1 EIN BILD DER REFORMATION
Beginne nicht mit der Sache selbst, sondern mit Lektionen darüber. Auf einem stark nachgedunkelten und ohnehin recht unübersichtlichen Gemälde in Schweinfurt, entstanden in den 1590er Jahren zur Erinnerung an die wenige Jahrzehnte alte Reformation, ist der lutherische Altartisch voller Zitate, und es wimmelt von Heiligen, Geistlichen und Gläubigen (Abb. 131).[1] Der Altar bekundet die Reform des Gottesdienstes. Die Laien empfangen die Kommunion in Gestalt von Brot und Wein. Die Bilder und Texte hinter dem Altartisch, wo üblicherweise ein gemaltes oder geschnitztes Retabel stand, bekräftigen, dass Wein und Brot mit Luthers Worten «wahre» Zeichen sind – nicht nur Signale für etwas anderes, sondern das Bezeichnete selbst: Christi Leib und Blut. Eine geschwungene rote Linie, versehen mit dem Schriftzug «das Blut Jesu Christi», verbindet die Seitenwunde des Gekreuzigten mit dem Kelch auf dem Tisch. Schematisch wie ein Diagramm, aber die leibliche Gegenwart Christi in der Eucharistie betonend, irritiert dieser Strahl in der ansonsten typischen Szene eines lutherischen Gottesdienstes im Jahr 1590. Dasselbe gilt für das (dogmatisch motivierte) «Wasser», das aus Christi Wunde in einem Bogen zu dem Säugling im Taufbecken weiter hinten fließt. Auch der Apostel Paulus sowie die Synoptiker Matthäus, Markus und Lukas personifizieren die biblische Grundlegung des Altarsakraments. Sie halten eine Tafel mit Christi Einsetzungsworten und sind in diesem zeitgenössischen Gottesdienst gleichfalls leibhaftig zugegen. Als wären sie lebendig gewordene Phantasiegestalten eines geschnitzten Altarretabels, bringen die gestikulierenden Pädagogen die sich vor ihnen vollziehende Handlung ins Stocken und lassen die realen Individuen zu beflissenen Teilnehmern verblassen. Als Erinnerungsbild wird der Altar zur Apotheose einer Erklärung, die das in den Hintergrund drängt, was erklärt wird.
Stellen die Figuren hinter dem Altar tatsächlich «die Sache selbst» dar, nach der wir suchen: das lutherische Altarretabel? Konstituieren Ehrentuch, Kruzifix und Verfasser der Evangelien einen jener christlichen Altaraufsätze – gemalt, geschnitzt, gestickt oder sonstwie handwerklich hergestellt –, wie sie bereits im 9. Jahrhundert in Erscheinung traten und im späten 13. Jahrhundert gängige Praxis wurden?[2] Ein solcher traditioneller Flügelaltar mit figürlicher Darstellung befindet sich oberhalb der Trauungsszene auf der linken Bildseite des Schweinfurter Gemäldes ganz hinten. Doch die Phantasiegestalten und -objekte hinter dem Abendmahltisch dürfen nicht als handwerklich hergestellte Objekte im realen Raum verstanden werden – als geschnitztes Kruzifix zum Beispiel, aus dem Wasser und Wein wie aus einem wundersamen Tischbrunnen sprudeln. Christus, sein Blut, die Bibelautoren und die ihren Schriften entnommenen Verse erfüllen vielmehr die Funktion von Zuschreibungen – genau wie die Inschriften in goldenen Buchstaben, die überall auf der braun grundierten Leinwand verstreut sind. Das mit Inschriften übersäte und umrahmte reformatorische Altargemälde dient als ein Traggerüst für Geschriebenes. Seine Bilder stehen gewissermaßen in Anführungszeichen. Doppelt auf Distanz gesetzt, veranschaulichen sie Worte und hinter diesen Worten das, was diese Worte, wenn man sie liest, veranschaulichen. Hinter dem Altar, wo Christus sich selbst zur Speise gibt, hinter diesem Empfang Christi im Herzen – des Geistes im Geist – haften die Bilder auf der Leinwandoberfläche wie seltsame Schriftzeichen in einem alten Buch.
