2. Angst essen Hirnzellen auf
Menschen wie Herr H. nennen sich »besorgte Bürger« und verraten damit viel.
Sie werden beherrscht von ihren Emotionen. Und ihre stärkste Emotion ist Angst. »Furcht ist nur ein anderer Name für die Unfähigkeit, die Entstehung von Gedanken zu beherrschen«, schrieb der US-Schriftsteller und Philosoph Prentice Mulford einst. Und noch heute passt die Beschreibung auf das Chaos in den Köpfen.
Die Deutschen hören Prognosen, dass bis Ende des Jahres 1 Million neue Flüchtlinge in der Bundesrepublik Schutz suchen werden5. Das klingt nach einer Verdoppelung, denn im Mai 2015 war noch von etwa 450.000 erwarteten Asylantragstellern die Rede. Und schon geraten die Hassbürger in Atemnot.
Dabei heißt das gar nicht, dass doppelt so viele Menschen kommen wie erwartet. Es sind nur zwei unterschiedliche Zählgrößen: einmal alle Flüchtlinge, die nach Deutschland kommen, und einmal alle Flüchtlinge, die einen Asylantrag stellen. Natürlich ist die Zahl der Flüchtlinge insgesamt höher als die Zahl der Antragsteller.
Das liegt zum Beispiel daran, dass viele nach ihrer Ankunft in Deutschland weiterreisen oder zurückgehen. Etwa 20 Prozent aller Menschen, die hier ankommen, stellen keinen Antrag. So rechnete es »Spiegel Online« vor.6 Es gibt also gar keine völlig unerwartete Flüchtlingsflut. Aber das ist erst einmal egal. Hauptsache, Panik!
Die Deutschen haben jetzt oder auf absehbare Zeit keine gravierenden Nachteile davon, dass immer mehr Asylsuchende nach Deutschland kommen. Ich wiederhole: Die Flüchtlingskrise hatte bisher keine Auswirkungen auf die finanzielle oder berufliche Situation der Deutschen. Doch Vernunft hat es beim Menschen grundsätzlich schwer. Das liegt an den Prozessen in unserem Gehirn. Angst – und übrigens auch Aggression – entsteht in der sogenannten Amygdala. Das ist ein Gebiet im Gehirn, das sich ungefähr in der Mitte befindet. Die Amygdala meldet Gefahren blitzschnell an das Großhirn, wo das rationale Denken sitzt, und sie sorgt dafür, dass Stresshormone ausgeschüttet werden. Für die Vernunft ist ein Teil des Frontallappens zuständig – der präfrontale Cortex. Er wägt ab und kann Entwarnung geben, wenn keine Gefahr droht. Allerdings ist die Verbindung von der Amygdala zum präfrontalen Cortex schneller als umgekehrt. Das bedeutet: Die Angst ist sofort da. Doch bis die Vernunft zurückfunkt, kann es ein bisschen dauern.
Bildung schützt vor Angst. Das zeigt eine Langzeitstudie der Freien Universität Berlin und des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung.7 Das Ergebnis: Menschen mit Hochschulabschluss empfinden seltener Angst als weniger gebildete Menschen.
Außerdem fanden die Forscher heraus, dass ein hoher sozialer Status und ein hohes Einkommen negative Gefühle wie Sorge und Furcht mindern. Das liegt natürlich auch daran, dass die wohlhabende Bevölkerung weniger Geldprobleme hat. Dass man sich in finanziellen Notlagen sorgt, ist verständlich. Doch es gibt eine andere Seite der Angst – die irrationale. Sie ist das Problem.
Der Psychologe Eduard Käseberg sagte zu den »Stuttgarter Nachrichten«: »Irrationale Ängste haben immer etwas zu tun mit Mangel an Bildung. Kurz gesagt: Die Dummen leiden besonders heftig unter irrationalen Ängsten.«
Es gibt viele unbegründete Ängste. Wir fürchten uns im Urlaub am Meer vor Haien, obwohl es pro Jahr weltweit nur etwa sechs tödliche Angriffe gibt. Es ist sogar wahrscheinlicher, von einer herabfallenden Kokosnuss getötet zu werden als von einem Hai. Vor dem Autofahren dagegen fürchtet sich kaum jemand. Und das, obwohl allein in Deutschland jährlich mehr als 3000 Menschen bei Verkehrsunfällen sterben.
Die Angst vor Flüchtlingen und Zuwanderern ist genauso irrational. »95 Prozent der Asylbewerber sind Wirtschaftsflüchtlinge«, hieß es zum Beispiel auf den Pegida-Demos. Und die Hassbürger plappern diese erfundene Zahl seither nach. Das ist schon deshalb Quatsch, weil etwa 48 Prozent aller in Deutschland geprüften Asylverfahren für den Flüchtling positiv ausgehen. Asyl wird nur Menschen gewährt, die auf der Flucht sind.
Flüchtlinge vom Balkan sind bei den »besorgten Bürgern« besonders verhasst. Etwa 30.000 Menschen aus Albanien stellten bis Juli 2015 einen Asylantrag.8 Noch mal etwa 30.000 Anträge kamen von Asylsuchenden aus dem Kosovo und etwa 12.000 von Menschen aus Serbien. Viele dieser Balkanflüchtlinge leiden unter großer Armut. Unter ihnen sind Roma, die in ihrer Heimat diskriminiert werden. Trotzdem lehnen die deutschen Behörden nahezu 100 Prozent dieser Anträge ab und schicken die Menschen zurück ins Elend. Dort müssen sie in noch größerer Not leben als zuvor. Sie haben all ihr Geld den Schleppern gegeben, die sie mit falschen Versprechen lockten. So viel zum Märchen von den »schmarotzenden Wirtschaftsflüchtlingen«.
