ESSAY I
Die beste Bundesrepublik aller Zeiten
Die Bundesrepublik der Sechziger- und Siebzigerjahre war ein Glücksfall in der deutschen Geschichte. Die junge Bundesrepublik hatte Glück. Vielleicht in dem Ausmaß, in welchem sie es hatte, nicht verdient, aber doch selbst erarbeitet. Nach den Schrecken der Nazizeit hatte sie, anders als die DDR, das Glück, im Westen Deutschlands zu liegen und Teil der westlichen Allianz zu werden. Vom Start an hatte sie Glück mit der Einführung der D-Mark am 20. Juni 1948 und einem gelungenen Grundgesetz, mit dessen Inkrafttreten im Mai 1949 die eigentliche Existenz der Bundesrepublik ihren Anfang nahm.
Auch mit ihrem ersten Kanzler, Konrad Adenauer, der am 15. September 1949 mit einer Stimme Mehrheit vom Bundestag gewählt wurde, hatte die Bundesrepublik Glück. Glück hatte sie auch mit dem ersten Bundespräsidenten Theodor Heuss, mit dem die Bundesrepublik zugleich einen starken Gegenpart zum machtbewussten Adenauer besaß.
Die wirtschaftliche Entwicklung aus den Trümmern des Krieges in den Fünfzigerjahren war atemberaubend. Bereits 1960 war die Bundesrepublik die zweitgrößte Industrienation hinter den USA, Vollbeschäftigung war erreicht.
Um die Qualität dieses wirtschaftlichen Aufschwungs aus zerstörten Industrieanlagen, den zerstörten Häfen Hamburg und Bremen, zerstörten Innenstädten und dem zerstörten Wohnraum – circa 25 % aller Wohnungen in Westdeutschland lagen nach dem Krieg in Schutt und Asche – zu verstehen, ist eine demografische Ergänzung zur bloßen Feststellung dieses Aufschwungs hilfreich; man muss sich vorstellen, wie viele Millionen Menschen in diesen Jahren zusätzlich auf den Arbeitsmarkt strömten und Arbeit fanden, um die Dimension der geschaffenen Arbeitsplätze zu begreifen:
Die Bundesrepublik erlebte bis 1961 einen Zuzug von 3,1 Millionen Menschen aus der DDR und insgesamt 8 Millionen Menschen seit 1945 aus den früheren deutschen Ostgebieten und etlichen osteuropäischen Ländern. Diese Menschen, die durch Flucht, Vertreibung und schließlich die unerträglichen Lebensbedingungen in den Nachkriegsjahren im Bereich dessen, was später der Ostblock genannt wurde, in die Bundesrepublik strömten, mussten in Wirtschaft und Gesellschaft integriert werden, und das in einer Zeit, in der durch neue Techniken zum ersten Mal Arbeitsplätze in größerem Stil wegrationalisiert wurden. In der Landwirtschaft war der Verlust an Arbeitsplätzen aufgrund neuer Maschinen besonders krass, aber auch die dadurch betroffenen Menschen wurden sofort mit Arbeit versorgt.
Dazu kam: Bereits 1955 wurde das erste Anwerbeabkommen zwischen Deutschland und Italien, auch und besonders auf Wunsch Italiens, von Bundeskanzler Adenauer in Rom unterzeichnet, die erste Anwerbung von sogenannten Gastarbeitern aus Italien begann. Es folgten entsprechende Abkommen mit Spanien (1960), Griechenland (1960), der Türkei (1961), Marokko (1963), Südkorea (1963), Portugal (1964), Tunesien (1965) und Jugoslawien (1968). Erst 1973 gab es unter der sozialliberalen Koalition einen Anwerbestopp. Danach begann bei den »Gastarbeitern«, die blieben, also nicht mehr Gast sein wollten, die große Welle des Familiennachzugs.
Bereits 1964 wurde der einmillionste Gastarbeiter, ein Portugiese, in der Bundesrepublik gezählt. 1973 lebten per Saldo knapp 4 Millionen ausländische Arbeitssuchende in der Bundesrepublik, eine teils größere Fluktuation eingerechnet.
Trotz all dieser Manpower überstieg die Zahl der offenen Stellen in der Bundesrepublik einige Jahre lang die Zahl der Arbeitslosen im Land. Es gab in der Spitze über weite Strecken bis zu einer Million offene Stellen, was die Arbeitslosenzahlen im Zeitraum zwischen 1960 und 1973 von circa 155000 bis 250000 (von der leichten wirtschaftlichen Delle von 1967 und 1968, wo es bis zu 460000 Arbeitslose gab, abgesehen) in einem anderen Licht erscheinen lässt. Unter dem ersten sozialdemokratischen Bundeskanzler Willy Brandt stieg die Arbeitslosigkeit ab 1973 dann erstmalig wieder an, doch der Wirtschaftsboom lief unverwüstlich weiter.
Der berühmte Antagonismus zwischen Kapital und Arbeit war in diesen Jahren regelrecht aufgelöst, die Waage zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern war sehr sozial ausgeglichen. Das Bruttosozialprodukt stieg in rasantem Tempo. Die Investitionssteuer – ja, es gab eine Investitionssteuer – wurde von Mai 73 bis November 73 als kurzzeitiges Wirtschaftssteuerungsinstrument eingeführt, um das überschäumende Wirtschaftswachstum herunterzumoderieren. Der weltweite Ölschock von 1972, als die Ölförderländer den Westen seine Abhängigkeit vom schwarzen Gold spüren ließen und eine massive Verknappung des Rohstoffes drohte, hatte die Volkswirtschaften des Westens schwer getroffen. Nichtsdestotrotz lief die Wirtschaft nach kurzer Zeit wieder auf Hochtouren, um nicht zu sagen übertourig. Deswegen sollte mit der Investitionssteuer von 1973 die Investitionstätigkeit der Wirtschaft auf ein niedrigeres Niveau heruntergefahren werden.
