Unsere zwei Sprachen
Les mots et leur syntaxe, leur signification,
leur forme externe et interne ne sont pas des indices indifférents de la réalité,
mais possèdent leur propre poids et leur propre valeur.
Roman Jakobson
Überblicken wir das bisher Gesagte, so sehen wir, dass es inhaltlich so einigermaßen dem entspricht, was man sich von einem Fachbuch erwartet: eine Einführung, einen Überblick, die obligaten historischen Quellennachweise, einige persönliche Stellungnahmen des Autors, und dergleichen. In Bezug darauf, wie diese Seiten mit dem Leser in Kommunikation zu treten versuchen, also vom Standpunkt der sprachlichen Darstellung her, passt sich das Buch ebenfalls an die Norm an: seine Sprache ist erklärend, sie vermittelt Information (über deren objektiven Wert man natürlich verschiedener Meinung sein kann), und sie ist zerebral, intellektuell und, von den persönlichen Meinungen abgesehen, objektiv.
Nehmen wir nun aber an, das Buch hätte mit den letzten drei Zeilen von Hölderlins Gedicht «Hälfte des Lebens» begonnen:
Die Mauern stehn
sprachlos und kalt, im Winde
klirren die Fahnen.
oder mit dem Beginn von Leopardis Gedicht «Der Abend nach dem Fest» (La sera del dì di festa):
Die Nacht ist mild und klar, es weht kein Wind,
und auf den Dächern und im Grün der Gärten
ruht still der Mond, und in der Ferne zeigen
sich unverhüllt die Berge. Oh, Geliebte!
Ganz offensichtlich handelt es sich bei beiden Zitaten um eine grundsätzlich andere Sprache, die im Leser andere Bereiche anspricht. Die wenigen Worte Hölderlins, ihr Rhythmus und ihre Eindrücklichkeit (z. B. die Eiseskälte des «Klirrens» der Fahnen); der tiefe Friede und gleichzeitig die Sehnsucht, die aus den Zeilen Leopardis sprechen, übermitteln nicht Information, sondern evozieren, unabhängig von Zeit und Raum, die Seelenlandschaft des Dichters, und mit ihr auch die des Lesers.
Und gleich noch ein weiteres Beispiel, auch dies von einem souveränen Beherrscher der Sprache, nämlich Kafkas Erzählung, Eine kaiserliche Botschaft. Darin sendet der Kaiser von seinem Sterbebett gerade Dir, dem Einzelnen, dem jämmerlichen Untertanen, eine Botschaft. Und schon hat sich der Bote auf den Weg gemacht:
… ein kräftiger, ein unermüdlicher Mann; einmal diesen, einmal den andern Arm vorstreckend, schafft er sich Bahn durch die Menge; findet er Widerstand, zeigt er auf die Brust, wo das Zeichen der Sonne ist; er kommt auch leicht vorwärts, wie kein anderer. Aber die Menge ist so groß; ihre Wohnstätten nehmen kein Ende. Öffnete sich freies Feld, wie würde er fliegen und bald wohl hörtest du das herrliche Schlagen seiner Fäuste an deiner Tür. Aber statt dessen, wie nutzlos müht er sich ab; immer noch zwängt er sich durch die Gemächer des innersten Palastes; niemals wird er sie überwinden; und gelänge ihm dies, nichts wäre gewonnen; die Treppen hinab müsste er sich kämpfen; und gelänge ihm dies, nichts wäre gewonnen; die Höfe wären zu durchmessen; und nach den Höfen der zweite umschließende Palast; und wieder Treppen und Höfe; und wieder ein Palast; usw. durch Jahrtausende; und stürzte er endlich aus dem äußersten Tor – aber niemals, niemals kann es geschehen liegt erst die Residenzstadt vor ihm, die Mitte der Welt, hochgeschüttet voll ihres Bodensatzes. Niemand dringt hier durch und gar mit der Botschaft eines Toten. – Du aber sitzt an deinem Fenster und erträumst sie dir, wenn der Abend kommt.
Erklären zu wollen, wie und warum einen diese Worte ansprechen, wie es dazu kommt, dass man auf einmal selbst der am Fenster Sitzende ist, wie die alptraumartige Weite des kaiserlichen Palastes, aber auch die Stille des Abends plötzlich zu einer inneren Wirklichkeit wird, wäre ein nutzloser Versuch, von dieser Sprache in eine andere zu übersetzen, die bestenfalls sezieren, aber nicht evozieren kann1.
Wir haben es also mit zweierlei Sprachen zu tun. Die eine, in der zum Beispiel dieser Satz selbst abgefasst ist, ist objektiv, definierend, zerebral, logisch, analytisch; es ist die Sprache der Vernunft, der Wissenschaft, Deutung und Erklärung, und daher die Sprache der meisten Therapien. Die andere, derer sich die drei obigen Beispiele bedienen, ist viel schwieriger zu definieren, eben weil sie nicht die Sprache der Definition ist. Man könnte sie die Sprache des Bildes, der Metapher, des Pars pro Toto, vielleicht des Symbols, jedenfalls aber der Ganzheit (und nicht der analytischen Zerlegung) nennen.