Die Hassbürger haben Angst, dass die Flüchtlinge Deutschland finanziell zugrunde richten. Fakt ist, dass die Bundesrepublik dieses Jahr etwa 10 Milliarden Euro für Asylsuchende ausgibt. Das sind nur etwa 3,3 Prozent des gesamten Bundeshaushalts des Jahres 2015. Ist das zu viel, wenn man bedenkt, dass die Welt gerade eine ihrer größten humanitären Krisen erlebt? Zum Vergleich: Für Rente, Hartz IV und andere Sozialausgaben hat das Ministerium für Arbeit und Soziales in diesem Jahr einen Etat von mehr als 125 Milliarden Euro zur Verfügung. Aber am Ende kosten uns die Menschen aus anderen Ländern überhaupt kein Geld. Sie bringen uns sogar welches. Laut einer Studie des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung im Auftrag der Bertelsmann Stiftung9 zahlte jeder der 6,6 Millionen Menschen ohne deutschen Pass 3300 Euro mehr an Steuern und Sozialabgaben, als er an Leistungen bekam.
»Aber wir haben doch keinen Platz mehr«, rufen die »besorgten Bürger«. Dabei kommen in Deutschland im Schnitt zwei Asylbewerber auf 1000 Einwohner. In anderen Ländern wie Ungarn, Österreich oder Schweden gibt es, in Relation gesehen, viel mehr Flüchtlinge. Und im Libanon sind es sogar 220 Flüchtlinge pro Einwohner.
Außerdem gibt es in Deutschland Landkreise, die in den nächsten Jahren fast 30 Prozent ihrer Bevölkerung verlieren werden. Zu eng wird es hier also erst einmal nicht. Aber vielleicht zu gefährlich?
Herr H. schreibt auf Facebook, dass er sich nachts wegen der ganzen Ausländer nicht mehr auf die Straße traue. Noch so eine gefühlte Wahrheit. Denn natürlich gibt es keine Zahlen, die belegen, dass Flüchtlinge öfter zu Straftaten neigen. Im Gegenteil. »Kriminalität und Flüchtlingsquartiere – dieser Zusammenhang lässt sich aus unserer Sicht so nicht darstellen«, sagte zum Beispiel ein Polizeisprecher in Bremen der »taz«.
Auch die Polizei in Berlin versichert nach Angaben der »Berliner Zeitung«, dass es in der Nähe der Asylbewerberunterkünfte und Erstaufnahmeheime keine erhöhte Kriminalität gebe. Ein Komplott von Lügenpresse und Lügenpolizei? Wohl kaum.
Hassbürger argumentieren gern mit der Polizeistatistik, die angeblich beweise, dass Ausländer besonders oft straffällig würden. 2014 zum Beispiel gab es etwa 1,5 Millionen deutsche Tatverdächtige und 617.392 nichtdeutsche Tatverdächtige. Bei 81,1 Millionen Einwohnern insgesamt und 8,2 Millionen Ausländern klingt das nach einem besonders hohen Anteil ausländischer Krimineller. Dumm nur, dass diese Rechnung auf einem großen Denkfehler basiert. Auf mehreren sogar. Punkt eins: Zu den nichtdeutschen Tatverdächtigen zählen auch Touristen oder Kriminelle, die nur nach Deutschland kommen, um eine Straftat zu begehen, und die dann wieder verschwinden. Es ist also Unsinn, sie zu den 8,2 Millionen Zuwanderern ins Verhältnis zu setzen, die dauerhaft in Deutschland leben. Punkt zwei: Tatverdächtige sind noch lange keine verurteilten Täter. Und dass Ausländer aufgrund von Vorurteilen eher unter Tatverdacht geraten als Deutsche, ist nur logisch. Es gibt zum Beispiel einen Paragrafen des Bundespolizeigesetzes, der sogenannte verdachtsunabhängige Kontrollen erlaubt. Im Klartext heißt das: Polizisten dürfen Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe kontrollieren, auch wenn es keinen Anlass dazu gibt. Das solle illegale Einreise verhindern, sagen die Behörden. Im Alltag führt es allerdings dazu, dass ganz normale Deutsche ständig in der Öffentlichkeit blamiert werden. Nur weil ihre Hautfarbe sie verdächtig macht. So war es zum Beispiel bei einem Dozenten der Universität Kempten, der in einem Regionalzug seinen Ausweis zeigen musste. Der Mann stammte aus einer deutsch-indischen Familie und hatte solche Situationen schon öfter erlebt. Jetzt klagt er vor dem Verwaltungsgericht München.
Punkt drei: Es gibt Straftaten, gegen die ein deutscher Staatsangehöriger nicht verstoßen kann. Darunter fällt zum Beispiel alles, was das Aufenthaltsgesetz betrifft. Die polizeiliche Kriminalstatistik zählte 2014 allein 156.396 Straftaten gegen das Aufenthalts-, das Asylverfahrens- und das Freizügigkeitsgesetz der EU. Sogar das Bundeskriminalamt warnt vor der Statistik: »Diese Daten dürfen nicht mit der tatsächlichen Kriminalitätsentwicklung gleichgesetzt werden. Sie lassen auch keine vergleichende Bewertung der Kriminalitätsbelastung von Deutschen und Nichtdeutschen zu.«10
Es ist schon ironisch. Die »besorgten Bürger« steigern sich in unbegründete Ängste vor Zuwanderern und Flüchtlingen hinein. Dabei sollten sie sich eigentlich vor ganz anderen Dingen fürchten. Deutschland drohen große Gefahren, im...