Die Verlangsamung der Zeit
Ich beginne mit einer schlichten Tatsache: Im Gebirge vergeht die Zeit schneller als im Flachland.
Der Unterschied ist gering, lässt sich aber mit präzisen Uhren, wie man sie heute im Internet für rund tausend Euro kaufen kann, durchaus messen. Mit ein wenig Übung kann sich jeder von dieser Verzögerung des Zeitablaufs selbst überzeugen. Mit speziellen Laboruhren ist sie schon bei einem Höhenunterschied von wenigen Zentimetern beobachtbar: Die Uhr auf dem Boden geht einen verschwindend geringen Tick langsamer als die auf dem Tisch.
Und das ist nicht den Uhren geschuldet. Prozesse laufen unten langsamer ab. Zwei Freunde gehen auseinander: Der eine übersiedelt in die Berge, der andere bleibt im Tiefland. Nach Jahren treffen sie sich wieder: Der Freund unten hat weniger lang gelebt und ist weniger stark gealtert. Das Pendel seiner Kuckucksuhr hat weniger Schwingungen absolviert. Er hat weniger Zeit für Erledigungen gehabt. Seine Pflanzen sind langsamer gewachsen. Und er hatte weniger Zeit zum Nachdenken … Unten vergeht die Zeit langsamer als oben.
Überraschend? Vielleicht. Aber so ist die Welt beschaffen. Die Zeit vergeht mancherorts langsamer, anderenorts schneller.
Wahrhaft überraschend ist, dass jemand diese Verzögerung des Zeitablaufs schon ein Jahrhundert früher erkannt hat, als es Uhren gab, die sie messen konnten: Einstein.
Die Fähigkeit, Dinge zu verstehen, ehe man sie beobachten kann, bildet den Kern wissenschaftlichen Denkens. In der Antike erkannte Anaximander (um 610–547 v. Chr.), dass der Himmel unter unseren Füßen hindurch weitergeht, noch ehe Schiffe Weltumsegelungen unternahmen. Zu Beginn der Neuzeit entdeckte Kopernikus (1473–1543), dass sich die Erde dreht, noch ehe Astronauten vom Mond aus ihre Rotation beobachten konnten. Und so erkannte Einstein (1879–1955), dass die Zeit nicht gleichförmig vergeht, noch bevor die Uhren genau genug gingen, um den Unterschied zu messen.
In Schritten voran wie diesen stellt sich scheinbar Selbstverständliches als reines Vorurteil heraus. Der Himmel, so schien es, befand sich selbstverständlich nur oben, nicht unten, weil eine frei schwebende Erde herabfallen müsste. Die Erde – so schien es – steht selbstverständlich still, was herrschte sonst für ein Chaos. Die Zeit, so schien es, vergeht überall gleich schnell, das versteht sich von selbst … Heranwachsende Kinder lernen, dass die Welt nicht ganz so ist, wie sie zu Hause zwischen den vier Wänden erscheint. Diese Erfahrung macht auch die Menschheit als Ganzes.
Einstein stellte sich eine Frage, die sich wohl schon viele von uns stellten, als sie sich mit der Schwerkraft auseinandersetzten: Wie gelingt es Sonne und Erde, sich wechselseitig «anzuziehen», ohne sich zu berühren oder ein Medium für ihre Anziehung zu nutzen? Auf der Suche nach einer plausiblen Erklärung kam Einstein auf den Gedanken, dass sich Sonne und Erde nicht direkt wechselseitig anziehen, sondern unterschiedlich stark auf das einwirken, was einzig zwischen ihnen liegt: auf Raum und Zeit. Sonne und Erde mussten um sich herum Raum und Zeit in gleicher Weise verändern, wie ein eintauchender Körper das Wasser um sich verdrängt. Und diese Veränderung der Struktur der Zeit wirkt ihrerseits auf die Bewegung sämtlicher Körper ein. Sie sorgt dafür, dass sie aufeinander «zufallen».
Was heißt «Veränderung der Struktur der Zeit»? Es bedeutet, dass, wie oben beschrieben, die Zeit verlangsamt abläuft: Jeder Körper verlangsamt das Vergehen der Zeit in seiner näheren Umgebung. Die Erde ist eine große Masse und bremst den Zeitablauf in ihrer Nähe: stärker im Tiefland und weniger stark im Gebirge, weil die Dinge oben vom Schwerpunkt der Erde weiter entfernt sind. Deswegen altert der Freund im Flachland langsamer.
Wenn Dinge fallen, so wegen dieser Verlangsamung der Zeit. Wo die Zeit gleichförmig vergeht, im interplanetaren Raum, bleiben die Objekte, ohne zu fallen, in der Schwebe. Hier auf der Oberfläche unseres Planeten streben Dinge natürlicherweise dorthin, wo die Zeit langsamer vergeht, ungefähr so, wie wenn wir vom Strand aus ins Meer laufen und dann wegen des Wasserwiderstands an den Füßen mit dem Gesicht nach vorn in die Wellen platschen. Die Dinge fallen nach unten, weil der Zeitablauf in tieferen Lagen von der Erde stärker gebremst wird.
Obwohl sie eher schwer zu beobachten ist, hat die Verlangsamung der Zeit beachtliche Auswirkungen: Sie lässt Dinge herabfallen und hält uns mit den Füßen auf der Erde. Wenn wir auf dem Boden stehen, so deshalb, weil der gesamte Körper natürlicherweise dorthin strebt, wo die Zeit langsam vergeht. Und an den Füßen läuft sie langsamer ab als am Kopf.
