Der Tag mit Galina
Wie alles begann
Eines Tages, kurz vor Winterbeginn, wurde ein Paket ins Haus gebracht. Ungewöhnlich groß und schwer, es kam völlig überraschend und irgendwie auch nicht. In diesen Jahren nach 1989 geschahen viele Wunder. Europa war im Rausch einer neuen, hoffnungsvollen Epoche. Ich erinnere mich an die klebrigen Hände des Paketboten und an sein vorwurfsvolles Gesicht. Und an den Duft, der aus dem ramponierten Karton strömte: Honig, jemand hatte mir Honig geschickt! Die blaue geschwungene Tintenschrift auf dem Adressaufkleber, ein Standardetikett der Deutschen Post, war durchtränkt davon. Absender war eine im Rheinland lebende Gräfin, dem Namen nach aus Ostpreußen stammend, aus einem der bekannten, von dort vertriebenen Adelsgeschlechter.
Schichten von Wellpappe, dann ein grob gewebter, verschossener Rosenstoff, da ahnte ich schon etwas. Holzwolle, wieder Wellpappe, Lage für Lage kämpfte ich mich durch. Zerknüllte Zeitungsseiten, mit kyrillischen Lettern bedruckt, offenbar aus der «Kaliningradskaja Prawda». Schließlich stand ein weißer Plastikeimer vor mir, aus dem durch einen Riss auf der Vorderseite zähflüssig dunkelgelber Honig quoll. Auf dem Deckel die Reste eines Aufklebers курúный корм, demnach enthielt das Behältnis früher Hühnerfutter. Nicht vom Rhein also kam der süße Gruß, die Gräfin hatte nur den Kurier gespielt. Vermutlich war sie in der alten Heimat gewesen, reimte ich mir zusammen, und jemand hatte ihr das Paket übergeben, mit der Bitte, es mitzunehmen und an mich weiterzuleiten. Dieser Jemand wollte auf Nummer sicher gehen, der Postweg von der westlichen Exklave der UDSSR über Polen war damals äußerst unsicher. In dem handgeschriebenen Brief, der beilag, konnte ich zunächst nur die Unterschrift entziffern. ГАЛИНА, es war Galina!
Galina, die schöne Imkerin von Jasnaja Poljana. Während ich den Honig kostete, sah ich sie wieder vor mir: Eine Frau von Mitte dreißig mit grünbraun gesprenkelten Augen. Im Mai 1991 waren wir einander begegnet, in der Endzeit der Sowjetunion. Seitdem hatte ich immer wieder an Galina gedacht und das Foto mit Imkerhut betrachtet, das ich seinerzeit von ihr gemacht hatte. Ein Gesicht, das mich an die stilisierten Frauenbilder von Modigliani erinnerte – blasser Teint und schwarze Haare, ein sehr schmaler Nasenrücken, Lippen wie ein Strich. Sie lacht etwas verschämt, die glitzernden Goldzähne sind unter dem Schleier nur zu erahnen.
Der Tag mit Galina war ein Lichtblick gewesen. In jenem Mai war ich wochenlang durchs Kaliningrader Gebiet gestreift, durch die verwilderte Kulturlandschaft, armselige, verfallene Dörfer. Verzweiflung, Lethargie überall. Ob Traktoristen oder Sowchos-Vorsitzende, Lehrer, die Veteranen des Großen Vaterländischen Krieges, niemand, der nicht schwarzsah. Und ich war krank von ihren Geschichten. Vom Wind der Freiheit, der das benachbarte Polen und Litauen durchwehte, war hier nichts zu spüren. Von allen Orten war Jasnaja Poljana, das frühere Trakehnen, der traurigste. Das Preußische Hauptgestüt mit seinen herrschaftlichen Bauten lag weitgehend in Ruinen, das Landstallmeisterhaus und die Pferdeställe waren im Dreck versunken. In den Wipfeln der alten Eichen Hunderte von Krähen, ein ohrenbetäubendes Geschrei, das mir Angst machte und auch in den Nächten nicht aufhörte.