Inflation, heutzutage zu einem Synonym für öffentliche Schuldentilgung geworden, galt damals als Feind wirtschaftlicher Stabilität. Nach kapitalistischen Marktgesetzen war es unvermeidlich, dass es den Arbeitnehmern in der Bundesrepublik prächtig ging. Und noch mal: Über viele Jahre hinweg gab es in der Bundesrepublik Vollbeschäftigung und einen teils millionenschweren Überhang an offenen Stellen. Und was Vollbeschäftigung nach Marktgesetzen zwangsläufig wirklich bedeutete, kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen:
Nicht erst heute sucht die Wirtschaft angeblich oder tatsächlich dringend Arbeits- und Fachkräfte. Nein, damals gab es einen ausgesprochenen Arbeitnehmermarkt, der jenseits aller Gesetzeslagen die Machtverhältnisse Richtung Arbeitnehmerseite austarierte, und dies trotz der massenhaften Anwerbung sogenannter Gastarbeiter. Die Gewerkschaften, denen die Arbeitnehmer damals noch vielfach die Treue hielten, waren mächtig wie nie.
Die Lohnzuwächse waren erheblich, und auch derjenige, der am Fließband malochte, gönnte sich nach Kühlschrank, Waschmaschine und dem ersten Farbfernseher die regelmäßigen Flug- oder Autoreisen in den sonnigen Süden. Mallorca war schon Mitte der Sechzigerjahre zur »Hausfrauen- und Sekretärinnen-Insel«, zum Urlaubsparadies für jedermann geworden. So sehr, dass es fast ausgeschlossen schien, dass es auf der Baleareninsel noch einmal einen Luxusboom obendrauf geben könnte, wie er seit den Neunzigerjahren zu beobachten ist.
Das Arbeitsrecht entfaltete auch dank einer sich plötzlich besonders arbeitnehmerfreundlich gerierenden Richterschaft eine enorme Wirkung, und zwar zugunsten der Arbeit und zulasten des Kapitals. Das große Thema der Mitbestimmung entwickelte sich, die Betriebsräte wurden immer mächtiger. »Chef, gib mir meine Papiere, ich hab was Besseres!« oder »Das oder du passt mir nicht mehr!« – das war Standard. Die ersten Taschengeld-verwöhnten Generationen von Schülern und Studenten konnten, wenn ihnen danach war, Geld generieren, wann und wo immer sie wollten. Die Jobs für sie lagen im wahrsten Sinne des Wortes auf der Straße und wurden gut bezahlt.
Rasantes Wirtschaftswachstum, Vollbeschäftigung und die damit einhergehende Euphorie, die Veränderung des Lebensstandards und Lebensstils beherrschten das wirtschaftliche und gesellschaftliche Geschehen im Land über Jahrzehnte. Auch wenn der Blick auf die Arbeitslosenquote, also auf die Prozentzahl allein, problematisch ist, weil man unvergleichbare Verhältnisse leicht gleichsetzen könnte, lässt sich per Saldo doch das Bild eines historischen Glückszustandes namens Bundesrepublik Deutschland zeichnen, und entsprechend war die Stimmung: ausgelassene Sorglosigkeit mit der Aussicht »für immer«.
Es war die Blütezeit der besten Republik, die es auf deutschem Boden je gab. Das Hauptproblem der Zeit war, dass es kein Problem gab. Natürlich ist nichts so gut, als dass es nicht noch verbessert werden könnte. Auch in dieser herrlichen Bundesrepublik gab es Menschen, die auf der Schattenseite lebten. Die Zahl der abgehängten Menschen war allerdings kleiner als zuvor und sehr viel kleiner als heutzutage.
Die Menschen hatten ihre persönlichen Träume von noch mehr Wohlstand, noch mehr Freizeit, aber auch von Bildung für jedermann: Die Abiturientenzahlen stiegen Jahr für Jahr.
Aufstieg, Karriere und die touristische Eroberung der Welt beschäftigten die Menschen. BIP und Wachstum stimmten und dito die Demografie. Eine ausgelassene Sorglosigkeit mit der Aussicht, dass dies jetzt für immer so bleiben und sogar noch besser werden würde, war das Grundgefühl der Zeit, und diese positive Aufstiegsstimmung half auch denjenigen Menschen, wieder Tritt zu fassen, die persönliche Probleme oder Schicksalsschläge erlitten hatten.
Man ging ins Kino, die Theater waren voll, das Sportangebot stieg, diversifizierte sich und wurde immer luxuriöser. Die Mode wurde internationaler, bunter, Musik spielte eine immer wichtigere Rolle.
Mit den ersten italienischen Gastarbeitern kamen Ende der Fünfzigerjahre die ersten kleinen Pizzerien auf. Man ging plötzlich zum »Italiener«, damals noch nicht »Edelitaliener«, aber wahnsinnig nett, persönlich und zuvorkommend. Pizza, Spaghetti und Chianti für wenig Geld schmeckten den Deutschen irrsinnig gut. Hier bahnte sich eine kleine Revolution der Esskultur an. Dann schossen auch griechische und chinesische Restaurants aus dem Boden. Neu, erschwinglich und enthusiasmierend waren die ersten Besuche in diesen kleinen Familienbetrieben, die bald in jeder Kleinstadt zu finden waren.
Waren die Flugreisen in...