug der Mauern bei Poitiers ein Ende
Immer wieder stoßen die Mauren ins nördliche Spanien vor. Wiederholt überschreiten sie die Pyrenäen und bringen sogar bevölkerungsreiche Städte wie Narbonne, Tours und Toulouse in ihre Gewalt. Doch zu ihrer Überraschung regt sich im Norden weit größerer Widerstand als im Süden. In den für die Araber unwirtlichen, regnerischen Bergen von Kantabrien am Golf von Biscaya fügt ihnen der westgotische Aristokrat Pelayo mit seiner Gefolgschaft eine erste Niederlage zu. Pelayo wird zum Begründer des asturischen Reiches, das bei der christlichen Wiedereroberung in ferner Zukunft eine wichtige Rolle spielen wird.
Abbildung 3: Die Schlacht bei Poitiers (732)
Auch die selbstbewussten Franken unter dem mächtigen Hausmeier Karl Martell setzen den Mauren zu. Bei der Schlacht von Poitiers...