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E-Book

Die psychotische Gesellschaft

Wie wir Angst und Ohnmacht überwinden

AutorAriadne von Schirach
VerlagTropen
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl272 Seiten
ISBN9783608115260
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Angesichts einer immer verrückter werdenden Gegenwart ist es an der Zeit, uns wieder an unsere Würde, unsere Träume und unsere Verantwortung für unser eigenes und gemeinsames Leben zu erinnern. »Die psychotische Gesellschaft« ist eine hellsichtige Analyse unserer ökonomisierten Gesellschaft und zugleich ein leidenschaftliches Plädoyer für einen anderen Umgang mit Natur, Menschsein und Liebe. Selbstmordattentäter, Geflüchtete und populistische Präsidenten. Und dann spielt auch noch das Klima verrückt. Dieser krisenhafte Zustand hat viele Gründe. Die Ökonomisierung der Welt hat sich im 21. Jahrhundert fast vollendet. Sie betrifft schon lange nicht mehr nur das Sichtbare, sondern reicht tief in das Unsichtbare hinein: in das Soziale, in den Umgang mit uns selbst, den anderen und der Welt. Der Selbstwert ist zum Marktwert geworden, die Grenzen zwischen Ich und Welt verschwimmen. Das Resultat dieser kollektiven Identitätskrise ist eine psychotische Gesellschaft, deren Mitglieder weder wissen, wer sie sind, noch was sie sollen, und deshalb unfähig sind, mit sich und miteinander bewusst, wertschätzend und angemessen umzugehen. Doch jede Krise trägt in sich die Möglichkeit einer neuen Ordnung, sie ist eine Chance, unser Verhältnis zu uns, den Anderen und der Welt neu zu erzählen.

Ariadne von Schirach unterrichtet Philosophie und chinesisches Denken an verschiedenen Hochschulen und hält Vorträge im In- und Ausland. Zudem arbeitet sie als freie Journalistin und Kritikerin. Sie wurde bekannt als Autorin der Sachbuch-Bestseller »Der Tanz um die Lust« (2007) und »Du sollst nicht funktionieren. Für eine neue Lebenskunst« (2014). »Die psychotische Gesellschaft. Wie wir Angst und Ohnmacht überwinden« (2020) bildet als dritter Teil den Abschluss dieser Trilogie des modernen Lebens. 2016 veröffentlichte sie das psychologische Fachbuch »Ich und Du und Müllers Kuh. Kleine Charakterkunde für alle, die sich und andere besser verstehen wollen«. Auch ihr im Herbst 2021 erschienenes, neuestes Buch »Glücksversuche. Von der Kunst, mit seiner Seele zu sprechen« war ein Spiegel-Bestseller. 

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Leseprobe

I Vom unbestimmten Tier


Das westliche Haus


Vor dem südlichen Balkon auf der kleinen spanischen Vulkaninsel, wo ich für eine Weile lebte, erstrecken sich einige sanft geschwungene Hügel, und in den Wochen meines Hierseins haben wir uns ein wenig angefreundet. Die Hügel sind rot, grün und gelblich im Morgenlicht, braun-ockerfarben am Nachmittag und schwarz und zackig in der Abenddämmerung, die ihre Gestalt wie durch ein Wunder in ferne Pyramiden verwandelt.

Form und Farbigkeit dieser Hügel endgültig zu beschreiben wäre ein ebenso vergeblicher wie poetischer Prozess, und schon der Gedanke daran lässt erahnen, wie es um das Verhältnis von Mensch und Welt bestellt ist: hier das immerwährende Spiel von Licht und Schatten, Werden und Vergehen, dort der Mensch, der alles erfassen, ordnen und verstehen möchte. Wir wohnen in diesem Begreifen. Das immerwährende Beschreiben und Abbilden der Welt ist unser »Haus«, ein Ort, an dem eine uns zuträgliche Atmosphäre herrscht, ein Ort, an dem wir das, was ist, bezeichnen und unterscheiden können und dadurch uns und unser Dasein verstehen.