Bekanntlich macht die Psychologie des Denkens eine ähnliche Unterscheidung zwischen dem sogenannten gerichteten und ungerichteten Denken. Ersteres folgt den Gesetzen der Logik der Sprache, also ihrer Grammatik, Syntax und Semantik. Das ungerichtete Denken dagegen liegt Träumen, Fantasien, dem Erleben der Innenwelt und dergleichen zugrunde. Es ist ungerichtet nur im Vergleich zum gerichteten Denken, denn es hat seine eigenen, «unlogischen» Regeln und Gesetzmäßigkeiten, die sich unter anderem in Witz, Wortspiel, Kalauer, Innuendo und Verdichtung ausdrücken.
Auch in der Linguistik und der Kommunikationsforschung besteht eine fast identische Zweiteilung; nämlich die in digitale und analoge Modalitäten. Zum Ausdruck eines bestimmten Sinnes, einer Bedeutung, besteht entweder die Möglichkeit der Darstellung durch eine Bezeichnung, die mit dem Bezeichneten eine rein willkürliche (aber von allen Zeichenbenützern notwendigerweise anerkannte) Beziehung hat. Ein einfaches Beispiel ist ein beliebiges Wort auf dieser Buchseite: zwischen ihm und seiner Bedeutung besteht kein unmittelbar naheliegender und direkt verständlicher Zusammenhang, sondern nur die stillschweigende Übereinkunft, dass diese Folge von abstrakten Zeichen (bzw. im Falle des gesprochenen Wortes, von Lauten) im Deutschen eben diese Bedeutung hat. Für diese Form der Darstellung wird der aus der Mathematik übernommene Fachausdruck digital verwendet. Die andere Möglichkeit besteht in der Verwendung von Zeichen, die zu dem von ihnen Bezeichneten eine unmittelbare Sinnbeziehung haben, indem sie eine Analogie, also eine gewisse Bildhaftigkeit, darstellen. Beispiele sind die Landkarte in ihrer Beziehung zum dargestellten Land (die aufgedruckten Bezeichnungen natürlich ausgenommen), Bilder und bildhafte Zeichen aller Art (obwohl, wie z. B. im Falle der chinesischen Schrift, rein bildhafte Zeichen durch langsame Stereotypisierung digitalisiert werden können), echte Symbole (also nicht nur allegorische Darstellungen), wie sie sich z. B. in Träumen spontan ergeben, onomatopoetische Wörter (wie krachen, plätschern, prasseln und zahllose andere), Pars pro Toto Darstellungen (in denen gewisse Einzelheiten sozusagen für die Ganzheit stehen), und so weiter.
Die Tatsache des Bestehens dieser beiden «Sprachen» legt die Vermutung nahe, dass ihnen zwei grundsätzlich verschiedene Weltbilder entsprechen müssen, denn bekanntlich spiegelt eine Sprache ja nicht so sehr die Wirklichkeit wider, als sie eine Wirklichkeit erschafft2. Und so sehen wir, wie durch die Jahrtausende der Geistesgeschichte, durch Philosophie, Psychologie, bildende Kunst, Religion, und selbst die angeblich objektiven Naturwissenschaften sich diese Zweiteilung zieht – viel öfters als ein Schisma, denn als harmonische Abgestimmtheit. Man denke z. B. an C. G. Jungs Typenlehre [60], in der sich die Gegensatzpaare Denken-Fühlen, bzw. Wahrnehmung-Intuition, diametral gegenüberstehen. In ihr drücken sich zwei Formen der Wirklichkeitserfassung aus, nämlich ein logisch-methodisches, schrittweise sich aufbauendes Vorgehen, das u. U. den Wald vor den Bäumen nicht sieht, und andererseits ein global-holistisches Erfassen von Ganzheiten, von Gestalten, das den Einzelheiten recht hilflos gegenübersteht – also die Bäume vor lauter Wald nicht sieht. Es scheint dem Genie Vorbehalten, diese zwei antagonistischen Erfassungsweisen integrieren zu können: «Das Resultat hatte ich schon», soll Gauss einmal bemerkt haben, «jetzt musste ich nur noch die Wege entdecken, auf denen ich zu ihm gelangt war.». In diese Äußerung sind zwei wichtige Tatsachen hinein verkapselt: erstens die für uns mathematische Laien fast unglaubliche Tatsache, dass genialen Mathematikern das Resultat kompliziertester Probleme nicht selten von vornherein «irgendwie» unmittelbar klar ist, und das Problem dann im methodischen Nachweis der Richtigkeit des a priori erfassten Resultats liegt3, und zweitens, dass – wie man sich leicht vorstellen kann – sich ein Schisma zwischen analytischen und intuitiven Strömungen durch die Philosophie und Epistemologie der Mathematik zieht. Ein nicht weniger tiefer Graben trennt in den Hochreligionen die Orthodoxie von der Mystik: Auf der einen Seite steht hier der Glaube, das Wort Gottes sei dem Einzelnen nur über das Mittlertum der Priester und der heiligen Bücher zugänglich; auf der anderen Seite die kompromisslose Haltung der Enfants terribles der Orthodoxie, der Mystiker, die sich über Liturgie und ein für allemal verpflichtend festgelegte Offenbarung hinwegsetzen, um Gott «von Angesicht zu Angesicht» zu schauen.
All dies ist seit langer Zeit wenigstens empirisch bekannt. In den letzten Jahrzehnten erhielten diese Erfahrungstatsachen jedoch eine unerwartete wissenschaftliche Untermauerung durch die Ergebnisse der modernen Hirnforschung. Wir haben es hier mit einem jener seltenen Fälle zu tun, in denen uns die exakte...