Das vorherige Kapitel beschäftigte sich mit der Lehrmethoden- und der Leseforschung. Neben diesen beiden Forschungsbereichen, die sich mit den Prozessen des Lesens und Schreibens auseinandersetzten, entwickelte sich parallel die Legasthenieforschung, welche das Phänomen des gestörten Schriftspracherwerbs untersuchte. Nicht zuletzt aus der kritischen Betrachtung des klassischen Legastheniekonzeptes heraus entwickelten sich neue Ansätze und Konzepte der Lese- und Rechtschreibforschung vor entwicklungs- und pädagogisch-psychologischem Hintergrund, die heute für die wissenschaftliche Diskussion maßgeblich sind.
Die Erforschung von Störungen beim Erwerb des Lesens und Schreibens begann schon vor mehr als einem Jahrhundert. Um 1900 machten sich zunächst die Mediziner das Phänomen der Lese-Rechtschreibschwäche zum Untersuchungsgegenstand (Roth 1999, 19; vgl. auch Scheerer-Neumann 1997, 293; Küspert 1998, 21). Nach Küspert (1998) beschrieb der englische Augenchirurg Morgan bereits 1886 die Störung des Schriftspracherwerbs als eigenständiges klinisches Syndrom und prägte dafür den Begriff „congential wordblindness“. Morgan und sein Kollege Hinshelwood gingen bei der „kongentialen Wortblindheit“ von einem Defekt im Lesezentrum des Gehirns aus, da die beobachtbaren Ausfälle auf den Schriftspracherwerb beschränkt blieben. (Küspert 1998, 21)
Auch im deutschen Sprachraum begann die Erforschung der Legasthenie um die Jahrhundertwende. Der Begriff wurde 1916 von Prof. Dr. Paul Ranschburg, einem Budapester Arzt, eingeführt (Küspert 1998, 21). In seiner Veröffentlichung „Die Lese- und Schreibstörungen des Kindesalters“ von 1928 differenziert er zwischen der „eigentlichen Lese- und Schreibschwäche“ und der „eigentlichen infantilen Leseblindheit“. Unter infantiler Leseblindheit versteht Ranschburg „einen im ganzen recht seltenen, mehr oder minder isolierten, geistigen Defektzustand, die chronische Leseblindheit, Leseunfähigkeit oder Wortblindheit (Alexie)“ (1928, 90). Diese ist bei „intellektuell dem Wesen nach normal entwickelten, wenn auch wohl stets neuro- bzw. psychopathischen Kindern...“ zu finden (1928, 90). Im Gegensatz dazu definiert er Leseschwäche wie folgt:
„Leseschwäche bedeutet eine nachhaltige Rückständigkeit höheren Grades in der geistigen Entwicklung des Kindes, sich äußernd in der Unfähigkeit, im Alter von 6 bis 8 Jahren oder auch noch darüber hinaus sich eine derart genügende Geläufigkeit des mechanischen Lesens anzueignen, welche die Vorbedingung eines erträglichen Verständnisses des Gelesenen wäre“ (1928, 88).
Ranschburgs Annahme einer geistigen Rückständigkeit leseschwacher Kinder führte dazu, dass Kinder mit Lese- und Schreibschwierigkeiten bis in die 60er Jahre hinein an Hilfsschulen verwiesen wurden (Roth 1999, 19; vgl. auch Sommer-Stumpenhorst 1993, 11). Küspert (1998) nimmt an, dass diese Klassifizierung die Diskussion um die Problematik des gestörten Schriftspracherwerbs im deutschsprachigen Raum bis nach dem 2. Weltkrieg verstummen ließ (1998, 21). Sommer-Stumpenhorst (1993) macht dafür weiterhin den Faktor der Isolierung Deutschlands zwischen 1930 und 1945 verantwortlich (1993, 11).
Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es zum Aufschwung der Legasthenieforschung im deutschen Sprachraum (Küspert 1998, 21). Nun beschäftigten sich auch Psychologen und Pädagogen mit der Thematik. Die von der Schweizer Kinderpsychiaterin Maria Linder 1951 veröffentlichte Definition hatte großen Einfluss auf die nachfolgende Forschung:
Legasthenie ist „eine spezielle, aus dem Rahmen der übrigen Leistungen fallende Schwäche im Erlernen des Lesens (und indirekt auch des selbständigen fehlerfreien Schreibens) bei sonst intakter – oder im Verhältnis zur Lesefertigkeit relativ guter – Intelligenz. Von Legasthenikern sprechen wir also nur, wenn ein Kind ungefähr normaler Intelligenz unter normalen Schulverhältnissen und trotz aller Bemühungen der Erwachsenen das Lesen (oder Schreiben) nicht oder nur mit größter Anstrengung erlernen kann, während in den übrigen Fächern keine auffallenden Probleme vorhanden sind“ (Linder 1962; nach Küspert 1998, 21 f.).