Mit Galina hatte ich nicht gerechnet. Bis heute hat dieser Tag auf der blühenden Wiese, mit Galina und ihren hundertfünfzig Bienenvölkern, für mich etwas Unwirkliches. Zum ersten Mal in meinem Leben beobachtete ich das Ritual: wie ein Mensch sich in einen Imker verwandelt. Es fängt an mit den Händen, die gründlich gewaschen werden müssen. Galina tat es mit beinahe religiösem Ernst, als müsse sie in der nächsten Stunde vor ihren Herrgott treten. Dann streifte sie ihr Arbeitskostüm über, einen weißen, geräumigen Overall, der vermutlich mal einem Mann gehört hatte. Und die Spuren vieler Arbeitsjahre trug, jeder Riss, jede dünne Stelle war sorgfältig ausgebessert. Als Nächstes holte sie etwas aus dem Schuppen, «Dimar», erklärte sie, zu Deutsch «der den Rauch macht», eine zylindrische Kammer mit Tülle und einem Blasebalg. Sie füllte das verbeulte, rostige Ding mit Hobelspänen, stopfte noch eine Handvoll Gras dazu. Kaum angezündet, verlosch das Feuer wieder, noch ein Streichholz und noch eines, es dauerte, bis Qualm aufstieg. Weitere Minuten vergingen, bis er mit Hilfe des Blasebalgs stetig und dicht wurde. Mit jeder Handlung wurden ihre Bewegungen konzentrierter. Zuletzt die Kopfbedeckung, kurze Prüfung, ist der Tüll noch dicht, das Gummiband am Rande fest genug. Bevor sie hinter dem Schleier verschwand, suchte Galina noch einmal meinen Blick, als wollte sie auf Wiedersehen sagen. Vielleicht genoss sie auch nur mein Interesse?
Von jetzt an war sie woanders, auf einem anderen Planeten, so schien es, weit weg von Jasnaja Poljana. Sie stapfte von einem Bienenkasten zum nächsten, zog Wabenrähmchen heraus und überprüfte etwas. Worum genau es ging, verstand ich damals noch nicht. Ich hielt Abstand, schaute durch mein Teleobjektiv, aus sicherer Entfernung. Richtete die Kamera auf den Dimar, der im Gras leise vor sich hin rauchte, mal auf Galinas Hände, die überhängendes Wachs wegbrachen. Oder mit einem Gänseflügel hantierten, anscheinend eines der wichtigsten Werkzeuge, und damit gelborangefarbene Kügelchen, die sich vor den Einfluglöchern türmten, in eine Schüssel kehrten.
«Oi, oi, oi», hörte ich sie rufen, immer wieder «oi, oi, oi,» kleine, singende Laute der Zufriedenheit, manchmal ein freudiges «O Gospodi!», «Mein Gott!».
Die Tätigkeiten wiederholten sich, trotzdem langweilte ich mich nicht. Ich saß auf der Bank vor dem hölzernen Büdchen, in dem die Imkerin ihre Gerätschaften aufbewahrte, und sog die Düfte in mich ein, eine betörende Mischung aus Honig, Wachs und Rauch, von Holunderblüten und jungem Gras, und lauschte dem Gesumm der ein- und ausfliegenden Bienen. Ganz allmählich vergaß auch ich, nach Wochen äußerster Anspannung, die Welt jenseits der Wiese.
