DER STOFFWECHSEL DER KREBSZELLE
Lange Zeit gingen Medizin und Wissenschaft davon aus, dass es im Hinblick auf bösartige Krebsgeschwüre keinen kleinsten gemeinsamen Nenner gibt. Man vertrat die Meinung, dass für jedes Karzinom eine eigene Therapie nötig sei. In den letzten Jahren hat sich jedoch zunehmend herauskristallisiert, dass sich in allen der heute bekannten 230 Krebsarten bestimmte Genmutationen nachweisen lassen, die den Stoffwechsel der Krebszellen auf identische Weise verändert haben. Daher sind immer mehr Krebsforscher der Meinung, dass Krebs vor allem durch den Stoffwechsel beeinflusst wird. Denn unabhängig davon, was die Bildung von Tumorzellen auslöst: Damit aus ihnen aggressive Krebszellen werden, verändern sie ihren Stoffwechsel. Die Tumorzellen gewinnen daraufhin die zum Wachstum nötige Energie nicht mehr wie bisher durch Verbrennung, sondern durch Vergärung. Dieser Mechanismus der Veränderung ist in allen Krebszellen identisch.
UNTERSCHIEDLICHE WEGE DER ENERGIEGEWINNUNG
Rund um die Uhr laufen in unserem Körper unzählige Stoffwechselaktivitäten ab. Damit die Zellen ausreichend mit Energie versorgt werden können, müssen die Nährstoffe, die wir mit der Nahrung zu uns nehmen, in den Mitochondrien (Energiekraftwerke der Zellen) verbrannt werden. Die Mitochondrien funktionieren im Prinzip wie kleine Brennstoffzellen: Indem sie Wasserstoff mithilfe von Sauerstoff zu Wasser verbrennen, setzen sie die benötigte Energie frei. Die Verbrennung ist eine äußerst effektive Form der Energiefreisetzung, weil die Brennstoffe vollständig verstoffwechselt werden und damit der größtmögliche Energiegewinn erzielt wird. Daher wird der überwiegende Teil der Energie, die für die Aufrechterhaltung unserer lebensnotwendigen Körperfunktionen benötigt wird, auf diese effiziente Art freigesetzt.
Energiegewinnung mit und ohne Sauerstoff
Um dem Organismus den für die Verbrennung nötigen Sauerstoff zur Verfügung zu stellen, atmen wir ununterbrochen ein und aus. Ohne Atemluft würde der Körper bereits nach wenigen Minuten zusammenbrechen und wie eine Flamme unter einem Glas ersticken. Doch auch wenn wir beschleunigt atmen und viel Sauerstoff in die Lungen pumpen (Hyperventilation), kann es im Körper zu einer kurzfristigen Sauerstoffunterversorgung kommen. Dies ist zum Beispiel der Fall, wenn wir sehr schnell rennen und nicht ausreichend Sauerstoff in die Zellen unserer Muskulatur gelangt. Die Muskeln benötigen dann einfach mehr Energie, als über die Verbrennung freigesetzt werden kann, Sauerstoff ist damit der begrenzende Faktor.
DAS HERZ IST FIXIERT AUF DIE VERBRENNUNG
Aufgrund der räumlichen Nähe zur Lunge sind die Zellen des Herzmuskels immer ausreichend mit Sauerstoff versorgt. Daher ist es für sie auch nicht notwendig, auf Vergärung umschalten zu können. Ein positiver »Nebeneffekt«: Die Entstehung von Herzmuskelkater sowie von Herzkrebs wird vermieden. Es gibt zwar zuweilen gutartige Tumoren am Herzen. Die Herzkrebsrate aber ist so niedrig, dass fast niemand daran stirbt.
