2. Emotionale Sicherheit in einer Welt der verunsicherten Sexualität
In Shades of Grey geht es also um eine junge Frau, Anastasia Steele, die zu Beginn der Handlung gerade ihr Studium abschließt und vor einer Karriere in der Verlagsbranche steht. Vor allem aber verfolgen wir mit, wie sie ihre ersten sexuellen Erfahrungen macht und ihre erste große Liebe erlebt, als sie eine Beziehung mit einem Mann eingeht, der eine ausgesprochen exquisite Form von SM-Sex praktiziert. Alle drei Bände werden aus ihrer Perspektive erzählt, so daß wir ihre Gedanken und ihre Gefühle für Christian Grey aus erster Hand kennenlernen. Der erste (und bislang erfolgreichste) Band dreht sich um die Frage, wer dieser mysteriöse und furchtbar attraktive Mann überhaupt ist. Teil zwei der Trilogie handelt von der Entdeckung ihrer tiefen Gefühle und Hingabe füreinander und endet damit, daß Grey Ana einen Heiratsantrag macht. Enthüllt wird darüber hinaus, daß die leibliche Mutter des stets beherrscht und souverän auftretenden Unternehmers eine kokainabhängige Prostituierte und daß sein Vater gewalttätig war; zudem erfahren wir, daß Grey als Adoptivkind in einer liebevollen und gutsituierten Familie aufgewachsen ist. Der dritte Band schildert das Eheleben der beiden sowie Anas Ringen darum, ihre Autonomie zu bewahren, nachdem Christian den Verlag gekauft hat, in dem sie mittlerweile arbeitet.
Ein Frauenroman
Bei Shades of Grey haben wir es mit einem Frauenroman zu tun, der von einer Frau geschrieben wurde, als Frauenroman beworben, in erster Linie von Frauen gelesen und zweifellos eher von Frauen als von Männern goutiert wird. Ein in London lebender Deutscher, den ich nach seiner Einschätzung gefragt hatte, mailte mir zurück:
»Meine Freundin war fasziniert von dem Buch und sagte mir: ›Alle Männer sollten es lesen, um zu begreifen, was Frauen von einem Mann wollen.‹ Ich überflog ein paar Seiten, legt es beiseite und war sprachlos. Etwas so schlecht Geschriebenes ist mir kaum je untergekommen, und bei der Handlung stehen einem die Haare zu Berge.«
In einem im Internet veröffentlichten Artikel heißt es:
»Die Bondage-Romanze 50 Shades of Grey steht seit zehn Wochen an der Spitze der New York Times-Bestsellerliste, an zweiter und dritter Stelle gefolgt von ihren beiden Fortsetzungen. Sie ist bei Frauen ausgesprochen beliebt, besonders bei Müttern, was so manchen dazu verführt hat, sie (je nach Sichtweise abschätzig oder bewundernd) als ›Mamiporno‹ zu bezeichnen.«54
Repräsentativ für viele weibliche Reaktionen scheint mir folgender Eintrag zu sein, den eine Nutzerin in einem Buchblog gepostet hat:
»Mir hat 50 Shades of Grey immerhin so gut gefallen, daß ich mir auch den Folgeband zulegte, ohne freilich im Traum daran zu denken, daß ich mal 100 Zeilen schreiben würde, um den Roman zu verteidigen. Vielleicht verteidige ich ja auch nur mich und andere Frauen, die ihn gelesen haben, ohne wütend zu werden, die ihn vielleicht sogar toll fanden oder was auch immer. Daß so viele Leute wegen dieses Buches die Augen verdrehen, erinnert mich nämlich stark an die üblichen Angriffe auf Frauen und das, was Frauen mögen, sowie daran, wie oft unsere Fähigkeit, zu wissen, was wir wollen, unterschätzt wird.«55
Kein Zweifel: Shades of Grey inszeniert Phantasien, die Frauen von heute offenbar haben.
Was nun macht Shades of Grey inhaltlich zu einem »Frauenbuch«? Zunächst einmal ist der Roman auf einem Terrain angesiedelt, das Frauen höchst vertraut ist. Seit dem 18. Jahrhundert und insbesondere im 19. Jahrhundert haben Liebes- und Familienromane der weiblichen Sehnsucht nach Liebe und einem glücklichen Eheleben Ausdruck verliehen; den Hintergrund dieser Suche bildete dabei die Institutionalisierung der Privatsphäre und der emotionalen Familie – verstanden als eine soziale Einheit, deren Zweck darin besteht, emotionale Bindungen zwischen ihren Angehörigen zu stiften und aufrechtzuerhalten. Solche Romane bedienen sich einer Formel, die ihrer weiblichen Leserschaft Vergnügen bereitet: Die Heldin begegnet einem attraktiven, jedoch finsteren und bedrohlich wirkenden Mann, von dem sich erst im Lauf der Zeit herausstellt, daß er sie liebt und ihr treu ergeben ist. Der Prototyp dieses Genres, das Samuel Richardson mit seinem Bestseller Pamela aus dem Jahr 1740 begründet haben dürfte, ist Charlotte Brontës Roman Jane Eyre. Shades of Grey bietet eine fast schon karikaturistische Variante dieser Geschichte und ihrer Motive: Die unschuldige und tugendhafte, dabei aber eigensinnige junge Frau arbeitet für einen reichen Mann, der sich ihr gegenüber zunächst in einer Weise verhält, die sie als verletzend empfindet. Nach und nach offenbart der Roman jedoch seine schwierige Vergangenheit, seine eigene Verletzlichkeit und seine bedingungslose Hingabe für die Protagonistin.
