I.
Ein «doppelt gebranntes Kind des Totalitarismus»:
Herkunft und Prägungen (1929–1954)
1. Für immer 28? Ralf Dahrendorfs
autobiographische Selbsterzählung
Gleich mehrfach hat sich der Vielschreiber Ralf Dahrendorf in seinem Leben an autobiographischen Texten versucht. Bereits 1976 meldete Der Spiegel: «Ralf Dahrendorf, 46, Direktor der ‹London School of Economics› und Buchautor, verfaßt derzeit sein erstes autobiographisches Werk – in Deutsch und Englisch.»[1] Allerdings wurden die Lebenserinnerungen Dahrendorfs erst 2002 unter dem Titel Über Grenzen im Verlag C.H.Beck veröffentlicht. Autobiographische Bezüge spielen in Dahrendorfs Schriften eine große Rolle; immer wieder verwendet er Anekdoten, Kindheitserinnerungen oder persönliche Erlebnisse, um Thesen zu untermauern, Aussagen zu rechtfertigen oder die Bedeutung eines Themas zu veranschaulichen. Zugleich geben Dahrendorfs veröffentlichte und unveröffentlichte Lebenserinnerungen Aufschluss über seinen Werdegang, über seine Kindheit und Jugend, aber auch über seine Selbstsicht und Selbstdarstellung.
Im Nachlass Dahrendorf finden sich verschiedene autobiographische Manuskripte aus den siebziger bis zweitausender Jahren. Neben Vorarbeiten zu Über Grenzen[2] ist hier eine größer angelegte englischsprachige Fassung seiner Autobiographie aus den späten neunziger Jahren in mehreren Manuskriptversionen auf 320 maschinengeschriebenen Seiten vollständig überliefert.[3] Außerdem gibt es ein Fragment eines Schreibmaschinenskripts von etwa 150 Seiten mit dem Titel «Zwischenbericht aus einem öffentlichen Leben». Dabei handelt es sich um das 1976 im Spiegel genannte «autobiographische Werk», das Dahrendorfs Leben bis in die sechziger Jahre behandelt.[4] In einem weiteren Manuskript hielt Dahrendorf unter der Überschrift «Es ist Zeit, dass in Deutschland wieder Politik gemacht wird» Erinnerungen an seine politische Karriere zwischen 1967 und 1969 fest.[5]
Autobiographien gehören als Selbstzeugnisse oder self-narratives[6] zu den intentionalen Quellen. Seit geraumer Zeit wird kritisiert, dass autobiographische Schriften in der Geschichtswissenschaft dennoch überwiegend als «realistisches Zeugnis» bewertet werden, ohne nach textuellen und narrativen Aspekten zu differenzieren.[7] Dagmar Günther etwa bemängelt die Nutzung von autobiographischen Quellen als «Steinbruch» für historische Fakten und Alltagspraktiken und kritisiert, dass die Umstände und Motive für das Verfassen von Autobiographien oftmals nicht hinterfragt würden.[8]
Bei der Quellenauswertung sollte stets darüber reflektiert werden, ob im Prozess des Schreibens eine «Wirklichkeit» geschaffen wird, von der ein Wahrheitsanspruch ausgeht. Der Autor oder die Autorin will schildern, «wie es wirklich gewesen ist». Dadurch wird das eigene Leben in ein konstruiertes Sinngeflecht eingefügt, das persönliche Erlebnisse in einen Zusammenhang mit zeitgeschichtlichen Entwicklungen stellt. Aus ursprünglich kontingenten Erfahrungen, deren Ausgang und Folgen zum Erlebniszeitpunkt noch offen waren, wird retrospektiv die «biographische Illusion»[9] eines lebensgeschichtlich sinnstiftenden Narrativs entwickelt, welches sich zwangsläufig in gegenwärtige Diskurskontexte stellt.[10] Als selbstpräsentative, bewusste soziale Handlung, die sich an einen Adressatenkreis richtet, ist der autobiographische Akt immer auch Reaktion auf gegenwärtige Zeitumstände und setzt sich in Bezug zu erinnerungskulturellen Prozessen der zeitgeschichtlichen Wahrnehmung. Doch nicht nur der autobiographische Akt selbst, auch das Erinnern an Vergangenes ist in hohem Maße konstruiert. Das menschliche Gedächtnis ist selektiv; Erinnerungslücken werden teils bewusst, zumeist aber unbewusst mit subjektiv-plausiblen Erklärungen aufgefüllt. Dabei beeinflussen äußere Faktoren die Entstehung, Veränderung oder gar Überschreibung von Erinnerung.[11] Beachtet man diese Faktoren, sind Dahrendorfs autobiographische Zeugnisse mehr und vor allem etwas anderes als ein «Faktensteinbruch»: Sie sind als narrative Texte zu lesen, in denen der Autor als Subjekt in sinnstiftender Weise seine Identität in Auseinandersetzung mit historischen Erfahrungen und gegenwärtigen Umständen konstituiert.[12]
