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Die Russische Revolution und das unvollendete Zwanzigste Jahrhundert

AutorDavid North
VerlagMEHRING Verlag
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl488 Seiten
ISBN9783886348329
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis19,99 EUR
Die Schlachten des 20. Jahrhunderts auf den Gebieten der Politik, Wirtschaft, Philosophie und Kunst sind nicht entschieden. Hundert Jahre nach dem Ersten Weltkrieg und der russischen Revolution bedrohen Wirtschaftskrisen, soziale Ungleichheit, Krieg und Diktatur wieder die Menschheit. Im Gegensatz zum Postmodernismus, der die Geschichtsschreibung als rein subjektives 'Narrativ' auffasst, betont David North, dass die gründliche materialistische Kenntnis der Geschichte eine Voraussetzung für das Überleben der Menschheit bildet. In 15 brillanten, polemischen Essays geht er auf die wichtigsten politischen und theoretischen Kontoversen des vergangenen Jahrhunderts ein. North spielt seit mehr als 40 Jahren eine führende Rolle in der internationalen sozialistischen Bewegung und ist Chefredakteur der World Socialist Web Site.

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Leseprobe

1.


Die Machtübernahme der Bolschewiki im Oktober 1917:
Staatsstreich oder Revolution?[1]


Die Darstellung der Russischen Revolution als Staatsstreich einer Handvoll skrupelloser Querulanten, die entschlossen waren, dem Volk eine totalitäre Diktatur aufzuzwingen, gehört zum Dauer­inventar antimarxistischer Schriften. Dieser Argumentation zufolge war die bolschewistische Partei vor 1917 lediglich eine kleine Sekte, die nur deshalb an die Macht kam, weil sie die Wirren der Revolution auszunutzen wusste. Doch was waren die Ursachen dieser Revolution und der dadurch erzeugten Wirren? Laut Richard Pipes, Historiker an der Harvard University, war sie ausschließlich das Werk einer überspannten Intelligenzija, »die wir als nach politischer Macht strebende Intellektuelle definiert haben … Ihre Mitglieder waren Revolutionäre, die nicht das Ziel verfolgten, die Lage des Volkes zu verbessern, sondern sich zu dessen Herrschern zu machen und es nach ihren eigenen Vorstellungen umzumodeln.«[2]

Seit den 1980er Jahren hat sich eine Reihe von Historikern bemüht, ein genaues Bild der russischen Arbeiterklasse und ihres politischen Lebens in der Zeit vor 1917 zu zeichnen. Die besten dieser Arbeiten vermitteln dem Leser einen Einblick in die Vorgänge unter den Massen und belegen, dass die Bolschewiki bereits lange vor 1917 eine einflussreiche politische Stellung in der russischen Arbeiterklasse erobert hatten. Schon 1914 befanden sich die Menschewiki, die zuvor in den gängigen Organisationen der Arbeiterklasse stark vertreten gewesen waren, allenthalben auf dem Rückzug vor den aufstrebenden Bolschewiki. Von daher verwundert es nicht, dass Professor Richard Pipes für empirische Forschung über die Entwicklung der russischen Arbeiterbewegung vor 1917 nur Verachtung übrig hat:

Scharen von Studenten in fortgeschrittenen Semestern haben unter Anleitung ihrer Professoren in der Sowjetunion wie im Westen, vor allem in den Vereinigten Staaten, eifrig die historischen Quellen durchforscht, um Belege für einen Arbeiter­radikalismus in Russland vor der Revolution zutage zu fördern. Das Ergebnis waren gewichtige Bände, angefüllt mit zumeist bedeutungslosen Ereignissen und Statistiken, die nur eines beweisen: Während die Geschichte selbst stets interessant ist, können Geschichtsbücher nichtssagend und langweilig sein.[3]

