Wie erforscht man Protest?
Forschungsdesign und Methodik
Stephan Klecha/Stine Marg/Felix Butzlaff
Wer protestiert, fällt auf. Denn Widerstand wird nicht im Stillen artikuliert, sondern meist laut und öffentlich – vor den Rathäusern, auf den Straßen und Marktplätzen. Schon deshalb sind die Protestbürger der vergangenen Jahre kaum zu übersehen gewesen. Man hört und liest von ihnen und von ihren Anliegen beinahe tagtäglich, wobei das Wissen über ebendiese Bürger auf den Barrikaden und ihren Protestformationen erstaunlich gering ist. Daher: Wie erforscht man Protest?
Zunächst einmal können politische Teilnahme im Allgemeinen und Protest im Besonderen als Symptome einer Legitimations- und Partizipationskrise des politischen Systems begriffen werden oder – positiv gewendet – als Ausdruck der politischen Emanzipation und somit als Potenzial für eine demokratische Revitalisierung verstanden werden. Darüber hinaus gilt: Politische Partizipation ist anstrengend. Und deswegen erzielen vergleichsweise einfach zu realisierende Maßnahmen wie die Teilnahme an Wahlen, die Diskussion im Freundes- oder Bekanntenkreis oder die Eingabe einer Petition unverändert hohe bis höchste Beteiligungswerte. Demgegenüber ist politisches Engagement abseits von Wahlen mit größerem Aufwand und zahlreichen Hürden verbunden und wird demzufolge von deutlich weniger Menschen regelmäßig wahrgenommen.1 So verlangen alle Formen der politischen Mitwirkung jenseits der einfachen Aktivitäten den Beteiligten ein höheres Maß an Verbindlichkeit ab und setzen mitunter andere Ressourcen und auch Fähigkeiten voraus.2 Bei genauerer Betrachtung der Entwicklung in Deutschland ergibt sich gegenwärtig ein zweischneidiges Bild: Während die Wahlbeteiligung rückläufig ist, nimmt der Grad des Engagements in anderen Bereichen stetig zu und verändert sich zugleich. Spiegelbildlich dazu schwindet die Legitimität der durch Wahlen gestützten repräsentativen Demokratie, ohne dass neue Legitimitätsdepots bislang dafür einen Ersatz schaffen können.
Doch die Krise der Repräsentation muss nicht zwangsläufig zur Krise der Demokratie erklärt werden. Man kann die wachsende Bereitschaft, sich jenseits des Wahlakts politisch einzusetzen, auch als mögliches Element der Neubelebung von Demokratie begreifen. Wenn die repräsentative Demokratie hinterfragt wird und bürgerschaftliches Engagement sich dezidiert mit politischen Anliegen hervortut, so steckt darin ein immenses Potenzial der demokratischen Emanzipation. Aber das hat ebenfalls eine Kehrseite: je anspruchsvoller die politische Partizipation an sich, desto ungleicher die Teilhabe.3 Eben weil die komplexeren Angebote und Forderungen ganz bestimmte individuelle Ressourcen voraussetzen, findet auf dieser Ebene eine soziale Ausgrenzung der Teilhabenden statt, die vielleicht nicht so viel Wissen einbringen können.
Ob diese Feststellungen für die Initiatoren der Anti-ACTA-Demonstrationen (ACTA = Anti-Produktpiraterie-Handelsabkommen), Occupy-Camper oder die Proteste gegen Windkraftanlagen Geltung beanspruchen darf, ist eine Frage der vorliegenden Studie.
Dazu müssen die Bedingungen betrachtet werden, aus denen heraus eine Unzufriedenheit mit dem politischen System, mit seinen Leistungen oder Strukturen entsteht, und wie dieses dann in politische Aktion und zivilgesellschaftlichen Protest umschlägt. Und: welche Vorstellungen von Gesellschaft und Demokratie in den Protestformationen präsent sind, welche Aufgaben die Aktivisten den Parteien und Politikern zuschreiben, welche Erwartung sie an «die Politik» haben und welche Rolle sie «der Wirtschaft» zugestehen – all das ist nicht unbedeutend, wenn man über Wirkung und Folgen des gegenwärtigen Protests und des latent vorhandenen Protestpotenzials in unserer Gesellschaft nachdenkt. Weil seit einiger Zeit das bürgerschaftliche Engagement «außerhalb der konventionelle(n) Organisationsverfassungen und -formen»4 wächst, ist diese Fragestellung gerade im Zusammenhang mit dem gegenwärtigen Protestsektor zu erforschen. Zu klären ist dabei, unter welchen Umständen der Einzelne bereit ist, Energie, Herzblut, Zeit und Geld im politischen Feld für eine ihm dringliche und wichtig erscheinende Frage aufzuwenden.
