KAPITEL 1
DER WIND WEHT VON OSTEN
Brennpunkt Neue Seidenstraße – Größenwahn oder große Chance?
Der Drache schnaubt laut mitten in Europa. Er macht dabei viel Wind, der uns ins Gesicht weht: Firmenkäufe, Touristenmassen und eine neue Politik namens Belt-and-Road-Initiative, kurz: BRI. Auch bekannt als Neue Seidenstraße. Das ist der lange Schwanz des Untiers. Bis zurück nach China reicht er. Sein Schwanz ist gegabelt, denn es sind zwei Systeme von Wegen nach China, insgesamt deutlich länger als der halbe Erdumfang.
Während die Nasenspitze des Drachens in Rotterdam liegt und neuen Wind Richtung England bläst, windet sich der Gabelschwanz über Land und durch die Meere. Der eine Teil davon wühlt den Sand der eurasischen Steppe auf, der andere peitscht durch den Indischen Ozean.
Abbildung 1: Die zwei Systeme der Belt-and-Road-Initiative (BRI)
Doch der Drache ist nicht irgendein Tier. Er ist ein Fabelwesen und daher unheimlich, phantastisch. Zudem schätzen ihn West und Ost sehr unterschiedlich ein: In China symbolisiert die Kreatur das Männliche, Starke, den Herrscher. Sie verkündet das neue Jahr und damit pulsierendes Leben. In Deutschland sieht das anders aus: Im Mittelalter glaubte man fest daran, dass Drachen existierten und die Menschen bedrohten. Das machte diese Epoche noch etwas finsterer. Die Angst vor China, dem Untier in Drachengestalt, ist noch immer da – nicht zuletzt, weil der heutige Lindwurm kein europäisches Geschöpf mehr ist. Skeptische Fragen kommen auf, etwa diese:
• Wie sehen die Chinesen die Welt, und was haben sie mit ihr vor?
• Was bezweckt China mit diesem »Drachenschwanz«, der Neuen Seidenstraße?
• Ist die Neue Seidenstraße eine Form des neuen Imperialismus aus dem Reich der Mitte in Asien und weltweit?
• Unterwandert China so die Demokratie hierzulande?
• Werden unsere Nachbarn im Osten mit chinesischen Krediten abhängig gemacht?
• Wird China mit seiner aggressiven Globalstrategie einen Krieg provozieren?
• Welche Fehler haben wir in Europa gemacht, dass es so weit kommen konnte?
• Welche unserer Fehler haben die Chinesen als solche erkannt und nutzen sie möglicherweise für sich?
• Wie können Deutsche und Europäer mit dem chinesischen Drachen klarkommen? Können wir ihn reiten?
• Was haben wir selbst zu bieten?
• Wie sieht unsere Zukunft aus?
Widmen wir uns zunächst der ersten Frage, die eine doppelte ist: Wie sehen die Chinesen die Welt, und was haben sie mit ihr vor? Um Antworten zu finden, müssen wir reisen. Nach Astana in Kasachstan. In das Auditorium einer Hochschule. Dort stehen zwei rote und zwei blaue Flaggen ordentlich über Kreuz vor einer Leinwand. Darüber eine goldene Aufschrift: Nazarbayev University. Davor ein Podium mit vier Sitzplätzen. Der zweite Sessel von links ist frei. Der Mann, der soeben noch darauf saß, geht gemessenen Schrittes zu einem Rednerpult, das links daneben steht. Alles ist aus dunklem Holz und könnte auch das Auditorium einer beliebigen US-amerikanischen Universität sein, wären da nicht die beiden Flaggen und der Name »Nazarbayev«.
Nursultan Nazarbayev, Jahrgang 1940, regiert seit 1990 dieses Land. Die Stadt heißt Astana, doch im Grunde müsste sie »Nazarpolis« heißen. Astana ist das Werk des Staatsführers, eine Retortenhauptstadt, die in nur zwei Jahrzehnten aus der Steppe emporgehoben wurde. Nazarbayev ist jemand, der niemanden über oder neben sich duldet. Doch jetzt schweigt der kasachische »Führer der Nation (ult lideri)« und versucht, sich auf den Redner zu konzentrieren.
»Verehrter Herr Präsident ...«, beginnt der Mann in schwarzem Maßanzug und mit blauer Krawatte seine Rede in chinesischer Sprache.1 Die Form ist gewahrt, der 13 Jahre ältere Führer der Nation nickt. Über die ergrauten Züge des Machthabers huscht ein leichtes Lächeln. Er trägt einen Kopfhörer, um die Worte des Redners zu verstehen, denn Chinesisch beherrscht er offenbar nicht. Der Mann im Maßanzug redet weiter. Er nennt einen Namen: Zhang Qian, ein Landsmann, der vor 2100 Jahren lebte und bereits die »Seidenstraße erschlossen« haben soll. Der Redner wird sentimental, wechselt ins Persönliche. Bilder von Kamelkarawanen ziehen an seinem geistigen Auge vorüber, so real, dass er »sogar das Läuten von Kamelglocken zwischen den Bergen« höre und »aus der Wüste, welche die Karawane durchzieht, Rauch kräuselnd in Schwaden aufsteigen« sehe. Für Sekunden hält er inne, kräuselt die Nase – so als röche er den Rauch.