Ich möchte anhand dieser »gewichtigen Bände« und »bedeutungslosen Ereignisse und Statistiken« die Entwicklung der russischen Arbeiterklasse in den zehn Jahren vor der Machteroberung der Bolschewiki kurz umreißen. Die Niederlage der Revolution von 1905 hatte zur Folge, dass die zahlenmäßige Stärke und der politische Einfluss der revolutionären Organisationen beträchtlich zurückgingen. In den Jahren des revolutionären Aufschwungs, von 1905 bis 1907, hatten sowohl die Bolschewiki als auch die Menschewiki, die beiden gegensätzlichen Fraktionen der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (RSDAP), Zehntausende neue Mitglieder gewonnen. Nach dem Juni 1907 schwand ihre Massenmitgliedschaft dahin. Nach der Niederlage griff Enttäuschung um sich. Selbst kampferprobte Aktivisten mit jahrelanger Erfahrung gaben die revolutionäre Politik auf und ließen ihre Bestrebungen fallen. Die Rückkehr breiter Schichten der russischen Intelligenz in den Schoß der Religion, die Ausbreitung aller möglicher Rückständigkeiten, beispielsweise Faszination für die Pornografie, schlug sich auch in der Mitgliedschaft der revolutionären Bewegung nieder. Im Jahr 1910 war es laut Trotzki so weit gekommen, dass Lenin in Russland nur noch mit etwa zehn loyalen und aktiven Mitstreitern in Verbindung stand.

Trotzdem war es keine fruchtlose Periode. Ungeachtet ihrer Differenzen analysierten sowohl Lenin als auch Trotzki die Ereignisse von 1905 und zogen daraus strategische Lehren, die 1917 zur Grundlage für den Sieg der Revolution werden sollten. Für Trotzki hatte die Revolution von 1905 gezeigt, dass die demokratische Revolution in Russland nur unter der Führung der Arbeiterklasse stattfinden konnte und mehr und mehr eine sozialistische Richtung einschlagen würde. Aus dieser Einsicht in die soziale und politische Dynamik der russischen Revolution ging die Theorie der permanenten Revolution hervor.

Lenin vertiefte anhand der Erfahrungen von 1905 seine Analyse der Differenzen zwischen Bolschewismus und Menschewismus. Die Spaltung in der sozialistischen Arbeiterbewegung erschien nun in einem neuen Licht. Die Taktik der Menschewiki während der gesamten Revolution von 1905 bestärkte Lenin in der Überzeugung, dass der Menschewismus eine opportunistische Strömung darstellte, die den Einfluss der liberalen Bourgeoisie auf die Arbeiterklasse widerspiegelte. Der Aufbau einer revolutionären Bewegung, betonte Lenin, setzte voraus, dass der Arbeiterklasse dieses Wesensmerkmal des Menschewismus in einem konsequenten Kampf immer klarer vor Augen geführt wurde.

Unter der Führung des gewitzten Premierministers Stolypin rappelte sich das zaristische Regime wieder auf, nachdem es 1905 gehörig in die Klemme geraten war. Aber die Ermordung Stolypins im Jahr 1911 infolge einer Verschwörung der Geheimpolizei raubte dem Zaren gerade in dem Moment, in dem die Arbeiterbewegung in eine neue Phase radikaler Aktivitäten eintrat, seinen fähigsten Minister. Die Massenstreiks von 1912 schufen ein neues politisches Klima, das ein schnelles Wachstum des politischen Einflusses der Bolschewiki begünstigte.

Die Periode der Reaktion, von 1907 bis 1912, führte in den Reihen der Menschewiki zu einer ausgeprägten Rechtswende. Sie nahmen sich ausgerechnet die schwächste Seite der deutschen Sozialdemokratie – die Vorherrschaft reformistischer Gewerkschaften in der Partei – zum Vorbild und begaben sich in das politische Umfeld der bürgerlichen Liberalen. Ihre Tätigkeit nahm ganz eindeutig reformistische Züge an. Während der Reaktionsperiode hatten die Menschewiki von ihren Verbindungen zu den bürgerlich-liberalen Konstitutionellen Demokraten profitiert. Mit dem erneuten Aufschwung der Arbeiterklasse ab 1912 jedoch begannen die Bolschewiki sie selbst in den einst menschewistisch dominierten Gewerkschaften zu überrunden.