Die zweite Hinsicht, in der dieser Roman auf Frauen zugeschnitten ist, besteht in der plastischen Darstellung sexueller Praktiken, die sich im Rahmen einer konventionellen heterosexuellen Beziehung abspielen und deren Schilderung in erster Linie auf Frauen zielt, die im Haushalt Verantwortung tragen (»Mamiporno«). Zwar ist das Genre des »Mamipornos« zweifellos vor dem Hintergrund der »Pornographisierung« der Kultur (der Tatsache also, daß Pornographie gesellschaftsfähig wird) sowie des zunehmenden Pornographiekonsums von Frauen zu sehen;56 nichtsdestotrotz blenden Begriffe wie »Mamiporno« und »Pornographisierung« die komplexe kulturelle Struktur der weiblichen Sexualität aus: Diese dient schließlich nicht nur der Lust, Freiheit oder Macht von Frauen, sondern auch der Identitäts(er)findung und der Gestaltung enger und intimer Beziehungen. Drehten sich die Romane des 19. Jahrhunderts um die Selbstfindung junger Frauen durch die Liebe, so fragen heutige populäre Texte für eine weibliche Leserschaft, was es über sich selbst zu entdecken gibt, wenn Frauen ein aktives Sexleben pflegen, das sich nicht im Rahmen einer Ehe abspielt oder zu deren Anbahnung dient. Im Zuge der sexuellen Befreiung konnten sich Frauen ihre Sexualität auf vielfältigen Wegen als einen positiven und moralisch nicht weiter problematischen Aspekt ihrer Identität »zurückerobern«. (Man denke nur an den weltweiten Erfolg von Eve Enslers Vagina-Monologen als unmittelbaren Ausdruck dieser Rückeroberung des eigenen Körpers und der eigenen Sexualität; auch Naomi Wolfs neues Buch Vagina. Eine Geschichte der Weiblichkeit scheint an diese Entwicklung anzuschließen.) Shades of Grey läßt sich ohne Zweifel ebenfalls diesem Trend zurechnen; das Buch befolgt insofern die legendäre Aufforderung der feministischen Publizistin Germaine Greer: »Lady, liebe deine Möse.«57 Eine solche Rückgewinnung der eigenen Körperlichkeit und Sexualität steht jedoch in einer Wechselwirkung (oder im Konflikt) mit der traditionell »dichten« sozialen Welt der Frau, die sich aus ihren Empfindungen, Verpflichtungen und familiären Bindungen zusammensetzt. Für Frauen ist die sexuelle Freiheit auf komplexe Weise mit der Sehnsucht nach Intimität verschränkt, was Fragen aufgeworfen hat, die die weibliche Populärkultur der letzten fünfzig oder sechzig Jahre durchziehen: Worin besteht der Wert einer freien Sexualität? In welcher Form kann und soll sie gelebt werden? Und wo liegen ihre Grenzen? So geht es beispielsweise in der weltweit ausgestrahlten Kultserie Sex and the City (und das gilt auch für die neuere, vor allem in den USA ausgesprochen populäre HBO-Serie Girls) gerade darum, auszuloten, wie denn eine »weibliche Perspektive« auf die Sexualität aussehen könnte. Wenn Shades of Grey ein Frauenroman ist, dann genau in dem Sinn, daß die Sexualität für Frauen sowohl ein Ort der Selbsterkenntnis und Identitätsfindung als auch ein Problem ist. Stärker als die der Männer ist die Sexualität moderner Frauen in den Spannungen zwischen der sexuellen Freiheit und der traditionellen Sozialstruktur der Familie, zwischen dem Gebot des individuellen Genusses und dem der Pflichterfüllung im Haushalt gefangen. Aus diesem Grund läßt sich Shades of Grey nicht umstandslos und ausschließlich als »Mamiporno« charakterisieren – es sei denn, man ginge von der naiven Annahme aus, die Liebesgeschichte diene lediglich dazu, die Sexszenen ins rosafarbene Papier der Gefühle einzuwickeln. In Wirklichkeit ist jedoch das Gegenteil der Fall: Der Sex stellt die Verpackung dar, in der sich die Liebesgeschichte verbirgt. Denn wenn es etwas gibt, das sich in der neuen Kultur der sexuellen Autonomie nur noch schwer eingestehen läßt, dann ist das die Phantasievorstellung von der absoluten Liebe.
Für Nichtsoziologen ist Sex der sündige oder lustvolle Akt, den wir in der Privatheit unserer Schlafzimmer vollziehen. Für Soziologen hingegen bilden Geschlecht und Sexualität eine Achse, um die herum die Gesellschaftsordnung organisiert ist, eine Achse, die Menschen in spezifischen und berechenbaren Mustern aneinanderbindet oder auseinanderdividiert. Das Thema ist ein zentraler Gegenstand für die Disziplin, weil Sex einer gesellschaftlichen Regulierung unterliegt, die mit bloßem Auge nicht zu erkennen ist. Im sexuellen Akt verkörpern und reproduzieren wir zugleich soziale und kulturelle Strukturen, insofern die Sexualität Antworten auf Fragen wie die folgenden einschließt: Mit wem darf man Sex haben und mit wem nicht? In welchem Verhältnis stehen lustvoller Sex und biologische Fortpflanzung? Wer hat die Macht? (So galt ein freier griechischer Mann im Altertum als moralisch minderwertig, wenn er anal von einem Sklaven...