Im Jahr 2012[1] führten die Jugendämter in Deutschland knapp 107 000 Verfahren zur Einschätzung der Gefährdung des Kindeswohls durch (vgl. fortlaufend: Statistisches Bundesamt 2013a). „Eine Gefährdungseinschätzung wird vorgenommen, wenn dem Jugendamt gewichtige Anhaltspunkte für die Gefährdung des Wohls eines/einer Minderjährigen[2] bekannt werden und es sich daraufhin zur Bewertung der Gefährdungslage einen unmittelbaren Eindruck von dem Kind beziehungsweise Jugendlichen sowie seiner Lebenssituation macht“ (Statistisches Bundesamt 2013a). An dieser Statistik lässt sich außerdem ablesen, dass bei 16% (17 000) der Kinder eine eindeutige Kindeswohlgefährdung („akute Kindeswohlgefährdung“) vorlag und bei 20% (21 000) eine Gefährdung des Kindes nicht ausgeschlossen werden konnte („latente Kindeswohlgefährdung“). Unterschieden wird hierbei auch die Art der Kindeswohlgefährdung[3], wobei die Verteilung bei akuter sowie latenter Gefährdung ähnlich ist: Zwei von drei (67%) dieser Kinder wurden vernachlässigt. 24% der Fälle wiesen Anzeichen für psychische Misshandlung und 26% für körperliche Misshandlung auf. In 5% der Verfahren konnten Anzeichen für sexuelle Gewalt festgestellt werden. Um die derzeitige Situation der Kinder- und Jugendhilfe im Bereich Kindeswohlgefährdung vergleichbar darzustellen, eignen sich die Zahlen der Inobhutnahmen (vgl. fortlaufend: Statistisches Bundesamt 2013b). Während im Jahr 2007 noch 28 200 Inobhutnahmen statistisch erfasst wurden, waren es im Jahr 2012 bereits 40 200. Das bedeutet, dass die Zahl der Inobhutnahmen in den letzten 5 Jahren um 43% gestiegen ist. Für 32% dieser Kinder begann anschließend eine Hilfe zur Erziehung, wovon drei von vier Fällen außerhalb der Familie untergebracht wurden. Vor diesem Hintergrund scheint die Konzentration auf den Kinderschutz im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe nachvollziehbar. Salgo (vgl. 2007) gibt diesbezüglich an, dass seit einigen Jahren Kindesmisshandlung, Kindesvernachlässigung sowie sexueller Missbrauch von Kindern stärker in den Fokus geraten sind als jemals zuvor. Im Folgenden wird bei Kindern, welche Misshandlung-, Vernachlässigungs- oder Missbrauchserfahrungen machen mussten, auch von Kindern mit traumatischen Erlebnissen gesprochen. Um den Begriff des Traumas nicht inflationär zu benutzten, wird folgende Definition den Ausführungen dieser Arbeit zu Grunde gelegt.
Zur Bestimmung traumatischer Erfahrungen sind nach Scheuerer-Englisch folgende Merkmale wesentlich:
„Es handelt sich um eine einmalige oder fortdauernde Erfahrung,
die zu einer psychischen Verletzung führt,
die für das Kind überwältigend und mit seinen psychischen und physischen Möglichkeiten nicht kontrollierbar ist,
die Todesangst und Angst vor Vernichtung des physischen oder psychischen Selbst auslöst,
und bei der das Kind in der Situation auf niemanden zugreifen kann, bei dem es Schutz oder Hilfe erfährt.“ (Scheuerer-Englisch 2008, S.67)
Im Folgenden geht es weniger um einmalige, traumatische Ereignisse, als um länger andauernde traumatische Beziehungsmuster, ausgelöst durch die anwesenden Bezugspersonen (vgl. Scheuerer-Englisch 2008, S.68). Das heißt, dass defninitionsgemäß überwältigende Einzelerfahrungen, wie zum Beispiel ein Unfall, eine Naturkatastrophe oder auch die Erkrankung wichtiger Bezugspersonen traumatische Ereignisse verkörpern, diese jedoch nicht Gegenstand dieser Arbeit sind. Es geht dagegen um die zentrale Bedeutung von Vernachlässigung, körperlicher und seelischer Misshandlung sowie sexuellen Missbrauch, denn insbesondere Gewalterfahrungen „werden in ihrer nachhaltigen und zerstörerischen Wirkung auf das Kind immer noch massiv unterschätzt“ (Hopp 2012). Jedes Kind ist von Geburt an auf eine verfügbare sowie verlässliche Bezugsperson angewiesen, wobei „diese Bindungsbeziehung die Aufgabe [hat], dem Kind in Situationen von Gefahr, Belastung und Überforderung Sicherheit und Vertrauen zu geben“ (Scheuerer-Englisch 2008, S.71). Sind jedoch die leiblichen Eltern des Kindes nicht in der Lage die Erziehung entsprechend dem Wohl des Kindes zu gewährleisten, so haben sie Anspruch auf Hilfe zur Erziehung (§ 27 Abs.1 Satz 1 SGB VIII[4]). „Wenn die ambulante Beratung von vernachlässigten, misshandelten, missbrauchenden Eltern erfolg- oder aussichtlos ist, muss (ggf. nach Inobhutnahme) unverzüglich das Familiengericht mit dem Ziel angerufen werden, das Kind in einem geeigneten Heim oder noch besser in einer dafür qualifizierten Pflegefamilie unterzubringen“ (Eberhard/ Malter 2006). Die Pflegefamilie wird als adäquate Unterbindung für traumatisierte Kinder am häufigsten genutzt. Diesbezüglich gilt im Sinne des § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII: Eine Pflegeperson ist, „wer ein Kind oder einen Jugendlichen über Tag und Nacht in seinem Haushalt aufnehmen will“. Die vorliegende Arbeit wurde vorrangig aus der Sicht der Pflegekinder und Pflegefamilien verfasst. Auf Grund dessen sind ihre Situationen und ihre Perspektiven besonders zu berücksichtigen. Hopp zeigt die Sicht der Welt eines Kindes, geprägt durch die traumatischen Erfahrungen wie folgt auf:
