Einleitung: »Ohne Helmut will ich keine Nacht mehr allein verbringen«
Oktober 2005. Vor einer Lesung aus dem Buch Mein Leben für die Schule saßen Loki und Helmut Schmidt bei einer Tasse Kaffee in dem Büro einer großen Rostocker Buchhandlung und warteten darauf, dass es losging. Als Co-Autor dieses Buches wartete ich mit ihnen in diesem kleinen, unaufgeräumten Raum – im Übrigen überhaupt nicht angespannt, denn Veranstaltungen mit Loki Schmidt waren ein Selbstläufer: Immer waren sie ausverkauft, immer gab es freudige Erwartungen bei den Zuhörern und nie wurden diese von ihr enttäuscht. Die Lesungen mit diesem Buch hatten wir als einen Mix aus gemeinsamem Gespräch und klassischem Vorlesen geplant, das gab Raum für spontane Anekdoten oder manche Erinnerung.
Die beiden Schmidts hatten diesen Termin in Rostock so gelegt, dass sie dort gemeinsam in einem Hotel übernachten konnten. »Ohne Helmut will ich keine Nacht mehr allein verbringen, zu viele Nächte waren wir getrennt«, hatte sie mir gegenüber bei Erscheinen unseres Buches klargemacht und Einladungen zu Lesungen, die mit einer Übernachtung verbunden gewesen wären, gar nicht erst in Erwägung gezogen. In Rostock aber hatte Helmut Schmidt am selben Tag einen Vortrag gehalten und war nun – unangekündigt – auch bei der Lesung seiner Frau zugegen.
Als die Lesung begann, wollte Loki Schmidt, wie oft bei öffentlichen Veranstaltungen, ihrem Mann den Vortritt lassen. Das aber wollte Helmut Schmidt an diesem Abend auf keinen Fall. »Nein, geh du mal vor, das ist dein Abend«, stellte er klar. Auch in der ersten Reihe mochte er nicht sitzen, er wählte einen Platz abseits für sich ganz allein. Alle Aufmerksamkeit sollte seine Frau haben. Allerdings konnte er an diesem Platz auch ungestört rauchen, wie ich bald bemerkte.
Einen solchen Abend vergisst man nicht. Nicht nur weil es immer etwas Besonderes war, die Schmidts bei öffentlichen Auftritten mitzuerleben und die Wertschätzung des Publikums förmlich zu spüren. Ein solcher Abend bleibt auch deshalb unvergesslich, weil in den kleinen Gesten des Ehepaars so viel über die Beziehung der beiden zueinander zu entdecken war.
Oktober 2005, das waren damals immerhin dreiundzwanzig Jahre, nachdem Helmut Schmidt durch ein konstruktives Misstrauensvotum sein Amt als Bundeskanzler an Helmut Kohl verloren hatte, und fast zwanzig Jahre, nachdem er sich als einfacher Abgeordneter endgültig aus dem Bundestag verabschiedet hatte. Seit diesem Zeitpunkt hatte er kein weiteres öffentliches Amt besetzt, aber dennoch war Schmidts Ansehen seitdem stetig angewachsen und seine öffentliche Präsenz kaum geringer geworden.
Auch Loki Schmidt war nach den Bonner Jahren von der Öffentlichkeit nicht vergessen worden. Als Aushängeschild der nach ihr benannten Stiftung war sie trotz der Grünen immer noch eine wichtige Gestalt des Naturschutzes – die von ihr kreierte »Blume des Jahres«, mit der sie das öffentliche Interesse auf bedrohte Pflanzen lenken konnte, fand damals ebenso wie heute hohe Aufmerksamkeit. Als sie das achtzigste Lebensjahr bereits überschritten hatte, wurde sie zudem zu einer erfolgreichen Autorin.