Ein Anzeichen für die politische Radikalisierung der Arbeiterklasse zeigte sich im April 1913 auf einer Versammlung der Metallarbeitergewerkschaft von Petersburg. Diese Organisation war mehrere Jahre lang von den Menschewiki beherrscht worden. Aber nun wählten die 700 bis 800 anwesenden Arbeiter eine bolschewistische Mehrheit in ihren vorläufigen Vorstand.[4]

Ende August 1913 fand die zweite Wahl für den ständigen Vorstand statt. Von den 5600 Mitgliedern der Gewerkschaft hatten sich zwischen 1800 und 3000 eingefunden. Es wurde ein bolschewistischer Vorstand gewählt; die Menschewiki konnten nur etwa 150 Stimmen auf sich vereinen. Die klassenbewussten Arbeiter von St. Petersburg wussten zwischen den Positionen der Bolschewiki und der Menschewiki zu unterscheiden. Letztere stellten sich gegen die Beteiligung der Gewerkschaften an unmittelbar politischen, revolutionären Kämpfen. Die Bolschewiki dagegen waren offen bestrebt, die Gewerkschaften gerade für diesen Zweck einzusetzen.

Während der restlichen Monate von 1913 bis in das Jahr 1914 hinein vertrieben die Bolschewiki die Menschewiki weiter aus den Führungspositionen der Gewerkschaften. Unter den organisierten Schneidern etwa hatten die Bolschewiki im Juli 1914 eine überwältigende Mehrheit erobert. Zehn von elf Vorstandsmitgliedern waren Bolschewiki, einer war Sozialrevolutionär. Die Menschewiki hatten jede Unterstützung verloren.

Die Drucker, die zu den am besten ausgebildeten Arbeitern zählten, wählten im April 1914 für ihren 18-köpfigen Vorstand neun Bolschewiki, und für dessen zwölf Stellvertreter acht.

Ein weiterer Hinweis auf die wachsende Unterstützung für die Bolschewiki auf Kosten der Menschewiki ergibt sich aus den jeweiligen Auflagen ihrer Zeitungen. Die menschewistische Zeitung, »Luch«, hatte eine Auflage von etwa 16000. Die »Prawda«, die bolschewistische Tageszeitung, erreichte eine Auflage von 40000.

Im Juli 1914, am Vorabend des Krieges, hatte der Klassenkampf in den russischen Industriezentren revolutionäre Ausmaße angenommen. Aus St. Petersburg wurden Straßenkämpfe zwischen Arbeitern und der Polizei gemeldet. Der zaristischen Regierung kam der Krieg gerade recht. Zwar führte der Druck des Krieges über drei Jahre hinweg zu einer enormen Verschärfung der sozialen Konflikte, doch zunächst überflutete er die revolutionäre Arbeiterbewegung mit einer Welle des Chauvinismus. Die hochentwickelte bolschewistische Organisation, die am Rande der Legalität gearbeitet hatte, wurde zerschlagen und erneut in den Untergrund getrieben.

Trotzki schrieb später, dass, wäre der Krieg nicht gewesen, die Revolution Ende 1914 oder im Jahr 1915 von Anfang an als proletarische Massenbewegung unter der Führung der Bolschewiki begonnen hätte. Doch im Februar 1917 setzte die Revolution unter Bedingungen ein, die für die Bolschewiki weit weniger günstig waren als im Juli 1914. Erstens war ihre Organisation in Russland kaum funktionsfähig. Viele ihrer Arbeiterkader in den Fabriken waren in die Armee eingezogen worden und überall an der Front verstreut. In den Fabriken befanden sich jetzt Arbeiter mit weitaus weniger politischer Erfahrung. Die Massenmobilisierung der Bauern in der Armee schließlich bedeutete, dass der proletarische Charakter der sozialen Bewegung bei Ausbruch der Revolution zumindest in ihrem Anfangsstadium weitaus weniger ausgeprägt war als 1914. Aus diesem Grund ging die Partei der...

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