Etwas auf eine lebbare – und deshalb noch lange nicht »allgemeingültige« oder gar ethisch »richtige« – Weise zu verstehen heißt, sich für einen bestimmten Blick zu entscheiden und dafür einen anderen Aspekt des Ganzen aus dem Blick zu verlieren. Eine Kultur ist die Summe dieser Entscheidungen; ihre wie Häuserwände gezogenen Ein- und Ausschlüsse, Gebote und Verbote ordnen und gewichten die Mannigfaltigkeit des Lebens und geben ihren Bewohnern dadurch einen bestimmten Umgang mit sich und dem Leben vor. Je offener eine Kultur oder eine Gesellschaft ist, desto weiträumiger ist das »Haus«, desto mehr unterschiedliche Zimmer gibt es, desto größer sind die Fenster, durch die seine Bewohner nach draußen, auf die wechselvolle Beständigkeit des Lebens, blicken können.

Alles Lebende sucht Ausdruck und Austausch. Leben ist Bewegung, ein ständiges Schwingen zwischen Polaritäten: Es geht von Tag zu Nacht zu neuem Tag, von Sommer zu Winter zu einem neuen Sommer. Tiefer noch geht es von Ordnung zu Chaos zu neuer Ordnung, von Sein zu Nichtsein zu neuem Sein. Diese Atembewegungen des Lebens verbinden uns als lebendige Wesen mit allem, was ist. Zugleich jedoch müssen wir anerkennen, dass wir zwar an diesem Ganzen teilhaben, es sich aber keinesfalls in unserem eigenen Dasein erschöpft. Und obwohl es an uns liegt, seiner unermesslichen Seinsentfaltung unsere eigenen Seinsmöglichkeiten hinzuzufügen, ist uns ihr übergreifender Sinn entzogen. Alles, was geschieht, hat einen Grund, doch es ist nicht unbedingt sinnvoll – schon gar nicht auf eine Weise, die sich uns Menschen mit unserer beschränkten Wahrnehmungskapazität direkt erschließen würde. Das Leben überschreitet uns und doch können wir spüren, dass dieses unermessliche Ganze ebenso wertvoll wie schön ist und ihm eine tiefe und zugleich verspielte Entfaltungslust zugrunde liegt, die uns auf eine ganz persönliche Weise einlädt, mitzuspielen.

Wenn wir dieser Einladung folgen, fügen wir dem Leben nicht nur unser Dasein, sondern auch unsere Auslegung dieses Daseins hinzu. Diese Auslegung können wir unter Anerkennung unserer beschränkten Wahrnehmungsmöglichkeiten durchaus »Sinn« nennen; sie ist die Antwort, die wir als Menschen mit unseren eigenen und kollektiven Leben auf die Tatsache unseres Hierseins geben und geben müssen. Denn anders als die Tiere, die in eine bestimmte Umgebung hineingeboren sind und sich dort ihrer Natur gemäß einrichten wie die kleinen Kaninchen in den bunten Hügeln, sind wir Menschen unbestimmte Tiere, die sich ihre Lebensumstände selbst schaffen müssen.

Wir stehen nicht nur innerhalb, sondern auch außerhalb der Natur und haben dadurch Anteil am Sein sowie am Nichtsein. Und weil wir zwar wissen, dass wir sind, aber weder, was wir sind noch warum wir sind, haben wir ein Identitätsproblem. Das betrifft nicht nur den Umstand, dass wir sowohl Individuen sind als auch in Gemeinschaft leben, sowohl eine äußere Erscheinung als auch ein Innenleben besitzen, sondern reicht bis zu den Inhalten unseres Bewusstseins selbst. Auch dort existieren Reales und Imaginiertes nebeneinander.

Indem wir diese unterschiedlichen Existenzebenen immer wieder individuell und kollektiv versöhnen, stellen wir den für uns Menschen notwendigen Sinn her. Doch er stellt sich ebenso ein, nämlich dann, wenn die Abstände und Benachbarungen, also die Rhythmen und Resonanzen zwischen den Dingen des Lebens, stimmen und wir mit dieser lebbaren Ordnung, die so viele Formen haben kann, wie es wohnliche Häuser auf dieser Erde gibt, nicht nur dem Eigenen und dem Anderen, sondern ebenso dem Ganzen gerecht werden.

