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Ouvertüre:
Der Schwarze Schwan
Der Schwarze Schwan. Die Macht höchst unwahrscheinlicher Ereignisse1 – unter diesem Titel hat der aus alter libanesischer Familie stammende Nassim Nicholas Taleb 2007 ein Buch veröffentlicht, das ihn weltberühmt machen sollte.2 Eigentlich geht es darin nur um die triviale These, daß die Zukunft jede Art von Überraschungen bereit hält. Taleb ist aber mehr als nur ein scharfsinniger Erkenntnistheoretiker und ein mit allen Wassern der Ökonomie, der Psychologie und der Sozialwissenschaften gewaschener Autor. Der hochbegabte Mathematiker hatte, als er seine inzwischen zum Klassiker der Risikoforschung gewordenen Erkenntnisse veröffentlichte, zwanzig Jahre lang an der Wallstreet mit hochkomplexen Derivaten gehandelt, dort ein Vermögen gemacht und sich den Ruf eines Börsengurus erworben. Ein wesentliches Anliegen seines Buches war die Warnung vor einem weltweiten Finanzdebakel, verschuldet durch hochriskante Derivate mit unkalkulierbarem Zerstörungspotential. Fünfzehn Monate später trat genau das mit dem Zusammenbruch des Bankhauses Lehman Brothers ein. Man mußte diesen Theoretiker also ernst nehmen.
Der Schwarze Schwan ist eine Chiffre für die Unvorhersehbarkeit. So wie das unerwartete Auftauchen eines schwarzen Schwans inmitten einer Flottille weißer Schwäne im Tierreich Überraschung auslöst, überrascht uns die geschichtliche Welt immer wieder mit Ereignissen, die als unwahrscheinlich galten, aber doch eintraten. Gemeint sind damit nicht jene Zufälle, die in den vielfach durch Pfadabhängigkeit gekennzeichneten Geschichtsprozessen ständig am Werk sind. Vielmehr bezeichnet die Chiffre Vorgänge, auf die drei Merkmale zutreffen: Erstens sind sie »Ausreißer«, Ereignisse die außerhalb unserer Erfahrung liegen. Nichts, was wir in der jüngsten und ferneren Vergangenheit beobachtet haben, ließ darauf schließen, daß wir zu Lebzeiten mit einem derartigen Vorgang konfrontiert werden könnten. Zweitens haben solche Vorgänge ungeheure Auswirkungen. Sie verändern viele, wenn nicht alle bestehenden Parameter, stoßen uns unversehens in eine neue, völlig unvertraute Geschichtslandschaft und zwingen zur Revision unserer Verhaltensweisen. Drittens sind sie eine Herausforderung für unser historiographisches Verständnis. Wir sehen uns gezwungen, Kausalitäten, Verknüpfungen und die auslösenden Faktoren zu erkennen, die nun offen zutage liegen und die wir zuvor vielleicht lange ignoriert haben. Weigern wir uns jedoch, der neuen Wirklichkeit mit rascher, radikaler Verhaltensänderung zu begegnen, drohen wir zu scheitern.3
Befreit man Talebs Thesen von manchem hochgestochenem Beiwerk, so haben seine Beobachtungen viel Plausibilität für sich. Erfahrungsgemäß erwarten wir, daß nur weiße Schwäne auftauchen. Mit anderen Worten: Wir rechnen mit dem Gewohnten und erliegen nur zu leicht den Vorstellungen von einer rational konstruierten, verläßlich geordneten und entsprechend prognostizierbaren Welt. Bankiers, Versicherungsfirmen, Politiker und viele Wissenschaftler bestätigen uns in diesem Irrtum. Tatsächlich aber macht die Geschichte viel öfter, als wir wahrhaben möchten, völlig unerwartete Sprünge. Heute ist es gerade ihre Sprunghaftigkeit, die den Gang der Dinge bestimmt.
Oft treten schwarze Schwäne als zufällige, zunächst wenig gewürdigte technische Erfindungen auf – der Computer, das Internet, der Laser.4 Sollte man sie als »positive« schwarze Schwäne bezeichnen? Fatal ist hingegen, so meint Taleb, das Auftauchen »negativer« schwarzer Schwäne. Als Beispiele nennt er unter anderem den Ersten Weltkrieg, Firmenzusammenbrüche und natürlich die ihm besonders gut vertrauten Börsencrashs. An die Völkerwanderung des frühen 21. Jahrhunderts hat auch er noch nicht gedacht.
Taleb arbeitet gern mit den Chiffren »Mediokristan« und »Extremistan«.5 Wer sich nicht täuschen läßt, so meint er, müßte eigentlich wissen, daß wir uns heute in Extremistan befinden, also in einer Epoche, in der die Geschichtsströme durch den Einbruch des Unerwarteten zutiefst verändert und umgeleitet werden. Als wesentlichen Grund dafür nennt er die Komplexität der zeitgenössischen Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme, die unvorhersehbare Ereignisse geradezu herbeizwinge. Schon das 20. Jahrhundert war durch Kriegführung im Extremistan-Stil gekennzeichnet. Die interdependente, globalisierte Weltwirtschaft, so konstatiert der skeptische Risikoanalytiker, weist eine »verzahnte Brüchigkeit« auf. Sie erweckt den Anschein von Stabilität, erzeugt aber tatsächlich »verheerende schwarze Schwäne«.6
In Mediokristan werkeln tüchtige, häufig aber phantasielose Politiker, Manager, Beamte, Wissenschaftler, Theologen, Lobbyisten, auch Journalisten und Professoren innerhalb überkommener Institutionen und im festen Glauben an eine überkommene politische Kultur, an die bewährte Unternehmensstrategie oder an vorherrschende philosophische Wertesysteme routiniert vor sich hin, als könne nie ein schwarzer Schwan auftauchen. Solange das tatsächlich nicht geschieht, bewirkt diese Elite manches Nützliche, treibt ihre Machtspielchen, macht die üblichen kleinen oder größeren Dummheiten, erspart aber sich und uns die ganz großen, katastrophalen Fehler. Das mag gutgehen, solange keine schwarzen Schwäne einfliegen.