Dahrendorf war sich der Goethe’schen Symbiose von «Dichtung und Wahrheit» bewusst, die Autobiographien zwangsläufig eingehen: «Autobiographien sind Lebenslügen», stellt er gleich zu Beginn von Über Grenzen fest, da
sie Ereignissen und Erlebnissen einen roten Faden einzuziehen versuchen, den diese tatsächlich nicht hatten. Sie verdecken die Wechselfälle des Lebens mit einem schönen Schleier von Sinn und Bedeutung. Der Autor der Autobiographie macht sich selbst und damit auch seinen etwaigen Biographen etwas vor, was zumindest Postmoderne [Menschen] durchschauen.[13]
Dieser Erkenntnis zum Trotz baut Dahrendorf seine Lebenserzählung teleologisch auf, indem er sein 28. Lebensjahr zur «Achsenzeit» erklärt, um die herum er sein Leben in zwei Teilen schildert. Auf den ersten gut einhundert Seiten der Lebenserinnerungen beschreibt er seine familiäre Herkunft und berichtet dann aus seiner Kindheit und Jugend bis 1945. Im Nationalsozialismus sozialisiert, stellt Dahrendorf sich als sportbegeisterten, hochbegabten Jungen vor, der eigentlich der prototypische Hitlerjunge gewesen wäre. Doch seine Familie, vor allem sein sozialdemokratischer Vater, der in Opposition zum NS-Regime stand, habe ihn davor bewahrt, der «Versuchung» des Totalitarismus zu erliegen. So sei er 1944 als Fünfzehnjähriger selbst in den Widerstand gegangen und dafür in Gefängnis- und Lagerhaft geraten – ein Erlebnis, das ihn, wie er schreibt, für immer die Bedeutung von Freiheit gelehrt habe. Weiter beschreibt Dahrendorf die Zeit seines Studiums in Hamburg und London von 1947 bis 1954 und erste journalistische Erfahrungen unter anderem bei der Hamburger Akademischen Rundschau. Sein Weg führte ihn 1957 zur Habilitation an die Universität des Saarlandes in Saarbrücken und anschließend als Stipendiat für ein Auslandsjahr nach Stanford in die USA. Mit dem Antritt der ersten Professur 1958 an der Akademie für Gemeinwirtschaft in Hamburg, an seinem 29. Geburtstag, endet die chronologische Schilderung. In der zweiten Hälfte seiner Lebenserinnerungen gibt Dahrendorf dem Leser einen Vorblick auf seine spätere Karriere, indem er seine verschiedenen Berufe und Berufungen beschreibt: Journalist, Politiker, Gelehrter, «Kapitän auf großer Fahrt», Poet, Soziologe und «Weltkind».[14]
Bereits durch die Wahl des Titels «Über Grenzen» macht Dahrendorf die Fähigkeit zum Überschreiten von Grenzen zwischen verschiedenen Professionen zu seinem persönlichen Charakteristikum. In Anlehnung an seine «Lieblingsdichterin»[15] Ingeborg Bachmann bezeichnet er sich als jemand, dessen spezifisches Lebensalter immer 28 gewesen sei.[16] Denn bis zu diesem Lebensjahr hätten ihm «tausendundeine Möglichkeit»[17] an Lebenswegen und Werdegängen offen gestanden: «Achtundzwanzig ist gleichsam meine Entelechie, die Form, in der meine Lebenskraft ihren reinsten Ausdruck fand.»[18] Durch die Verwendung des teleologischen Begriffs der Entelechie[19] wird die Jugend Dahrendorfs zu einem Ermöglichungsraum, in dem die Motive sichtbar werden, die zu seinem späteren Werdegang geführt haben. Darüber hinaus fallen persönliche oder berufliche Niederlagen nicht in den Fokus dieser Erzählweise. Für den Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Jochen Hieber zeigt sich in der Beschränkung auf die ersten 28 Jahre Dahrendorfs Perspektive auf das eigene Leben: «Hier schreibt ein Glücklicher, hier schreibt ein Sieger.»[20] Dahrendorfs Lebenserzählung ist als Aufstiegsnarrativ seines beruflichen Werdegangs mit charakterbildenden Momenten angelegt. Als Erfolgsfaktoren und Bedingungen seiner Persönlichkeitsbildung nennt er vor allem seine intellektuelle Begabung, das positive Beispiel seines Vaters und die prägenden Erfahrungen durch die Verfolgung im Nationalsozialismus sowie «bedeutende Lehrer»[21] als Vorbilder. Privates und Emotionales bleibt überwiegend ausgeblendet, wie die Schwierigkeiten mit seiner ersten Ehefrau Vera, einer Engländerin, mit der er eine – wie aus dem eigenen Elternhaus gewohnt – klassische Rollenverteilung lebte, die nicht hinterfragt...