„Diese [traumatisierten] Kinder haben kein Vertrauen zu Erwachsenen – im Gegenteil, sie misstrauen allem und allen. Sie haben erfahren, dass die Welt nicht verlässlich ist, dass das Leben bedroht wird, dass Hilfe kaum zu erwarten ist, dass man auf sich allein gestellt ist, dass es eigentlich nur gilt, das hier und jetzt zu überleben und zu bewerkstelligen. Das Leben ist ein Kampf.“ (Hopp 2012)
Wie bereits erläutert braucht ein traumatisiertes Kind zunächst Sicherheit und wenigstens eine stabile Bezugsperson, „die aufgrund ihres Verhaltens dem Kind das Vertrauen gibt, dass es tatsächlich vor erneuten traumatischen Erfahrungen geschützt wird“ (Scheuerer-Englisch 2008, S.80). Denn „Sicherheit erlaubt Autonomie und gesunde Selbstständigkeit“ (Scheuerer-Englisch/ Suess/ Pfeifer 2003, S.12). Um dieses lebensnotwendige Gefühl zu erlangen, benötigt das Kind als „sichere Basis“ bzw. „sicheren Hafen“ eine verlässliche sowie feinfühlige Bindungsperson (vgl. Niestroj o.J.). „Die mit der Bindungsperson verbundenen positiven Erfahrungen führen dann zu Bindungssicherheit“ (Niestroj o.J.) und dies ermöglicht dem Kind in den neuen Beziehungen zu den Pflegeeltern korrigierende Erfahrungen zu machen und so eine gesunde Basis für seine Entwicklung zu schaffen (vgl. Tenhumberg/ Michelbrink 2008, S.114). Die vorliegende Arbeit geht auf Grund dessen der Frage nach, ob die Pflegefamilie eine ‚sichere Basis‘ für das vernachlässigte oder misshandelte Kind darstellt und unter welchen Bedingungen dies geschehen müsse. Besondere Berücksichtigung in der Ausarbeitung finden bindungstheoretische Aspekte nach John Bowlby.
Vor diesem Hintergrund wird anfänglich Bezug auf die unterschiedlichen Begrifflichkeiten genommen, welche in Hinblick auf eine Kindeswohlgefährdung von Bedeutung sind. Innerhalb des zweiten Kapitels wird außerdem der Stand der Kinderschutz-Debatte in Deutschland erläutert, mit Bezug darauf, dass Grundlage jeglicher Überlegungen das Kindeswohl ist. Um diesem Terminus Rechnung zu tragen werden die Grundbedürfnisse von Kindern expliziert, da diese zur Sicherung des Kindeswohls ausreichend und angemessen befriedigt werden sollten. Kommt es allerdings nur zu einer unzureichenden Erfüllung der sog. „basic needs“, kann es zu einer Kindeswohlgefährdung im Sinne des § 1666 BGB kommen. Durch die präzise Darstellung der Formen von Kindeswohlgefährdung – Vernachlässigung, Misshandlung, sexueller Missbrauch – soll anschließend die Dynamik, ergo die Entstehungsbedingungen sowie die Folgen verdeutlicht werden. Abschließend geht dieses Kapitel auf den Schutzauftrag nach § 8a SGB VIII ein, welcher den Kinderschutz weiter verschärfen soll.
Im Folgenden werden die Grundlagen der Pflegekinderhilfe näher erläutert, um eine theoretische Basis zu schaffen (Kapitel 3). Neben einigen statistischen Daten zum Pflegekinderwesen wird vor allem auf die strukturellen Aspekte eingegangen. Besonders zu erwähnen sind hierbei die verschiedenen Zuständigkeiten für die unterschiedlichen Akteure innerhalb des Prozesses der Inpflegenahme. Eine besondere Form der Hilfen außerhalb des Elternhauses bildet die Vollzeitpflege. Da diese Grundlage der folgenden Ausführungen ist, wird insbesondere auf die Pflegefamilie als Ersatzfamilie eingegangen und den zugrundeliegenden Prozess vom Beginn des Pflegeverhältnisses bis hin zu dessen Beendigung. Wie bereits erläutert, sind mehrere Akteure Teil dieses Prozesses. Während diese einerseits gesondert dargestellt werden, wird andererseits das sog. jugendhilferechtliche Dreiecksverhältnis von Jugendamt, Pflegesorgeberechtigten und Pflegeeltern beschrieben. Besondere Berücksichtigung findet in diesen Ausführungen die Forderung nach einer erhöhten Partizipation aller Beteiligten – vor, während und nach dem Prozess der Inpflegenahme.
Das Ziel der vorliegenden Arbeit ist, herauszufiltern, inwieweit die Pflegefamilie eine ‚sichere Basis‘ für das vernachlässigte oder misshandelte Kind darstellt. Besondere Berücksichtigung innerhalb dessen findet die Bindungstheorie nach John Bowlby. In Kapitel 4 sollen diese bindungstheoretischen Grundlagen näher gebracht werden, mit der Absicht, den Blick für traumatisierte Kinder innerhalb...