Im Mittelpunkt dieser Definition steht die Diskrepanz zwischen durchschnittlicher Intelligenz und schwacher Lese-Rechtschreibleistung, da von Linder durchgeführte Untersuchungen ergaben, dass Kinder mit Leseschwächen in der Regel durchschnittlich bis überdurchschnittlich intelligent sind (Sommer-Stumpen-horst 1993, 11). Linder grenzt also auf diese Weise Legasthenie von allgemeiner Lernschwäche ab. Kinder mit Störungen der Sinnesorgane und körperlichen Behinderungen, Kinder mit Problemen in anderen Schulfächern und Kinder, bei denen das Versagen durch negative Umwelteinflüsse bedingt ist, zählen ihrer Meinung nicht zur Gruppe der Legastheniker (vgl. Scheerer-Neumann 1997, 294 f. 1997b, 18).
In der Folgezeit gingen Wissenschaftler verschiedenen ätiologischen Konzepten nach, woraus sich eine Vielzahl von Begrifflichkeiten für Schwierigkeiten des Lesens und Schreibens ergaben (Roth 1999, 22). Einige Autoren verwendeten zum Beispiel die Termini Legasthenie und Lese- Rechtschreibschwäche zur Abgrenzung unterschiedlicher Schweregrade der Störung, andere nutzten sie hingegen synonym (Küspert 1998, 22). Die inhomogene Verwendung von Begriffen wie Leseschwäche, Leseversagen, Legasthenie oder Leselernstörungen deutet auf den fehlenden Konsens hinsichtlich Definition und Terminologie hin (vgl. Roth 1999, 22; Küspert 1998, 22).
Ende der 60er Jahre wurden im Rahmen der psychologisch-pädagogischen Legasthenieforschung vermehrt empirische Untersuchungen durchgeführt. Hierfür wurden Intelligenztests und standardisierte Rechtschreibtests verwendet, da es zu dieser Zeit noch keine geeigneten Lesetestverfahren gab. (vgl. Küspert 1998, 22; Hasselhorn et al. 2000, 1) Die Legasthenieforschung ging davon aus, dass sich die Schwierigkeiten legasthener Kinder beim Schriftspracherwerb qualitativ von denen lernschwacher Kinder unterscheiden. Auf diese wissenschaftlich nicht erwiesene Annahme aufbauend, versuchte man, die Fähigkeitsdefizite zu bestimmen, die ursächlich für die Leseschwierigkeiten sein könnten. (Schneider 1994, 117 f.) Die dafür angewendete Methodik des Extremgruppendesigns sah zunächst die Parallelisierung der Gruppen nach ihrer Intelligenz vor, um sie auf diese Weise vergleichbar zu machen. Daraufhin verglich man spezifische Fähigkeiten schlechter Leser bzw. Rechtschreiber mit denen durchschnittlicher oder überdurchschnittlicher Schüler. (Schneider 1989, 157; vgl. auch 1994, 117) Das Ziel bestand in der Ermittlung der kognitiven Funktionen oder Teilleistungen, die bei lese-rechtschreibschwachen Kindern unzureichend ausgebildet sind und das Versagen auf der kognitiven Ebene bedingen (Scheerer-Neumann 1997a, 303).
Die in dieser Zeit durchgeführten Untersuchungen bildeten die Basis für die Entwicklung spezieller Funktionstrainings, einer bestimmten Art von Interventionsverfahren, in denen die unzureichenden Funktionen trainiert und verbessert werden sollten. Die Schwerpunkte lagen dabei auf der visuellen und akustischen Wahrnehmung, den Gedächtnisleistungen und sprachlichen Bereichen (Schee-rer-Neumann 1997a, 303).
Die Kritik am klassischen Legastheniekonzept setzte etwa Mitte der 70er Jahre ein (vgl. Schlee 1976; Weinert 1977). Ein bedeutender Kritikpunkt wurde in der Diskrepanzdefinition gesehen, welche allgemein lese-rechtschreibschwachen Kindern das Recht auf schulische Fördermaßnahmen versagte (vgl. Scheerer-Neumann 1997a, 295). Zum einen wurde kritisiert, dass durch die Verwendung unterschiedlicher Intelligenz- und Rechtschreibtests unterschiedliche Kinder als „Legastheniker“ eingestuft wurden (Schneider 1994, 118; vgl. auch Zielinski 1980, 78). Zum anderen sahen viele das Intelligenzkriterium als problematisch an, da Intelligenz und Lese- und Rechtschreibleistungen nur mittelhoch miteinander korrelieren (Schneider 1994, 118; vgl. auch Scheerer-Neumann 1997a, 296). Ein bekannter Anhänger dieses Kritikpunktes war Schlee, der dazu 1976 das Buch mit dem bezeichnenden Titel „Legasthenieforschung am Ende?“ veröffentlichte (vgl. dazu Roth 1999, 30 f.).
Des Weiteren wurde das methodische Vorgehen, speziell die Methode des...