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Die Reformpädagogik

Montessori, Waldorf und andere Lehren

AutorWinfried Böhm
VerlagVerlag C.H.Beck
Erscheinungsjahr2012
ReiheBeck'sche Reihe 2743
Seitenanzahl126 Seiten
ISBN9783406640537
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Die Reformpädagogik, die zu Beginn des 20.Jahrhunderts entstand, bestimmt bis heute die Diskussion über Schule und Erziehung. Dabei ist ihre Einschätzung zunehmend kontrovers und reicht von euphorischer Begeisterung bis zu gnadenloser Verurteilung. Winfried Böhm stellt die maßgeblichen Vordenker vor, beschreibt die wichtigsten reformpädagogischen Lehren (Kunsterziehungs- und Arbeitsschulbewegung, Landerziehungsheime, Montessori-, Waldorf-, Jenaplan-Schule) und liefert Kriterien für ihre objektive Beurteilung.

Winfried Böhm ist Professor em. für Pädagogik an der Universität Würzburg und lehrte an renommierten Universitäten in Italien, den USA und Südamerika.

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Leseprobe

2. Fortschritt als Rückkehr zum Alten


Wenn man sich bewusst macht, dass das Phänomen «Reformpädagogik» nur im deutschen Sprachraum diesen Namen trägt, während es in anderen Ländern und Sprachen ganz anders bezeichnet wird und man dort eine direkte Übersetzung des deutschen Wortes gar nicht kennt, dann kann man mit einiger Gewissheit annehmen, dass der deutsche Begriff nicht zufällig, sondern mit Bedacht und mit Blick auf die geschichtliche Wortbedeutung gewählt wurde. Für «Reformpädagogik» scheint also Ähnliches zu gelten wie für den typisch deutschen Begriff «Bildung», zu dem sich ebenfalls in keiner anderen Sprache ein eindeutiges Äquivalent findet.

Vorläufer der Reformpädagogik


Geht man allein dem Wortgebrauch nach, dann war wohl Jan Amos Komenský – in der latinisierten Fassung seines Namens: Comenius (1592–1670) – der erste, dem das Attribut eines Reformpädagogen beigelegt wurde und bis heute zuerkannt wird. Dieser Theologe und Pädagoge ging in seinem ganzen Denken von einer völlig aus den Fugen geratenen und zu einem Labyrinth entarteten Welt aus, wie er sie in den Drangsalen des Dreißigjährigen Krieges leibhaftig erleben musste und die es daher durch eine allumfassende Reform wieder in jene Ordnungsgestalt zurückzuführen galt, als welche sie ihr göttlicher Schöpfer zuerst als Idee und dann als sein Werk hervorgebracht hatte. Bei diesem gewaltigen Projekt einer «Entfehlerung» (lat.: emendatio) der Welt und ihrer Rückführung (lat.: reformatio) in ihre ursprüngliche gottgewollte Gestalt maß Comenius in seiner monumentalen «De rerum humanarum emendatione consultatio catholica» (gewöhnlich übersetzt als «Allgemeine Beratung über die mögliche Entfehlerung der Welt der Menschen», oft abgekürzt als «Konsultationswerk») der Erziehung eine zentrale Bedeutung zu. Die chaotische Unordnung «der menschlichen Dinge» schrieb der reformierte Bischof der Böhmischen Brüder nämlich einer sündhaften Verfehlung des Menschen zu, den Gott zum Hüter und Mitgestalter der Welt eingesetzt hat. Dabei sah Comenius die «Sünde» nicht so sehr in einem sittlichen Versagen als vielmehr in träger Unwissenheit und müßiger Untätigkeit. Diese Sünde» war also zu heilen, und zwar durch rechte Belehrung und Erziehung sowie durch engagiertes Handeln.

Theodor Ballauff hat in seinem Buch «Philosophische Begründungen der Pädagogik» (1966) gezeigt, dass dieses Motiv einer «Überwindung der Verkehrung der Menschlichkeit» eine sich seit der antiken Stoa durch die lange Geschichte der abendländischen Pädagogik hindurch ziehende Begründung für Erziehung darstellt. Und Ballauff hat dieses Motiv an den zwei anderen und mit Comenius vergleichbaren «Reformpädagogen» Rousseau und Pestalozzi genauer entfaltet.

Bei Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) geht es nicht nur um die Überwindung und Beseitigung von Missständen und Irrwegen, sondern um «Heil und Unheil der Menschlichkeit, die sich in jedem einzelnen Menschen ereignen können» (Ballauff, S. 99). Die Heilung im Sinne einer Rückkehr zu seiner ursprünglichen natürlichen Form wird nicht (mehr) von einer sakramentalen Heilsanstalt erwartet, sondern dem Menschen überlassen und zu einem erheblichen Teil der Erziehung aufgetragen. Man vergleiche damit nur das vielsagende Motto, das Rousseau seinem Erziehungsbuch «Émile» voranstellt: «Die Übel, an denen wir leiden, sind heilbar; wenn wir uns davon befreien wollen, hilft uns die Natur selbst, denn wir sind zum Gesundsein geboren.» (Seneca: De ira, 11,13)

Im Hinblick auf Johann Heinrich Pestalozzi (1746–1827) hebt Ballauff das «reformpädagogische» Initialmotiv der Unterscheidung zwischen dem «wirklichen» und dem «wahren» Menschen hervor: Beide sind nicht (mehr) identisch, denn – so schien Pestalozzi der kritische Blick auf seine Gegenwart, die Zeit nach der Französischen Revolution, zu lehren – der wirkliche, d.h. für ihn der vergesellschaftete Mensch ist und lebt oft das Gegenteil des wahren (hier: des nicht unter das Joch der Gesellschaft gebeugten sittlichen) Menschen. Da Pestalozzi die Verkehrung des Menschen zu einem Großteil dessen Kollektivierung zuschreibt, kann rettend und heilend nur eine Erziehung wirken, die dem aus der vorindustriellen Zeit erborgten Vorbild einer häuslich-familiären «Wohnstubenerziehung» folgt und damit jenes ursprüngliche «Hausglück» reformiert, welches der Erziehung einstmals ihre wahre, d.h. ihre «menschliche» Form gegeben hatte und nun in ihrer institutionalisierten Form der Schule verloren zu gehen drohte (vgl. Seichter 2007).