»Ich stamme vom Anfangspunkt dieser Straße«, sagt er, »aus der chinesischen Provinz Shaanxi. Kasachstan ist ein Land, durch das die Seidenstraße zieht.« Er sei »vertraut und verbunden« mit dem Land seines Gastgebers, das er als »nahen Nachbarn« bezeichnet. Dann folgen weitere Bilder aus ferner Zeit: Er sehe »einen unaufhaltsamen Strom von Gesandten, von Händlern, Reisenden, Gelehrten, Handwerkern aus Ost und West«, ein »gegenseitiges Geben und Nehmen«, er fühle den damaligen »Austausch und das gegenseitige Lernen, was gemeinsam zum Fortschritt der Menschheit beitrug«. Geschichte wird lebendig, indem Xi Jinping sie zitiert.
Der Mann am Rednerpult, Staatspräsident der Volksrepublik China, fixiert sein Publikum. Er fährt fort: »Seit über 20 Jahren hat die Alte Seidenstraße durch die rasche Entwicklung der Beziehungen zwischen China und den Staaten Eurasiens Tag für Tag neue Vitalität, neue Lebenskraft gewonnen, und gegenwärtig bietet sich China und den Seidenstraßenländern eine einmalige Chance, einen neuen Wirtschaftsgürtel entlang dieser alten Route aufzubauen.«
»Wirtschaftsgürtel« und »Seidenstraße«. Daraus prägt Xi Jinping einen neuen Begriff: yi dai – yi lu, wörtlich »ein Gürtel – eine Straße«. »Zusammenarbeit« (hezuo) lautet sein Credo, und »Zusammenarbeit soll im Politischen stattfinden, wo wir gemeinsam nach Wegen und Strategien zur wirtschaftlichen Entwicklung suchen wollen«. Suchen westliche Denker und Strategen gern nach dem Trennenden, das die Zusammenarbeit einschränken könnte, so folgt Xi dem Prinzip des »Gemeinsamkeiten-Suchens«. »Nicht von der Maas bis an die Memel« – das wäre viel zu kleinteilig und zu wenig ambitioniert – reichen die künftigen Verkehrsverbindungen. Sie sollen dagegen »den Pazifik mit der Ostsee verbinden«.
Der Redner macht eine Kunstpause, eine genüssliche Handbewegung, bevor er den wichtigen dritten Punkt des neuen Seidenstraßenzeitalters nennt – den freien Handel: »Möglichkeiten für drei Milliarden Menschen entlang des Seidenstraßengürtels«, eine einzigartige Chance ökonomischer Vernetzung und Beseitigung der Tarifschranken zwischen den Seidenstraßenökonomien. Diese im Einklang damit, dass eine »beschleunigte Geldzirkulation« so wie die bereits verbesserten Bedingungen zwischen China und Russland den Handel entlang der Routen noch stärker befeuern mögen. »Ja, und am Ende«, so schließt Chinas Präsident, »soll dann die Annäherung der Herzen aller Völker des Seidenstraßengürtels stehen.«
Gefühle am Ende einer Rede. Gefühle für Großes. Die Zukunft glänzt in den Augen des Redners. Unter dem Pathos seiner Wortwahl wird klar, dass dieser Mann mit der Seidenstraße einen Baustein von Jahrhundertformat auf die Baustelle politischer Gestaltung des 21. Jahrhunderts gehievt hat. Dieser Baustein ist Teil eines Arsenals von Baumaterialien, die unter dem Sammelbegriff »Wiedergeburt« oder »Renaissance« für Größe stehen.
Das chinesische Wort dafür lautet fuxing. Fuxing steht daher auch als Motto auf jedem neuen Hochgeschwindigkeitszug, der seit dem 25. Juni 2017 ausgeliefert wird. Mit kommerziell nutzbaren Spitzengeschwindigkeiten von 350 km/h übertrifft er den deutschen ICE 3. Züge dieser Art symbolisieren Chinas Drang in die Welt. Die chinesische Führung würde es begrüßen, wenn sie bald in ganz Eurasien unterwegs wären.2 Fuxing mit modernster Technik, fuxing als Auferstehung bewährter Außenpolitik, die China schon um die Zeit Christi Geburt mit dem römischen Kaiserreich in Verbindung brachte.
Der Mann am Rednerpult spricht es nicht offen aus, doch er meint es: In Wahrheit geht es um die Verknüpfung Chinas mit Europa. Die eurasischen Brückenländer sind Quellen noch längst nicht ausgeschöpfter Bodenschätze, Partner...