Der Raum hinter diesen Zitaten freilich stürzt in die Tiefe. Wir sehen das Innere einer riesigen Kathedrale, das alle Requisiten und Praktiken der lutherischen Religion inventarisiert. Die Kathedrale steht für den Ort und die Institution «Kirche». Vollgepackt mit Bildern und Worten, wirkt die Szenerie wie eine Wandkarte des Luthertums, die hinter der im Vordergrund dargestellten Episode hängt. Wie die Bildunterschrift erläutert, zeigt die Szene Kaiser Karl V. auf dem Reichstag zu Augsburg im Jahr 1530, während er aus den Händen der lutherischen Fürsten und Städte das Bekenntnis des evangelischen Glaubens entgegennimmt. Die größte kniende Figur ist Johann der Beständige, Kurfürst von Sachsen und Luthers wichtigster fürstlicher Unterstützer. Er überreicht dem Kaiser die Confessio Augustana, aufgeschlagen auf der Seite mit dem entscheidenden Zitat: «So halten wir es nun, daß der Mensch gerecht werde ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben. Röm 3, 28»[3] Das Wörtchen «allein», fast in der Buchmitte und im Zentrum des Gemäldes platziert, bildet, wie Luther es ausdrückte, den innersten «Kern» des reformierten christlichen Glaubens.
Zu seiner Lehre der Erlösung allein durch den Glauben (sola fide) fand Luther um 1515 während der Vorbereitung seiner Universitätsvorlesungen zum Römerbrief des Apostels Paulus.[4] Dreißig Jahre später, in einem Rückblick kurz vor seinem Tod im Jahr 1546, bezeichnete Luther diesen Glauben an den Glauben als seine Bekehrung. Als er Röm 1,17 gelesen habe, habe er plötzlich erkannt, dass die «Gerechtigkeit Gottes» keine strafende Gerechtigkeit ist, sondern jene, durch die Gott den Sünder aus dem durch das Wort gewirkten Glauben rechtfertigt.[5] Jener Moment, in dem Luther die Worte des Apostels Paulus für sich persönlich verstanden hatte, war also der Moment seiner und seiner Kirche Erlösung. Mit diesem reformatorischen Durchbruch drängten das Wort und der Glaube alle anderen religiösen Objekte und Praktiken in den Hintergrund. Diese Perspektive übernahm auch das Schweinfurter Gemälde und machte die sichtbare Kirche zur Kulisse des gegebenen und empfangenen Wortes.
Seine katholischen Gegner warfen Luther vor, er habe das Wörtchen «allein» in den Römerbrief hineingeschmuggelt. Sie erkannten, dass durch diesen einschränkenden Zusatz der Status der Kirche als Heilsinstitution ins Wanken geraten würde. Luthers deutsche Übersetzung des Neuen Testaments erschien 1522; und tatsächlich hatte er das Wörtchen «allein» in eine ansonsten wortgetreue Übersetzung von Röm 3,28 eingefügt. In seinem berühmten Sendbrief vom Dolmetschen (1530) verteidigte er diesen Zusatz damit, dass er nur das wiedergebe, was im Original gemeint sei: «Wahr ists, diese vier Buchstaben ‹sola› stehen nicht drinnen. Diese Buchstaben sehen die Eselsköpfe an, wie die Kühe ein neues Tor, sehen aber nicht, dass die Absicht des Textes gleichwohl das ‹sola› in sich hat, und wo mans klar und deutlich verdeutschen will, so gehöret es hinein.» Nicht nur «die Mutter im Hause», sondern auch «der Text und die Absicht des Paulus [der Kern der Sache selbst] fordern und erzwingens mit Gewalt».[6] Wie das virtuelle Altarbild rechts bildet das gesamte Schweinfurter Gemälde den Rahmen für ein Zitat: Jene Worte – geschriebene Konkretionen der Gedanken des Apostels in der Sprache «der Mutter im Hause» –, mit denen Fürsten und Städte ihren Glauben bekennen und die der Kaiser dadurch entgegennimmt, dass er sie mit dem Zepter seiner Herrschaft berührt.
Dieser Text ist das Glaubensbekenntnis der Lutheraner und ihr eigentliches Gründungsdokument. Wie Luthers erster Biograph Johannes Mathesius dreißig Jahre später schrieb: «Größer und höher Werk und theurer und herrlicher Bekenntnis ist nicht geschehen von der Apostel Zeit an.»[7] Die Entgegennahme der Confessio Augustana durch Karl V. im Jahr 1530 und die Religionsfreiheit, die der Kaiser den Anhängern dieses Bekenntnisses im Jahr 1555 (erneut in Augsburg) gewähren musste, begründen die rechtliche Legitimität des Luthertums als Kirche (auch wenn die Katholiken dessen Anhänger als häretische Sekte betrachteten). Verfasst hauptsächlich von Philipp Melanchthon in Zusammenarbeit mit Luther, ist das Augsburger Bekenntnis die Summe dessen, was seine Anhänger glauben.[8] Es ist zugleich die Blaupause für die Organisation der Kirche, die auf diese Glaubenssätze gegründet und durch sie...