Dieser Einschränkung entgegnet der Organismus zumindest teilweise mit einem Trick:
Sobald die Muskelzelle nicht genügend oder keinen Sauerstoff mehr zur Verfügung hat, schaltet sich als Notprogramm eine sauerstoffunabhängige Energiegewinnung ein: die Vergärung. Sie versorgt die Zellen sofort mit neuer Energie. Dazu muss die Zelle auf den schnell verfügbaren Zucker (Glukose) aus der Nahrung zurückgreifen. Er kann im Gegensatz zu Fett nicht nur verbrannt, sondern auch vergoren werden.
Bei der Vergärung entsteht in den Zellen Milchsäure, die über die Blutbahn in die Leber gelangt, wo sie unter Energieaufwand wieder zu Glukose (Zucker) umgebaut und dann zu den Zellen zurücktransportiert wird. Sobald wieder ausreichend Sauerstoff zur Verfügung steht, wird die Vergärungsreaktion gestoppt. Die Zellen gewinnen die Energie dann wieder wie gewohnt durch Verbrennung in den Mitochondrien.
Ein dritter Weg zur Energiegewinnung
Bereits 1924 hatte der deutsche Biochemiker und Mediziner sowie spätere Nobelpreisträger Otto Warburg (1883 – 1970) nachgewiesen, dass für den Zuckerstoffwechsel von Karzinomen typisch ist, dass Glukose auch in Anwesenheit von Sauerstoff zu Milchsäure vergoren wird (aerobe Glykolyse/Warburg-Effekt). Warburg vermutete als Ursache dafür eine mitochondriale Störung der Zelle und sah darin die eigentliche Krebsursache. Bis zu seinem Tod wurde Warburgs Theorie zur Krebsentstehung von den meisten Krebsforschern negiert. Über viele Jahrzehnte änderte sich daran nichts.
Erst die Entdeckung des TKTL1-Gens 1995 im Rahmen eines Genomanalyseprojekts, initiiert von Nobelpreisträger Professor Harald zur Hausen, und die Entdeckung im Jahr 2005, dass das TKTL1-Gen die biochemische Basis des Warburg-Effekts darstellt, ermöglichte mir eine neue Erklärung für die Vergärung trotz Sauerstoffs.
MILCHSÄURE
Bestimmt haben Sie die Folgen einer Muskelübersäuerung durch Milchsäure schon am eigenen Leib gespürt: Wenn Sie im anaeroben (sauerstoffarmen) Bereich trainieren, sich also sehr schnell bewegen oder sehr viel Kraft einsetzen, schaltet der Körper aufgrund der unzureichenden Sauerstoffversorgung auf Vergärung um. Die anfallende Milchsäure verursacht gemeinsam mit winzigen Verletzungen der Muskelfasern Muskelkater.
VERGÄRUNG IST NICHT GLEICH VERGÄRUNG
TKTL1 ist eine Genkopie des normalen Transketolase-Gens (TKT), das im Lauf der Evolution einschneidende Mutationen erfahren hat. Dadurch ist eine neue Stoffwechselreaktion möglich, bei der aus Glukose Milchsäure und Acetyl-Coenzym A gebildet werden können (TKTL1-Stoffwechsel). Die von dem TKTL1-Gen gesteuerten biochemischen Reaktionen sind die Grundlage eines Stoffwechsels, der eine Schutzfunktion ausübt, indem die Radikalbildung (Radikale sind aggressive Sauerstoffmoleküle) und die Apoptose (programmierter Zelltod) unterdrückt werden.
Die schützende Rolle des TKTL1-Gens wurde durch Studien eindrucksvoll unter Beweis gestellt. So führt ein Fehlen des TKTL1-Stoffwechsels zu erhöhter Radikalproduktion und DNA-Schäden und in deren Folge zu einer schnellen Alterung des Menschen (Werner-Syndrom). TKTL1 spielte ferner eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung von kognitiven Fähigkeiten des Homo sapiens; es gehört damit zu den fünf wichtigsten Genen des Menschen. Im Service auf > finden Sie Links zu verschiedenen aktuellen wissenschaftlichen Studien, die die immense Rolle von TKTL1 bestätigen.