Jede Kultur als »kollektives Haus« ist deshalb eine Wahrnehmungsgemeinschaft, welche die geheimnisvolle Ganzheit des Lebens nicht nur auf eine bestimmte Weise erfährt, sondern auch auf eine bestimmte Weise bewertet und infolgedessen unterschiedlich mit dem Leben und Zusammenleben umgeht. Das betrifft nicht nur den jeweiligen Umgang mit der Natur, den Tieren und der Erde, sondern auch den konkreten Stellenwert, den bestimmte Ausdrucksformen unserer eigenen Lebendigkeit haben. Während beispielsweise viele asiatische ebenso wie afrikanische Kulturen alten Menschen großen Respekt und sozialen Einfluss zugestehen, werden alte ebenso wie schwache oder kranke Menschen in einer ökonomisierten Leistungsgesellschaft, wie sie auch die deutsche Gesellschaft in den letzten Jahren immer mehr geworden ist, zunehmend missachtet und an den Rand gedrängt.

Der Begriff »Haus« empfiehlt sich aber nicht nur wegen seines allgemeinen, sondern ebenso wegen seines besonderen Gehalts, der auf die Wurzeln unserer eigenen westlichen Kultur verweist. In der griechischen Antike wurde noch klar zwischen der privaten Sphäre des oikos, übersetzt als »Haus- und Wirtschaftsgemeinschaft«, und der öffentlichen Sphäre der polis, was »Staat«, »Stadt« oder ursprünglich auch »Burg« bedeutete, getrennt. Diese Trennung ging immer schon zulasten derer, die dadurch vom öffentlichen Leben ausgeschlossen waren – Frauen, Sklaven und Fremde. Auch die »Ökonomie«, von Aristoteles begründet und oikonomia getauft, beschränkte sich als Wissenschaft des guten und gerechten Wirtschaftens zunächst auf die Interessen derer, die mitspielen durften. Wobei der Philosoph jedoch stets betonte, dass nicht die Zirkulation der Waren und Güter, sondern die Gemeinschaft, die polis, das höchste Gut eines jedes Staates sei.

Ironischerweise hat die Jahrhunderte später ebenfalls von unserer Kultur ausgehende Ökonomisierung die gesamte Erde in einen globalen Markt verwandelt, in dem das Private veröffentlicht und das Öffentliche im Gegenzug privatisiert wird. Diese »Implosion« des Politischen zwingt uns dazu, nachzudenken, wie tragfähig unser eigener oikos letztlich ist und wie darüber hinaus ein oikos aussehen könnte, das groß und geräumig genug ist, allen Mitgliedern unserer Spezies einen angemessenen Raum auf dieser Erde zu geben – und zugleich dem, was mit uns lebt.

Der zur Bewältigung dieser Krise notwendige Rückbezug auf das jeweils Andere und damit auf den »Schatten« unserer Wahrnehmungsgewohnheiten ist ebenso wie die Besinnung auf das Ganze letztlich eine optische Selbstkorrektur. Denn obgleich sich das Ganze des Lebens im Bewusstsein jedes Einzelnen spiegelt, wird es dort zugleich gebrochen. Es ist uns Menschen physikalisch unmöglich, zwei Aspekte oder Zustände einer bestimmten Polarität gleichzeitig wahrzunehmen. Wenn wir das »Eine« fokussieren, wird das »Andere« unscharf. Wenn man sich über jemanden ärgert, kann man nicht gleichzeitig an dessen liebenswürdige Seiten denken. Wenn es kalt ist, spürt man keine Wärme. Und wenn die Physiker Lichtquanten beobachten, sehen sie diese entweder als Welle oder als Teilchen, aber niemals in ihrer Doppelnatur.

Deshalb bezeichnen wir mit dem »Einen« oder »Eigenen« im Folgenden denjenigen Aspekt einer Sache, auf den der eigene Blick gewohnterweise fällt, während das »Andere« dasjenige ist, das durch diesen fokussierenden Blick in den »Schatten« der eigenen Wahrnehmung gerückt ist. Dieses »Andere« bezeichnet deshalb nicht nur die Wahrnehmungsgrenzen des Einzelnen, sondern ebenso das, was eine Kultur als kollektive Wahrnehmungsgemeinschaft an den Rand gedrängt, also ver-drängt hat. Das Sprechen des Anderen oder die Rückkehr des Verdrängten beschreibt folglich den Moment, in dem sich ein bestimmter Schatten lichtet und dabei etwas vorher Unerblicktes oder schlicht Ignoriertes in den Bereich...

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