In diesem Kontext gerät dann unvermittelt auch der Romantiker Friedrich Fröbel (1782–1852) – oft irreführend als ein «Schüler» Pestalozzis bezeichnet – unter die Vorläufer der Reformpädagogik: zum einen oberflächlich, weil sein Kindergarten nur vermeintlich dem harmonischen Wohnstubenmodell Pestalozzis abgeschaut und der Natur des Kindes «angemessen» ist; zum anderen tiefer und begründeter, weil sein typisch romantischer Grundgedanke von einer anfänglichen göttlichen Einheit ausgeht, die sich geschichtlich in Gegensätze und Polaritäten entzweit hat und durch Erziehung als «Lebenseinigung» wieder zu ihrer ursprünglichen Ganzheit zurückgeführt werden muss.

Bei allen vier Beispielen – Comenius, Rousseau, Pestalozzi und Fröbel – wird auf exemplarische Weise eine Denkfigur deutlich, welche die je gegenwärtige Erziehung als eine Entfremdung von jener Form von Erziehung betrachtet, die es früher einmal gegeben hat und die in der Rückschau als die gottgewollte, natürliche und wahrhaft menschliche angesehen und verklärt wird. Reformpädagogik heißt nach diesem Wortverständnis die Rückwendung bzw. die Rückkehr der gesamten Erziehung zu einer früheren und in jedem Falle vollkommeneren Form als der jetzigen. Dass in allen reformpädagogischen Entwürfen in Deutschland zumindest Rousseau und Pestalozzi, bei geschichtlich besser Bewanderten auch Comenius und Fröbel, als «Vorläufer» und als Kronzeugen auftauchen, kann somit nicht im Geringsten verwundern. In anderen Ländern, wo man die der deutschen Reformpädagogik zeitlich und ideell vergleichbaren Phänomene mit anderen Begriffen bezeichnet und also auch anders begreift, tauchen als «predecessors» folgerichtig andere Namen auf, bezeichnenderweise auch solche, die man hierzulande kaum oder gar nicht kennt.

Der deutsche Wortgebrauch deckt sich auf verblüffende Weise mit der geschichtlichen Wortbedeutung von reformare, reformatio und Reform. Dabei ist – wie Eike Wolgasts Artikel «Reform, Reformation» im 5. Band der «Geschichtlichen Grundbegriffe» lehrt – das Verb reformare früher (erstmals wohl bei Ovid) als das Substantiv reformatio nachzuweisen, und zwar just im Sinne einer Um- bzw. Rückwandlung in eine frühere Gestalt, womit ausdrücklich die Vorstellung von einem einstmals qualitativ besseren Zustand verbunden ist.

Schon als im 1. Jahrhundert diese «Rückverwandlung» (lat.: reformatio) aus dem Bereich des Literarisch-Poetischen in jenen des Moralischen und Politischen übertragen wurde, diente dabei als Ausgangspunkt der Gedanke des Verfalls und die Überzeugung von einem abwärts führenden Fortschritt. Auf diese Weise ergab sich zwangsläufig die Wünschbarkeit, wenn nicht die Notwendigkeit einer Rückführung des gegenwärtigen Zustands zu jenem vergangenen besseren als eine normative Forderung, und so verfestigte sich auf Dauer der Begriffsinhalt von reformatio (Reform) in einem Doppelsinn: zum einen (und quasi als Diagnose) die Entartung, der Verfall und die Misslichkeit eines Gegebenen und zum anderen (und quasi als Therapie) die Orientierung des Besserungsvorhabens an Maßstäben der Vergangenheit. Auch das lateinische Substantiv reformator, das uns schon hier an die künftigen «Reformpädagogen» denken lässt, schließt (so etwa bei Seneca und Plinius) diese beiden Momente ein.

Diese antike Bedeutung von reformatio (Reform) bleibt auch im ganzen christlichen Mittelalter erhalten. Reformare bezeichnet dort ein bewusstes Handeln, welches den Abfall von der gottgesetzten Ordnung korrigieren, die begangenen Fehler ausmerzen und zu der richtigen Norm zurückführen will (lat.: ad normam rectitudinis reformare), wie es im 8. Jahrhundert Papst Zacharias dem Apostel der Deutschen, Bonifatius, wörtlich aufgetragen hat. Im profanen Bereich wird neben reformatio auch renovatio («Erneuerung») gebräuchlich, allerdings mit demselben Sinn einer Wiederbelebung von Vergangenem oder ausdrücklich einer Umkehr zu etwas, das deformiert wurde und der Wiederherstellung dringend bedarf. Insbesondere wird das im Hinblick auf den Frieden ausgesagt: reformare pacem (lat.: den Frieden wieder herstellen).

Auch die kirchliche Reformation im 15. Jahrhundert wird von ihren...

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