Der Junge mit der Ziehharmonika
Wie Günter Pappenheim nach Buchenwald kam und siebzig Jahre später rote Rosen erhielt
Am 14. Juli klingelt ein Fleurop-Bote bei Günter und Margot Pappenheim in Zeuthen bei Berlin. Die beiden vermuten, dass es sich um einen Irrtum handelt. Keiner von ihnen hat Geburtstag. Die Adresse auf dem Paket jedoch ist korrekt. Kein Irrtum. Fünfzig prachtvolle rote Rosen. Ein »Gruß aus Frankreich«. Im beiliegenden Brief aus Paris heißt es:
»Lieber Kamerad Günter,
wie könnten wir je diese Geste von Freiheit, Solidarität, Gerechtigkeit vor genau 70 Jahren, am 14. Juli 1943, vergessen, als Du auf Bitte unserer Landsleute, die großes Heimweh empfanden, unsere Nationalhymne vorgespielt hast? Dafür erwarteten Dich Verhaftung, Verhöre und fast zwei Jahre großes Leiden und unheilbare Wunden in Buchenwald.«
Unterzeichnet ist das Schreiben an Günter Pappenheim, den Vorsitzenden der deutschen Lagerarbeitsgemeinschaft Buchenwald-Dora, vom Präsidenten des Internationalen Buchenwaldkomitees Bertrand Herz und anderen ehemaligen Buchenwaldhäftlingen und Zwangsarbeitern. Günter Pappenheim erinnert sich:
Es war in Schmalkalden. Er ist Schlosserlehrling in der Werkzeugfabrik »Gebrüder Heller«. Neben dem Betrieb gibt es ein Lager, mit einfachem Stacheldraht umgeben. Der 17-Jährige blickt sich um, kein Mensch weit und breit. Das Lager ist nicht streng bewacht. Günter kriecht durch ein Loch im Zaun. Kein leichtes Unterfangen mit dem Gepäck, das er bei sich trägt: Brot, Rüben und Weinbergschnecken. Endlich ist es geschafft. Schnellen Schritts eilt er zur Werkhalle, in der er seine Freunde weiß. Sie sind immer freundlich zu ihm. Ganz im Gegensatz zu den Lehrlingen und einstigen Schulkameraden; von denen will keiner etwas mit dem Sohn eines »Verräters« zu tun haben. »Mein Bruder Kurt, meine Schwestern und ich wurden nach der Verhaftung meines Vaters von Gleichaltrigen geschmäht.«
Sein Vater, Ludwig Pappenheim, Vorsitzender der Schmalkaldener SPD und langjähriger Abgeordneter des Landtages Hessen-Nassau, ist am 25. März 1933 verhaftet worden. Mutig beschwerte er sich über die Willkür. Offenbar wollten »scheinbar ehemals demokratische Beamte ihre politischen Minderwertigkeitskomplexe durch energisches Vorgehen gegen Sozialdemokraten abreagieren«, schreibt er. Tatsächlich haben im Justizapparat viele kaiserliche, stockreaktionäre Beamte die Weimarer Republik überwintert, um nun eilfertig den Nazis zu dienen. Ludwig Pappenheim ist zu Zeiten des Bismarckschen Sozialistengesetzes geboren worden. Alle Verordnungen und Repressalien »gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie« hatten jedoch genau das Gegenteil bewirkt. Die Sozialdemokratie erstarkte; aus den Reichstagswahlen 1912 ging sie als Siegerin hervor, gewann 110 Mandate. Das beflügelte natürlich das Selbstbewusstsein der Genossen. Ludwig Pappenheim wurde 1905 Mitglied der SPD.
Die »Burgfriedenspolitik« seiner Partei im August 1914, zu Beginn des Ersten Weltkrieges, enttäuschte ihn indes zutiefst. Nachdem der sozialdemokratische Abgeordnete Karl Liebknecht als erster im Reichstag seine Stimme den Kriegskrediten versagte, setzte er sogleich freudig einen Brief auf: »Werter Genosse Liebknecht! Nachdem mir heute der Genosse Curt Böhne aus Jena eine Abschrift Ihrer Erklärung vom 2.12. im Reichstag zugesandt hat, fühle ich mich gedrungen Ihnen mitzuteilen, daß ich, wie die große Zahl der Genossen des Kreises Schmalkalden auf dem gleichen Boden stehe.«
Doch auch Ludwig Pappenheim musste in die feldgraue Uniform schlüpfen. An der Front agitierte er unermüdlich gegen den imperialistischen Krieg. Zu dessen Ende wurde er, obwohl inzwischen Träger des Eisernen Kreuzes, gar noch vor ein Kriegsgericht gestellt. Sein »Verbrechen«: Er hatte ein Flugblatt, »Kameraden erwacht!«, verfasst, in dem er anklagte: »Die Erde scheint nichts weiter als ein großer Mordplatz! Alle Schuld an dem rasenden Völkermorden trägt das System der kapitalistischen Ausbeutung der Massen durch eine Minderheit Kapitalbeherrscher.«
Als am 9. November 1918 Philipp Scheidemann von einem Balkon des Reichstages in Berlin das Ende des Kaiserreiches und die »Deutsche Republik« verkündete und kurz danach Karl Liebknecht vom Balkon des Berliner Stadtschlosses die »Freie Sozialistische Republik Deutschland« ausrief, war Ludwig Pappenheim Feuer und Flamme. Doch in Schmalkalden schlug die Revolution keine Wurzeln. »Über die Stadt wurde der Ausnahmezustand verhängt und mein Vater wegen angeblichen Landfriedensbruchs ins Zuchthaus Kassel-Wehlheiden gesperrt«, berichtet Günter Pappenheim. Ohnmächtig musste sein Vater in der Zelle miterleben, wie die »Eberts und Scheidemänner«, die führenden Funktionäre der Soziademokratie, die Revolution verrieten.
