II. DAS IMPERIUM ROMANUM UND SEINE LANDSCHAFTEN
Das Imperium Romanum – im offiziellen römischen Sprachgebrauch „der Erdkreis“ (orbis terrarum) oder „unser Erdkreis“ (orbis noster) – umfaßte Mitte des 2. Jh. eine Fläche von etwa 5 Mio. qkm. Das entspricht ungefähr dem Vierzehnfachen des Staatsgebietes des heutigen Deutschland oder zwei Dritteln des Territoriums der USA ohne Alaska oder einem knappen Siebtel der Fläche des Britischen Empire auf dem Höhepunkt seiner Ausdehnung.
Die Einwohnerzahl des Imperiums wird für die damalige Zeit auf etwa 60 Millionen geschätzt, was einer Bevölkerungsdichte von ca. 12 Menschen pro qkm gleichkäme (oder etwa einem Achtel der Bevölkerungsdichte des heutigen Frankreich). Der außeritalische Teil des Reiches war Mitte des 2. Jh. in ca. vierzig Provinzen organisiert. Die Zahl der lokalen Selbstverwaltungseinheiten – Stadtgemeinden, Stammesgemeinden mit (städtischem) Zentralort und, vereinzelt, Tempelherrschaften – belief sich für Italien und die Provinzen auf 1500–2000. Es handelte sich hierbei um römische Kolonien und Municipien; um Gemeinwesen latinischen Rechts (die in der Narbonensis und den Drei Gallien statt der sonst üblichen Bezeichnung „Municipium“ den Titel „Kolonie“ trugen [wie beispielsweise Augusta Treverorum/Trier]); um „verbündete“, „freie“ oder „tributpflichtige“ Gemeinwesen peregrinen („fremden“) Rechts, also griechische Poleis und (nach römischem Muster organisierte) Stammesgemeinden (civitates), die (noch) nicht durch die Verleihung des römischen oder latinischen Rechts ausgezeichnet worden waren; und schließlich um lokale Tempelherrschaften (wie beispielsweise in Kappadokien). Die Gesamtzahl der Städte im Reich – in einem ganz allgemeinen Sinn – war aber wohl größer als die der Selbstverwaltungseinheiten. Zwar gab es Vororte von Stammesgemeinden – z.B. im Inneren von Dalmatien –, die eher Dörfern als Städten glichen; doch fanden sich auf der anderen Seite, etwa auf den Territorien großer gallischer Stammesgemeinden, neben den Civitas-Vororten nicht selten noch weitere Ansiedlungen (vici), im Durchschnitt wohl drei bis vier, denen man bezüglich ihrer Größe, Einwohnerzahl, baulichen Ausstattung und wirtschaftlichen Bedeutung sowie der sozialen und beruflichen Differenzierung ihrer Bewohner den Charakter von „Städten“ nicht absprechen konnte. Zu nennen wären etwa Alesia/Alise-Sainte-Reine in der Civitas der Haeduer, Lousanna/Lausanne auf dem Gebiet der Helvetier und (Homburg-)Schwarzenacker auf dem Territorium der Mediomatriker. Stadtähnliche Dimensionen und städtisches Aussehen besaßen auch nicht wenige Canabae im Schatten der Legionslager an Rhein, Donau und andernorts, die wie die Vici auf den Stammesterritorien für ihre lokalen Belange eigene Selbstverwaltungsorgane hatten: einen Rat, zwei „Gemeindevorsteher“ und andere „Beamte“. Aber obwohl gerade die Lagervorstädte naturgemäß einen hohen Grad an Romanisierung aufwiesen, sind sie trotzdem normalerweise nicht zu „Stadtgemeinden“ im rechtlichen Sinne erhoben worden. Mogontiacum/Mainz z.B., aus den Canabae des Legionslagers und mehreren zum Rhein hin gelegenen Zivilsiedlungen zusammengewachsen und zweifellos eine der größeren „Städte“ im Westen des Reiches, hat anscheinend erst Ende des 3. Jh. – und auch das ist nicht über jeden Zweifel erhaben – den Rechtsstatus eines römischen Municipiums erworben.
Es war die heimatliche Kolonie oder Polis, das Municipium oder die Stammesgemeinde samt dem zur jeweiligen Selbstverwaltungseinheit gehörigen Territorium, die im Erleben und Empfinden des durchschnittlichen Provinzbewohners Heimat, „Staat“ und „Vaterland“ darstellten und nicht die Provinz oder gar das Reich als Ganzes. Dennoch gab es daneben auch überregionale Orientierungen wie z.B. das Bewußtsein der Inhaber des römischen Bürgerrechts, unabhängig von ihrer ethnischen Herkunft und Zugehörigkeit zu einer Stadt- oder Stammesgemeinde Angehörige des weltbeherrschenden römischen „Volkes“ zu sein; die Bereitschaft der Bewohner der Apenninenhalbinsel, nicht nur ihre jeweilige Vaterstadt, sondern ganz Italien als ihre Heimat anzusehen; der Stolz der Griechen auf ihr Hellenentum; das Weltbürgertum vieler Philosophen; die Gewißheit der Juden in aller Welt, dem von Gott auserwählten Volk anzugehören; oder die Loyalität der Christen gegenüber einem Reich, das nicht von dieser Welt war. Inwieweit die jährlichen Provinziallandtage (concilia; koina) – zumindest bei der provinzialen Führungsschicht und der Bevölkerung des Versammlungsortes – eine Art provinziales Zusammengehörigkeitsgefühl ins Leben gerufen haben, muß dahingestellt bleiben; in einigen Provinzen, darunter Ägypten und Griechenland, scheint eine solche Institution im übrigen auch gar nicht ins Leben gerufen worden zu sein. Hauptzweck der Provinziallandtage waren ohnehin der Kaiserkult und die Austragung der damit verbundenen Spiele; doch konnten die am Kultort versammelten Vertreter der einzelnen Stadt- oder Stammesgemeinden sich über diese Institution auch mit Bitten oder Beschwerden an Rom wenden, was auf die Amtsführung der römischen Hoheitsträger im Verlauf der Kaiserzeit wohl auch einen mäßigenden Einfluß auszuüben vermocht hat.