Krebszellen können sich schützen
TKTL1 und die von ihm gesteuerte biochemische Reaktion ist, anders als von Warburg postuliert, aber nicht die Ursache für Krebs, sondern ein genereller Schutzmechanismus in allen Körperzellen, nicht nur in Krebszellen. Die Umschaltung auf den TKTL1-Stoffwechsel ermöglicht ihnen nämlich, sich vor Radikalen, DNA-Schäden und Zelltod zu schützen. Deshalb nutzen besonders empfindliche Körperzellen wie zum Beispiel die Keimzellen (Hoden), die Netzhautzellen (Retina), die Nervenzellen (Neuronen, Gehirn) oder die Zellen der Blutgefäße (Endothelzellen) diesen Stoffwechsel zur Energiegewinnung.
Auch Tumorzellen können diesen Stoffwechsel aktivieren und so zu aggressiven Krebszellen werden, die nur schwer abgetötet werden können. Denn was bei gesunden Zellen gewollt ist, ist aus Sicht der Tumorzelle ebenfalls richtig. Sie schützt sich vor Radikalen, DNA-Schäden und dem Zelltod und wird damit unempfindlich (resistent) gegen Strahlen- und Chemotherapien.
Dabei gibt es unterschiedliche Auslöser, die zu einer Umschaltung der Energiegewinnung auf den TKTL1-Stoffwechsel führen. Zum einen kann diese durch eine Unterversorgung mit Sauerstoff ausgelöst werden. Liegt eine Zelle nur einen zehntel Millimeter von einem Sauerstoff transportierenden Blutgefäß (Kapillargefäß) entfernt, besteht bereits das Risiko für eine gefährliche Sauerstoffunterversorgung. Damit die von den Blutgefäßen abgewandten Tumorzellen nicht absterben, schalten sie ihre Energiegewinnung daher einfach auf den sauerstoffunabhängigen TKTL1-Stoffwechsel um.
Studien haben des Weiteren gezeigt, dass sogar Strahlen- und Chemotherapien eine Umschaltung der Energiegewinnung auf den TKTL1-Stoffwechsel auslösen können. Daher ist bei ihrem Einsatz unbedingt darauf zu achten, dass alle Krebszellen abgetötet werden. Sonst besteht die Gefahr, dass Krebszellen den TKTL1-Schutzmechanismus aktivieren, resistent werden und damit nicht mehr abgetötet werden können. Und das wäre genau das Gegenteil dessen, was man mit der Behandlung erreichen will.
Inzwischen gibt es zwar auch moderne, zielgerichtete Therapien, die die Blutgefäßbildung und so die Versorgung des Tumors mit Nährstoffen und Sauerstoff hemmen – und damit sein Wachstum. Diese Strategie funktioniert zunächst auch sehr gut. Nach einer gewissen Zeit jedoch entwickelt der Tumor nicht nur eine Resistenz, sondern wächst sogar noch schneller und aggressiver als zuvor. Der Grund: Er wird durch die Abkapselung von der Saiuerstoffversorgung förmlich dazu gezwungen, auf einen sauerstoffunabhängigen Stoffwechsel (TKTL1-Stoffwechsel) umzuschalten. Da das Endprodukt dieses Stoffwechsels (Milchsäure) das gesunde umgebende Gewebe zerstört, wächst der Tumor dann invasiv, wird zum Krebsgeschwür und bildet durch die sich über die Blutbahn ausbreitenden Krebszellen Fernmetastasen. Gleichzeitig hemmt die vom TKTL1-Stoffwechsel gebildete Milchsäure den Angriff des körpereigenen Immunsystems. Es wird also ein Prozess in Gang gesetzt, der die Gesundheit massiv bedroht.
DER TKTL1-STOFFWECHSEL UNTERSTÜTZT KREBSZELLEN
Mit der Umschaltung auf den TKTL1-Stoffwechsel haben Krebszellen gleich mehrere Vorteile....