Bereits während des Krieges war Ludwig Pappenheim aus der SPD aus- und in die 1917 im thüringischen Gotha von linken Sozialdemokraten wie Arthur Crispien, Wilhelm Dittmann und Georg Ledebour gegründete Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschland (USPD) eingetreten. Als diese sich dann teilte, ein Flügel sich 1920 der Kommunistischen Partei Deutschland anschloss und der andere zwei Jahre darauf in die SPD zurückkehrte, entschied sich Ludwig Pappenheim trotz aller vormaligen Enttäuschungen wieder für den Mitgliedsausweis der Sozialdemokratie.
Sein Vater habe früh erkannt, welche Gefahr von den sich um Hitler gruppierenden »Nationalsozialisten« ausging, berichtet Günter Pappenheim. Die Nazis wurden immer frecher, immer aggressiver. Der Putschversuch am 8./9. November 1923, der »Marsch auf die Feldherrnhalle« in München, war ein Menetekel. Fortan war Ludwig Pappenheim nimmermüde, in der von ihm mit dem Erbe seines Vaters, eines jüdischen Kaufmanns, gegründeten Zeitung, »Die Volksstimme«, vor den Faschisten zu warnen. Die ihn ihrerseits auf ihre schwarze Liste setzten.
Ludwig Pappenheim mit seinen Kindern Günter, Kurt und Ruth (v.l.n.r.), 1932
Günter Pappenheim, einige Monate nach der Befreiung
Moorsoldaten und Marseillaise
Schmalkalden war schon 1924 fest im Griff der Nazis. Wie Thüringen und Hessen, die beiden Länder, zu denen die Stadt geografisch und administrativ gehörte. 1930 errangen in Thüringen die Nazis erstmals zwei Ministerposten in einer Landesregierung, zwei Jahre darauf waren es derer fünf. NS-Gauleiter und Innenminister Fritz Sauckel drohte im thüringischen Landtag unmissverständlich: »Wir werden selbstverständlich die Macht, die uns das thüringische Volk bei der letzten Wahl gegeben hat, in jeder Beziehung ausnutzen!«
Einer der ersten, die diese Ankündigung zu spüren bekamen, war Ludwig Pappenheim. Er war von einem politischen Konkurrenten in Schmalkalden, Landrat Ludwig Hamann, angezeigt worden – er soll angeblich ein illegales Waffenlanger angelegt haben. Eine unerhörte Unterstellung. Dennoch wurde Ludwig Pappenheim zu drei Monaten Haft verurteilt. Er erhob Einspruch bei den zuständigen Stellen: »Ist dieser Staat so schwach, dass er, wenn jemand bedroht wird, diesen und nicht den Drohenden festsetzt? Statt diese zur Rechenschaft zu ziehen, wie es in einem geordneten Staat geschehen müsste, sperrt er den Bedrohten ein.«
Sein Einspruch blieb ungehört. Die Nazis ließen Ludwig Pappenheim nicht mehr aus ihren Klauen. Nach Verbüßung der Haftstrafe wurde er nicht entlassen, sondern in »Schutzhaft« genommen. Er kam ins KZ Breitenau bei Kassel. Am 16. Oktober 1933 wurde er ins Börgermoor bei Papenburg im Emsland »überstellt«, eines der ersten Konzentrationslager in Nazideutschland, das damals noch dem Reichsjustizministerium unterstellt war und von »Schutzpolizisten« bewacht wurde; erst später wurden die Moorlager von der SS übernommen.
Kannte Ludwig Pappenheim das »Lied der Moorsoldaten«? Ja, bestätigt sein Sohn. Es wurde am 27. August 1933 erstmals von Börgermoor-Häftlingen, einstigen Mitgliedern des Solinger Arbeitergesangvereins, gesungen. Der Text stammte vom Kommunisten und späteren DDR-Schauspieler und Regisseur Wolfgang Langhoff sowie Johann Esser, einem ehemaligen Bergmann; der Kommunist Rudi Goguel komponierte die Melodie.
Den Wachmannschaften war es zunächst recht, dass es ein »Marschlied« für die Arbeitskolonnen gab, die sie ins Moor zu dessen Kultivierung trieben. Doch dann erfassten sie die subversive Botschaft der letzten Strophe und verboten das Lied. Es war nicht zu verbieten, wurde durch entlassene oder geflüchtete Häftlinge über die Lagergrenzen und die Grenzen Nazideutschlands hinaus getragen und zu einem der beliebtesten Lieder der Internationalen Brigaden im Spanienkrieg wie auch in der französischen Résistance. Günter Pappenheim kennt es natürlich:
»Wohin auch das Auge blicket,
Moor und Heide nur ringsum.
Vogelsang uns nicht erquicket,
Eichen stehen kahl und krumm.
Wir sind die Moorsoldaten
und ziehen mit dem Spaten
ins Moor.«
Die letzte Strophe des Moorsoldatenliedes verkündete trotzig:
»Doch für uns gibt es kein Klagen,
ewig kann’s nicht Winter sein.
Einmal werden froh wir sagen:
Heimat, du bist wieder mein.
Dann zieh’n die Moorsoldaten
nicht mehr mit dem Spaten
ins Moor!«
Ewig kann’s nicht Winter sein – davon war auch Ludwig Pappenheim überzeugt. Es sollte ihm jedoch nicht vergönnt sein, den...