Seltsam? Dasselbe Gefühl empfindet man bei der Beobachtung, wie die sinkende Abendsonne allmählich fröhlich hinter fernen Wolken verschwindet – während man sich erstmals bewusst macht, dass nicht die Sonne, sondern die Erde sich dreht. Mit den törichten Augen des Verstandes sehen wir, wie sich unser gesamter Planet mit uns obenauf von der Sonne aus gesehen nach hinten wegdreht. Diese Augen des törichten Narren auf dem Berg, die Paul McCartney besingt, sehen weiter als unsere verschlafenen Alltagsaugen.
Zehntausend tanzende Shivas
Ich habe ein Faible für Anaximander, den griechischen Philosophen, der vor sechsundzwanzig Jahrhunderten erkannte, dass die Erde, aufgehängt im Nichts, gleichsam im Raume schwebt. Auch wenn uns sein Denken nur über andere überliefert ist, blieb ein einziges Fragment seiner Schriften erhalten:
(Woraus aber für das Seiende das Entstehen ist, dahinein erfolgt auch ihr Vergehen) gemäß der Notwendigkeit; denn sie schaffen einander Ausgleich und zahlen Buße für ihre Ungerechtigkeit nach der Ordnung der Zeit.
«Nach der Ordnung der Zeit» (κατα τήν του χρóνoυ τάξιν). Allein diese rätselhaften, geheimnisvoll klingenden Worte blieben uns von einem Gründungsmoment der Naturwissenschaften erhalten.
Astronomie und Physik haben sich nach Anaximanders Hinweis weiterentwickelt: zu verstehen, wie die Phänomene nach der Ordnung der Zeit geschehen. Die antike Astronomie hat die Bewegungen der Gestirne in der Zeit beschrieben. Die Gleichungen der Physik beschreiben, wie sich die Dinge mit der Zeit verändern. Von den Gleichungen Newtons, welche die Bewegungslehre begründeten, bis zu denen Maxwells, welche die elektromagnetischen Phänomene beschreiben; von der Schrödinger-Gleichung, die beschreibt, wie sich die Quantenphänomene entwickeln, bis zu denen der Quantenfeldtheorie, welche die Bewegung der subatomaren Teilchen beschreiben: Unsere gesamte Physik ist die Wissenschaft davon, wie sich die Dinge «nach der Ordnung der Zeit» verändern.
Nach althergebrachter Konvention geben wir diese Zeit mit dem Buchstaben t (dem Anfangsbuchstaben für «Zeit» im Französischen, Englischen, Spanischen und Italienischen, nicht aber im Deutschen, Arabischen, Russischen oder Chinesischen) wieder. Was gibt t an? Einen mit der Uhr gemessenen Zahlenwert. Die Gleichungen sagen uns, wie sich die Dinge verändern, während die Zeit vergeht.
Aber wenn verschiedene Uhren jeweils andere Zeiten angeben, wie wir oben sahen, was gibt t dann an? Wenn sich die beiden Freunde wiedersehen, von denen der eine in den Bergen und der andere im Flachland gelebt hat, zeigen ihre Armbanduhren doch unterschiedliche Zeiten an. Welche der beiden ist t? Zwei Uhren in einem Physiklabor gehen mit unterschiedlicher Geschwindigkeit, wenn die eine auf dem Tisch und die andere am Boden steht: Welche von beiden zeigt die richtige Zeit? Wie beschreibt man den unterschiedlichen Takt der beiden Uhren? Müssen wir sagen, dass die Uhr am Boden gegenüber der richtigen, auf dem Tisch gemessenen Zeit nachgeht? Oder geht die Uhr auf dem Tisch gegenüber der richtigen, am Boden gemessenen Zeit vor?
Die Frage ist sinnlos. Sie ist so, als fragte man sich, ob ein in englischen Pfund angegebener Wert richtiger sei als ein in US-Dollar ausgedrückter. Es gibt keinen richtigen Wert, sondern nur zwei Währungen, deren Wert sich an der jeweils anderen bemisst. Es gibt keine richtige Zeit, sondern zwei von verschiedenen realen Uhren angezeigte Zeiten, die unterschiedlich zueinander ablaufen. Keine ist richtiger als die andere.
Ja es gibt nicht einmal nur zwei, sondern Heerscharen verschiedener Zeiten: jeweils eine für jeden Punkt des Raumes. Es gibt nicht eine einzige, sondern zahllose Zeiten.
Die Zeit, die von einer bestimmten Uhr angegeben wird, gemessen anhand eines besonderen Phänomens, heißt in der Physik «Eigenzeit».
Jede Uhr hat ihre Eigenzeit. Jedes sich ereignende Phänomen hat seine Eigenzeit, seinen eigenen Rhythmus. Einstein hat uns gelehrt, die Gleichungen zu erstellen, die beschreiben, wie eine Eigenzeit jeweils in Bezug zu einer anderen abläuft. Er hat uns gelehrt, die Differenz zwischen zwei Zeiten zu berechnen.
Die einzelne Größe «Zeit» zerfällt in ein Spinnennetz aus Zeiten. Wir beschreiben nicht, wie die Welt sich in der...