In Wirklichkeit aber sind diese mediokren, gefahrenblinden Eliten unterwegs nach Extremistan. Denn wenn wider alle Erfahrung ein schwarzer Schwan auftaucht, also ein weitreichendes, unvorhergesehenes Ereignis, fällt ihnen nichts ein, als stoisch und zum Schaden aller an den Verhaltensweisen, Wertvorstellungen und Strategien festzuhalten, die sie sich in Mediokristan angeeignet haben. Doch nun drohen sich ihre kleineren und größeren Dummheiten zu Katastrophen für ihre Länder, Unternehmen oder ganze Zivilisationen auszuwachsen.
Soviel zu der zeitkritischen Erkenntnistheorie Talebs, die nachdenklich macht. Dieser skeptische Empiriker, wie er sich selbst nennt, rät uns, die Illusion von einer steuerbaren Pfadabhängigkeit der modernen Gesellschaftssysteme zu begraben und die Wirklichkeit zu sehen, wie sie tatsächlich ist. Denn allem Anschein nach sind wir in eine Epoche eingetreten, in der sich die schwarzen Schwäne nur so tummeln. Nach den schlimmen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts mit seinen furchtbaren Katastrophen hatten wir uns das 21. Jahrhundert eigentlich ganz anders vorgestellt – ein Zeitalter des Ausgleichs, friedlich, zivilisiert, vom Völkerrecht und dem Glauben an universelle Menschenrechte eingehegt und im permanenten Dialog kompromißbereiter Regierungen sowie toleranter Religionen. Doch kaum war das Feuerwerk abgebrannt, mit dem die Menschheit den Eintritt in das dritte Jahrtausend feierte, tauchte ein erstes Geschwader der schwarzen Schwäne auf.
Als an jenem fatalen 11. September 2001 Selbstmordkommandos der Dschihadisten zwei Flugzeuge in die New Yorker Twin Towers steuern und ein drittes auf das Pentagon in Washington stürzt, ist das ein Albtraum, der alle Kriterien eines eher unwahrscheinlichen Ereignisses erfüllt. Nichts in der näheren und ferneren Vergangenheit hatte die Amerikaner darauf vorbereitet. Doch das Entsetzen war nicht auf Amerika beschränkt. Weltweit fragten sich viele besorgt: Ist dies der Auftakt eines neuen Jahrhunderts, das noch schlimmere Überraschungen bereit hält als das vorangegangene, in dem die Menschheit mit viel Glück einen Dritten Weltkrieg vermieden hat? Die Reaktion der Regierung von George W. Bush auf den Anschlag war geeignet, die unguten Vorahnungen zu bestärken. Mit den Interventionen in Afghanistan und im Irak wurde die Büchse der Pandora geöffnet: »Descent into chaos« hat dies einer der Analytiker der nahöstlichen Szenerie genannt,7 der im Rückblick das Desaster analysierte. Noch rätseln Politikwissenschaftler, Kulturhistoriker und Psychologen, wie es dazu kam und warum sich alles so katastrophal entwickelte. In der Rückschau läßt sich eine Unheilslinie von 9/11 über die darauf folgenden Kriege und Bürgerkriege im Mittleren Osten bis zu den Flüchtlingsscharen ziehen, die heute aus den zerrütteten Gesellschaften Afghanistans und aus dem Irak nach Europa streben.
Daß die globale Finanzkrise von 2008 wirklich ein derartig unerhörter Vorgang war, ist zu bezweifeln. Bekanntlich hat sich im Jahr 1929 Vergleichbares abgespielt, ausgelöst durch den Übermut an der Wallstreet und den Leichtsinn der damaligen Regierungen in Europa. Überdies sind skeptische Analytiker von der Eurokrise des Jahres 2010 kaum überrascht worden. Viele Experten hatten schon lange vorher vor einer Eurowährung gewarnt. Überraschend war eher, daß die Krise so lange auf sich warten ließ. Man mag also mit einigem Recht bestreiten, dass die Chiffre des schwarzen Schwans auf diese beiden Vorgänge zutrifft. Auch die Ukrainekrise von 2012 konnte nur Politiker mit einem historischen Kurzzeitgedächtnis überraschen. Daß Rußland früher oder später versuchen würde, sich das »nahe Ausland«, in erster Linie die Ukraine, in irgendeiner Form wieder anzugliedern, war zu erwarten. Zbigniew Brzeziński war nicht der einzige, der das vorhergesagt hat.
Jetzt, im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts, ist aber zweifellos ein schwarzer Schwan aufgetaucht: die neue Völkerwanderung nach Europa. Hunderttausende, ja Millionen arabischer und afrikanischer Flüchtlinge strömen in die völlig überraschten, widerstandslosen und zum Teil – wie Deutschland und Schweden – sogar willkommensfreudigen Wohlfahrtsstaaten Europas. Aus den Tiefen des kollektiven...