Die Sprache der römischen Reichsadministration und der römischen Streitkräfte war im ganzen Imperium selbstverständlich Latein. Kultur- und Verkehrssprache war im Westen ebenfalls Latein, in der östlichen Reichshälfte Griechisch. Die Sprachgrenze verlief in Afrika zwischen Tripolitanien und der Kyrenaika, in Europa zwischen Dalmatien/Moesien einer und Makedonien/Thrakien andererseits, doch gehörte die niedermösische Schwarzmeerküste noch zum griechischen Sprachgebiet. Sizilien war zweisprachig, z.T. auch das Küstengebiet Unteritaliens und der Narbonensis. Außerhalb der Apenninenhalbinsel bzw. Griechenlands und der übrigen völlig romanisierten respektive hellenisierten Landschaften waren Latein und Griechisch in ihrer jeweiligen Reichshälfte vor allem in den Städten und deren näherer Umgebung verbreitet. Während sich die gebildete lateinische Welt (in erster Linie natürlich im Mittelmeerraum) auch um den Erwerb der griechischen Sprache und um die griechische Kultur bemühte, sah die Lage in der östlichen Reichshälfte ganz anders aus. Griechische Literaten und Intellektuelle z.B. haben die lateinische Geisteswelt – mit alleiniger Ausnahme der Historiographie – in ihren Werken gänzlich ignoriert; und unter den Angehörigen der griechischen Munizipalaristokratie, die inzwischen doch weitgehend das römische Bürgerrecht besaß, war die Kenntnis der lateinischen Sprache noch immer eine Seltenheit, wenn die Beherrschung des Lateinischen für Römer aus dem griechischen Kulturraum auch die Voraussetzung bildete, um zur ritterständischen oder senatorischen Ämterkarriere zugelassen zu werden. Selbst in den römischen Kolonien im Osten war das Griechische, wie datierbare Inschriften zeigen, immer weiter auf dem Vormarsch. Doch hat sich andererseits in der Kolonie Berytus/Beirut im phönikischen Teil Syriens ab der Mitte des 3. Jh. eine berühmte Schule des römischen Rechts herausgebildet. Das beharrliche und von Rom niemals in Frage gestellte Festhalten der Griechen an ihrer Sprache und Kultur, an ihren Institutionen usw. hat denn auch zur Folge gehabt, daß während der Kaiserzeit keiner griechischen Polis römisches Municipalrecht verliehen worden ist; doch haben die römischen Kaiser nicht davon Abstand genommen, im griechischen Kulturraum römische Kolonien zu gründen. Gelegentlich sind von ihnen dort aber auch Städte nach griechischem Muster ins Leben gerufen worden; zu nennen wären etwa die von Hadrian gegründeten Poleis Hadrianopolis/Edirne in Thrakien, Hadrianotherai im kleinasiatischen Mysien und Antinoopolis in Ägypten.
Eine gewisse Romanisierung der griechischen Welt kam allerdings darin zum Ausdruck, daß zahlreiche lateinische Vokabeln als Lehnwörter Eingang in die griechische Umgangssprache fanden; daß die Städte im Osten sich nach römischem Vorbild Wasserleitungen und Thermen zulegten; daß sie mitunter auch Amphitheater erbauten oder bestehende Theater zu solchen umbauten (wie z.B. Pergamon, Antiochien, das zyprische Salamis und Kyrene) oder die Veranstaltung von Fechterspielen zumindest dadurch zu ermöglichen suchten, daß sie den Kurvenbereich ihres Stadions dazu benutzten oder die Orchestren in ihren Theatern tieferlegten; und daß sie aus dem westlichen Bereich den Bau von Podiumstempeln und freistehenden Theatern übernahmen. Schließlich hat auch die Sitte der Sarkophagbestattung, die sich seit dem Beginn des 2. Jh. von Rom und Ostia auszubreiten begann, im Osten rasch Anklang gefunden.
Im Westen war im Zuge der fortschreitenden Romanisierung die lateinische Sprache in stetiger Ausbreitung begriffen, wenn auch außerhalb der Oberschichten vornehmlich in der Form des sog. Vulgärlateins. Gebiete intensiver Romanisierung stellten der Süden und Osten Spaniens, Südgallien, der Lyoner Raum, das Moselland, das Rheinland, das dalmatinische...