II. Kontinuität und Umbruch. Religion, Politik, soziale Ordnung am „Vorabend der Reformation“
Es nimmt der historischen Persönlichkeit nichts von ihrem Charakter, wenn betont wird, daß sie eingebunden ist in die großen Linien historischen Wandels. Das gilt auch für Martin Luther (1483–1546). Selbst wenn die protestantische Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts seit Leopold v. Ranke die zäsursetzende Bedeutung des Wittenberger Reformators besonders hervorgehoben hat, bleibt das Ergebnis der jüngeren Forschung als Relativierung bemerkenswert: Luthers reformatorisches Anliegen war keineswegs so neu wie dies gerne behauptet wurde. Es läßt sich einordnen in eine lange Tradition der Kirchenkritik und der Bemühungen um Kirchenreform seit dem Spätmittelalter.
Äußerlich schienen die weitreichenden Krisen des 14. und 15. Jahrhunderts in Gestalt von Schismen und Konzilsbewegungen überwunden. Die zahlreichen Reformbewegungen – die älteren v.a. in den Orden und in der Seelsorge (devotio moderna), die jüngeren in Gestalt der humanistisch geprägten Erneuerungsversuche (eruditio christiana) – waren kirchenkonform; es ging um die „Reinigung“ der Kirche, um ihre Rückkehr zu den ursprünglichen Formen. Zu Recht wird dies in der Forschung als „evolutionärer Weg der Erneuerung“ beschrieben (Lutz, Einheit, S. 96). Nehmen wir hinzu, worauf v.a. der Göttinger Kirchenhistoriker Bernd Moeller unermüdlich hingewiesen hat, daß nämlich am Vorabend der Reformation die Intensität der Frömmigkeit unter den Gläubigen in Deutschland einen Höchststand erreichte (Moeller, Zeitalter, S. 38), so wird die Frage immer brennender: Warum wird gerade die Thesenpublikation des Augustinereremiten und Wittenberger Theologieprofessors Luther zu einem derart „weltbewegenden“ Ereignis? Und warum gewann die reformatorische Bewegung gerade in Deutschland (von den Zeitgenossen als Altes Reich bezeichnet) und gerade zu diesem Zeitpunkt eine so weitreichende Wirkung?
1. Humanismus und Reform von Kirche und Reich
Wir haben damit die Fragen nach den religiös-kirchlichen, die zugleich diejenigen nach den politisch-verfassungsmäßigen Zuständen im Alten Reich am Vorabend der Reformation waren, gestellt. Offensichtlich hatten gerade in der spätmittelalterlichen Gesellschaft Deutschlands die allgemeinen Spannungen, Ungleichzeitigkeiten und Widersprüche, die im Europa der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert überall zu bemerken waren, einen Umfang erreicht, der auf Entladung zusteuerte. Die Geschicke des Alten Reiches waren zudem mit demjenigen des Papsttums auf intensivere Art und Weise verbunden als diejenigen der v.a. westeuropäischen, im Werden begriffenen nationalen Gesellschaften jener Jahrzehnte. Und schließlich war die Auffassung weit verbreitet, daß es in hohem Maße legitim, ja Christenpflicht sei, die Reinigung und Reform der Kirche zu betreiben, um das Wachstum der Frömmigkeit und die Entwicklung der Kirche zu befördern. Eben dies war das Besondere der humanistischen Reformbewegung! Daß ihr Anliegen stets in die Welt hineinwirkte, selbst wenn zuvörderst die Reform der kirchlichen Institutionen gemeint war, wußten auch die Humanisten, insbesondere diejenigen unter den Reformatoren.
Der Humanismus war in erster Linie eine Bildungsbewegung, der es unter dem Einfluß der italienischen Renaissance um die Wiederbelebung der Kultur der klassischen Antike ging, die in Deutschland zur Erforschung der Traditionen auch des deutschen Altertums führte und darin erste Ansätze einer nationalen Identität formulierte. Der Humanismus als Bewegung im Interesse tiefergreifender Bildung der Eliten wirkte „im Bewußtsein laikaler Eigenständigkeit und Überlegenheit“ (Moeller, Zeitalter, S. 43) und entfaltete breite Wirkung für die kirchliche Reformbewegung. In der Person seines bekanntesten Vertreters Erasmus von Rotterdam (1466/69–1536) fügte sich theologische Grundkritik mit der humanistischen Bildungsreform zusammen. Eine humanistische Theologie, die sich mit der akademischen Lehre der Scholastik auseinandersetzte, gab es schon seit geraumer Zeit. Sie besaß eine spezifische Struktur und „die Frage der christlichen Lebensführung des Einzelnen, […] das Ernstnehmen der christlichen Morallehre“ waren der Grund für die prägende Kraft jener Elitenbewegung (Moeller, Zeitalter, S. 44/45). Sie fand ihren Platz deshalb vor allem im Umkreis der Universitäten und in den literarischen Zirkeln der um Bildung bemühten Stadtbürger.