«Ein exterritorialer Ort», notierte ich seinerzeit in meinem Reisetagebuch. «Sauber! Jedes Ding an seinem Platz! Galina achtet die Bienen.» Obwohl diese nicht ihr gehörten, fühlte sie sich persönlich für sie verantwortlich. Während die Milchwirtschaft dagegen, der Haupterwerbszweig der Kollektivwirtschaft, in einem jammervollen Zustand war. In den ehemals preußischen Pferdeställen standen abgemagerte, frierende Kühe, bis über die Knöchel in ihrer Scheiße. Auf den Misthaufen davor halbverweste Kälber, Totgeburten wurden einfach rausgeworfen, den Krähen und Hunden überlassen. «Soll doch Gorbatschow kommen und sauber machen!», hieß es, als ich eine der Melkerinnen danach fragte.
Wie war dieser Unterschied zu erklären? Galina hatte ähnliche Sorgen wie die meisten hier. Das Geld reichte nur fürs Allernötigste, wenn es denn überhaupt etwas zu kaufen gab. Sie war Mutter von zwei halbwüchsigen Kindern, alleinerziehend, den trunksüchtigen Ehemann hatte sie schon vor langer Zeit vor die Tür gesetzt. Wodka war die große Plage in den Familien und in diesem Gemeinwesen, das sich ganz offenbar aufgegeben hatte. Vielleicht war es auch nie eines gewesen? Es wird Krieg geben, sagten die Alten von Jasnaja Poljana, dem Untergang des Imperiums sahen sie mit Bangen entgegen – im August 1991 war es so weit.
Trotz dieser dramatischen Lage war Galinas Reich intakt. Sie regierte es souverän und mit einem gewissen königlichen Stolz, den sie jedoch nicht nach außen hin zeigte. Schwer zu sagen, ob es vor allem ihr Charakter war, der sie dazu befähigte. Galina heißt «Ruhe», der aus dem Griechischen stammende Name passte zu ihr. Womöglich hatte es eher mit ihrer Aufgabe zu tun, ihrer Rolle als Imkerin. Ihr Arbeitsplatz lag abseits, war von der Straße nicht einsehbar. Sie war eine Einzelgängerin, hatte niemand über oder neben sich, nur zu «Erntezeiten», erzählte sie, habe sie einige Helfer, kräftige Männer, die die honigschweren Kästen schleppen und beim Schleudern assistieren. Außerdem war ihr Tun vielseitig und hochkomplex, im Vergleich zu den anderen Abteilungen des Sowchos, die arbeitsteilig organisiert waren. Die einen molken die Kühe, andere fütterten sie, wieder andere machten Feldarbeit oder fuhren Traktor, jeder zuständig für ein spezielles Fragment. Galina hingegen musste immer das Ganze im Auge haben, versuchen zu verstehen, was in einem Bienenstock zu den verschiedenen Jahreszeiten vorgeht. Es beschäftigte sie darüber hinaus, sie philosophierte darüber, träumte. Ein guter Sowchos, sagte sie an diesem Tag im Mai, muss wie ein Bienenstaat sein. Damals kam mir der Gedanke, dass Imker besondere Leute sind.
Begegnungen im Osten
Dass Galina auch mich nicht vergessen hatte und mir aus Jasnaja Poljana Honig schickte, freute mich. Wie mochte es ihr gehen? «Bitte, Ulla, besorge mir einen Mann in Deutschland», stand da, kurz und knapp. Es dauerte einige Tage, bis ich verstand: Ihr Gruß war ein Hilferuf, der Honig kein Geschenk, sondern eine Anzahlung für meine Dienste. Fünf oder sechs Kilo waren es, ziemlich viel. «Wenn es klappt, bekommst du mehr.» Anscheinend imkerte sie nach Auflösung des Sowchos privat weiter. Wie auch immer, sie wollte Russland verlassen, und das machte mich traurig. Was war geschehen? Nach einigem Überlegen antwortete ich ihr wahrheitsgemäß und sachlich, ich verstünde nichts von Heiratsvermittlung.
So hat es begonnen. Seit der Geschichte mit Galina waren die Imker in meinem Blickfeld. Zunächst bei meinen immer ausgedehnteren Entdeckungsreisen durch das östliche...