Proteste an sich sind kein neues Phänomen in der bundesrepublikanischen Gesellschaft. Noch vor den studentischen Protestkampagnen der späten sechziger Jahre gab es beispielsweise Demonstrationen gegen die Nutzung der Atombombe («Kampf dem Atomtod») oder die ersten Ostermärsche. Nach der Spiegel-Affäre 1962, bei der die Öffentlichkeit sich für die Pressefreiheit einsetzte, rollte bereits eine regelrechte Protestwelle durch das Land. Und auch der vermeintliche Höhepunkt 1968 stellt sich im Rückblick eher als Ouvertüre einer anhaltenden Protestgesellschaft dar, als die sich die Geschichte der Bundesrepublik ebenfalls deuten ließe: von den Anti-AKW-Demonstrationen über die Bewegung gegen den NATO-Doppelbeschluss bis hin zu den Massenkundgebungen gegen den Golfkrieg – um nur einige Ereignisse zu nennen. Wenn man die ostdeutsche Friedensbewegung und natürlich die Umbrüche vom Herbst 1989 einbezieht, kann man Protest sogar als eine gesamtdeutsche Erfahrung auffassen. Demzufolge stellt das Thema mittlerweile auch ein eigenes Forschungsfeld innerhalb der Sozialwissenschaften dar. Diese Disziplinen operieren, um Protest, Demonstrationen, Partizipationsbegehren und Ähnliches zu fassen, vorzugsweise mit der Begrifflichkeit der «sozialen Bewegung» und skizzieren diese als ein «Netzwerk von Gruppen und Organisationen, gestützt auf eine kollektive Identität, eine gewisse Kontinuität des Protestgeschehens … das mit dem Anspruch auf Gestaltung des gesellschaftlichen Wandels verknüpft ist …».5 Es stehen also Kollektivakteure und Protestnetzwerke mit ihrer geteilten Identität, dem Mobilisierungspotenzial und Deutungsstrategien im Forschungsfokus, während die individuelle Ebene, die biographische Prägung der Akteure und ihre Motivation vernachlässigt werden.6 In diese Lücke wollen wir mit unserem Forschungsprojekt stoßen und so zu einer umfassenden Erklärung des Protestes beitragen.
Aus dieser Perspektive ist unsere Untersuchung auch ein Beitrag zum Stand der Protestforschung in der Bundesrepublik. Wir erfassen Protest nicht mit quantitativen Methoden oder mittels der Auswertung von Polizei- und Zeitungsberichten,7 sondern nähern uns dem Feld mit einer breiten qualitativen Studie. Wir führten Gespräche mit zentralen Akteuren und Aktivisten (insgesamt achtzig Einzelinterviews) und arrangierten achtzehn Gruppendiskussionen mit jeweils sechs bis elf Teilnehmern. In diesen zwei bis drei Stunden dauernden Gesprächsrunden konfrontierten wir die Gesprächspartner mit Szenarien, Plan- und Kreativspielen, um ihre latenten Einstellungen und Werthaltungen herauszufiltern. Aus diesen Interviews und Fokusgruppen ergaben sich circa 1300 Seiten transkribiertes Material, das dann analytisch aufgearbeitet und verdichtet wurde. Somit konnten neueste und hochaktuelle Kenntnisse über die Träger des gegenwärtigen zivilgesellschaftlichen Prozesses gewonnen werden. Unsere Stichprobe umfasst insgesamt 200 Personen, deren politische Aktivitäten wir methodisch geleitet in Einzelinterviews, Gruppendiskussionen und mittels teilnehmender Beobachtung verstehend analysiert haben. So können wir – jenseits der pauschalisierenden Diskussionen über den Wutbürger – einen fundierten Einblick in die aktuellen Protestbewegungen bieten.8
Gerade die gegenwärtig so heterogene Protestlandschaft der Bundesrepublik ist allerdings analytisch schwierig zu fassen. Welche Protestzusammenhänge wählt man aus, mit welchen Aktivisten führt man ein Interview, wen lädt man in die Gruppendiskussionen ein, auf welche Veranstaltungen fährt der Sozialwissenschaftler als Beobachter und demzufolge auch: Was bezieht man nicht in die Untersuchung mit ein? Zunächst einmal ist diese Frage ganz pragmatisch zu beantworten: Auch eine Studie dieses Umfangs ist abhängig von Rahmenbedingungen, die das Forscherteam zwingen, abzuwägen, auszuwählen und schließlich zu ignorieren. Vor allem die Betrachtung aktueller Phänomene hängt vom Untersuchungszeitraum ab. Dieser erstreckte sich hier auf die erste Hälfte des Jahres 2012. Ziel des Projekts sollte das Verstehen und Erklären der gegenwärtigen und auch neuen Formen sein, die die gesellschaftspolitische Diskussion seit den Protesten um den Stuttgarter Bahnhof bestimmen. Auch deshalb standen die Aktivisten gegen Bauprojekte und die Hamburger Schulreform, die Organisatoren der Occupy-Camps und der Internetkampagnen in unserem Fokus und weniger die – in der Protestgeschichte schon beinahe etablierten – Ostermärsche, die Aktivitäten der Friedens- sowie Umweltbewegung oder die Demonstrationen gegen Rechtsextremismus.
Eine Ausnahme bilden in diesem Feld die Anti-Atom-Proteste. Wir haben diese jedoch bewusst mit einbezogen, weil die zahlenmäßig starken Demonstrationen seit dem Reaktorunfall im japanischen Fukushima ein aktuelles Phänomen darstellen und gleichzeitig die Aktivisten aus diesem Bereich eine Art Kontrollgruppe unseres Untersuchungsgegenstands repräsentieren. Denn fragt man nach individuellen Antriebskräften für Engagement und Protest, nach biographischen Prägungen, Organisationsformen, Wertefundamenten und politischen Einstellungen, ist davon auszugehen, dass Menschen mit einer langen Karriere als Vorkämpfer in etablierten Konfliktarenen andere Werthierarchien, Präferenzen...