Der in diese Richtung wirkende Humanismus begünstigte die Akzeptanz der Kirchenkritik unter den Zeitgenossen. Diese war kein Phänomen der Eliten allein. Die tiefe Religiosität der Zeit intensivierte das Empfinden für die Unzulänglichkeiten der geistlichen Amtsträger einerseits, der Kirche als Institution andererseits. Darin äußerte sich die neue Dimension der Kirchenkritik: im Unterschied zum Ruf nach einer reformatio ecclesiae im hohen Mittelalter richtete sich diese nun erstens gegen die Kirche selbst, insbesondere gegen das Papsttum; der Ruf nach einer Reform an „Haupt und Gliedern“ war kennzeichnend. Zweitens hatte sich eine neue soziale Basis für die Reformforderungen gebildet: nicht mehr fromme Kleriker allein wie im Hochmittelalter riefen nach Änderungen, nun waren es die Laien selbst in Gestalt des erwähnten gebildeten Bürgertums, der städtischen Obrigkeiten, der Landesherren.
Am sichtbarsten wurden die Mißstände innerhalb der Priesterschaft. Vor allem der Mißbrauch des geistlichen Amtes als Versorgungsinstitution erregte tiefen Unmut, denn dadurch traten dessen pastorale Aufgaben in den Hintergrund. Zugleich zeigte sich hier die soziale Problematik der alten Kirche, die in ihrer Struktur als „Adelskirche“ begründet war. Während die hohe Geistlichkeit zumeist dem hohen Adel entstammte, rekrutierten sich alle anderen Kleriker aus den übrigen Gruppen der Gesellschaft, d.h. aus dem Stadtbürgertum und der bäuerlichen Bevölkerung, selbst wenn die viel zitierten Bauernsöhne keineswegs das große Potential des Klerus bildeten, von dem häufig noch immer gesprochen wird. Die Distanz zwischen hoher und niederer Geistlichkeit war auch eine soziale; sie wurde stabilisiert durch die damit verbundenen wirtschaftlichen Unterschiede. Denn während der hohe Klerus durch ausreichende Pfründen versorgt war, fehlte dem niederen Klerus (sowohl dem Welt- als auch dem Ordensklerus, wobei beide Gruppen in den Gemeinden die pastoralen Aufgaben wahrnehmen konnten) recht häufig eine ausreichende wirtschaftliche Absicherung. So gab es Kapläne, die mit einem Viertel des Lohns eines Maurergesellen am Anfang des 16. Jahrhunderts auszukommen hatten. Die wiederholt geübte Praxis der Pfründenkumulation und Abwesenheit vom Pfarrort verschärfte das Problem in seiner Wirkung auf die Gemeinden weiter: die Pfarrverwalter, die stattdessen die pastoralen Aufgaben wahrzunehmen hatten (um 1500 waren davon am Niederrhein z.B. die Hälfte aller Pfarreien betroffen), wurden nur unzureichend bezahlt, ihre persönliche oder auch theologische Eignung waren selten Kriterien für ihre Anstellung.
Distanz zwischen hohem und niederem Klerus bestand aber schließlich auch aufgrund der verfassungsrechtlichen Sonderstellung, die die meisten Bischöfe und viele Äbte als Reichsfürsten im Alten Reich innehatten. Die damit gebotene Verbindung zwischen geistlichem Amt und weltlicher Macht beschleunigte die Verweltlichung der Amts- und Lebensführung dieser Würdenträger; aus ökonomischen Gründen war sie im übrigen auch zum Problem des niederen Klerus geworden. Denn insbesondere die schlecht ausgestattete und zudem unzureichend ausgebildete Landgeistlichkeit war im Rahmen des kirchlichen Abgabensystems gezwungen, alle Gebühren für kirchliche Amtshandlungen unerbittlich einzutreiben, als Zusatz zum Lebensunterhalt z.B. Gastwirtschaften oder andere Handelsgeschäfte zu betreiben. Nimmt man hinzu, daß das Konkubinat recht weit verbreitet war, so ist das Bild geschlossen: dem Zwang zur Verweltlichung konnten sich nur wenige entziehen, die von den Laien erwartete Vorbildlichkeit der Lebensführung verkehrte sich in ihr Gegenteil, die Unglaubwürdigkeit vieler geistlicher Amtsträger war Realität.
Aus dieser Beschreibung folgt nicht, daß die Alte Kirche insgesamt verrottet gewesen wäre, wie dies im Kirchenkampfklima des Kaiserreichs der achtziger und neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts beschrieben wurde. Die Gegendarstellung des katholischen Kirchenhistorikers Johannes Janssen (1829–1891) hat zur Korrektur dieser Analyse zahlreiche Belege gesammelt, die für die heutige Forschung weiterhin Gültigkeit haben; der Reformationshistoriker der Weimarer Republik, Paul Joachimsen (1867–1930), wies darauf zu Recht hin. Trotz der beschriebenen Mißstände existierten durchaus intakte Klöster; verantwortungsbewußte Priester und Bischöfe versuchten ihre pastoralen Pflichten zu erfüllen. Und auch der stets so beklagte niedrige Bildungsstand der Kleriker war nicht durchgängige Realität. Universitätsbildung z.B. war in 30 bis 50 % der Fälle vorhanden, allerdings ohne...