Beide zeigten sich in den wichtigen Talkshows des Fernsehens, und beiden schadete es nicht, wenn sie dort Meinungen vertraten, die so gar nicht mit dem Mainstream in diesem Land in Übereinstimmung waren. Im Gegenteil: Einer der Gründe für ihre Beliebtheit war, dass das Publikum es schätzte, dass sie offen und klar formulierten, zu ihren Meinungen standen und sie eher selten selbst korrigierten. Helmut Schmidts Bewunderung für China und sein politisches Verständnis für eine auf Unterdrückung setzende Innenpolitik der dortigen Machthaber ebenso wie die sehr kritische Haltung beider Schmidts gegenüber der 68er-Bewegung in Deutschland sind zwei Beispiele dafür. Was bei anderen Prominenten vielleicht als Starrsinn gesehen worden wäre, wurde bei den Schmidts als Geradlinigkeit wahrgenommen.
Die Schmidts spielten ohne Frage vor und nach der Jahrtausendwende in ihrem Ansehen in einer eigenen Liga, ein ähnlich populäres Paar würde kaum jemandem für die Bundesrepublik einfallen. Doch waren sie auch ein Jahrhundertpaar, wie es im Titel dieses Buches heißt?
Ein Jahrhundertpaar wird man zunächst einmal durch ein langes gemeinsames Leben. Bei Loki Schmidt und Helmut Schmidt sind daher schon die schieren Daten der Gemeinsamkeit beeindruckend: Einundachtzig Jahre ihres Lebens kannten sich die beiden, fast siebzig Jahre waren sie verheiratet, und mehr als vierzig Jahre davon waren sie aufgrund der hervorgehobenen Ämter des Politikers und späteren politischen Publizisten und Elder Statesman Helmut Schmidt auch ein Paar des öffentlichen Interesses.
Auf diese lange Gemeinsamkeit und ihre Präsenz bis ins hohe Alter zeigten sich die beiden irgendwie auch stolz. Und da kein öffentliches Paar in Sicht war, an dem sie ihre lange gemeinsame Zeit hätten messen können, hatten sie sich zum Ziel gesetzt, beide älter als Konrad Adenauer zu werden. Auch das haben sie geschafft.
Beliebt waren sie natürlich auch, weil sie es als Paar nicht nur so lange, sondern anscheinend auch so einträchtig miteinander ausgehalten hatten. Darauf spielte Helmut Schmidt zum Beispiel bei seiner Rede auf seinem achtzigsten Geburtstag an, als er – zum Schmunzeln der geladenen Gäste, darunter der mehrfach geschiedene Gerhard Schröder – die Konstanz seiner eigenen Ehe betonte. Dass er dabei die Brüche in seiner Ehe großzügig überging, war damals nur wenigen und sicher auch nur in Umrissen bekannt.
In einem Buch über das Ehepaar Loki und Helmut Schmidt können diese Brüche allerdings nicht ausgespart bleiben. Allein schon deswegen nicht, weil die außerehelichen Affären Helmut Schmidts seine Ehefrau schwer getroffen haben. Über lange Jahre war die Beziehung gefährdet, und es ist vor allem dem Entschluss Loki Schmidts, damit leben zu können, zuzurechnen, dass die Ehe nicht auseinander gegangen ist. Dass Loki Schmidt so sehr bemüht war, sich noch ein anderes, völlig eigenständiges zweites Leben als Naturforscherin und Naturschützerin aufzubauen, sagt durchaus auch etwas über die Beziehung zu ihrem Mann aus. Nach außen war das für die Schmidts lange kein Thema, die Binnenperspektive allerdings zeigt ein anderes Bild, auch das gehört zu einer realistischen Beschreibung des »Jahrhundertpaars«. Allerdings können tiefe Krisen in einer Beziehung langfristig auch zu einer Stärkung führen – die Schmidts sind dafür ein Beispiel.
Das Ehepaar Schmidt zeichnet sich jedoch nicht nur durch das lange Zusammenleben aus. Beide haben sich um das Gemeinwesen in diesem Lande in besonderer Weise verdient gemacht. Er als Politiker und später als kritischer Begleiter der Politik, sie als Naturschützerin und Initiatorin von pädagogischen Projekten. Beide haben dafür in der Öffentlichkeit hohe Anerkennung gefunden. Einen beträchtlichen Teil ihrer Beliebtheit darf man durchaus auch ihrer perfekten Darstellung in eigener Sache zuschreiben. In gewisser Weise haben die Schmidts sich selbst zu einem Jahrhundertpaar gemacht.
In besonderer Art und Weise sind die Schmidts auch zu Zeitzeugen des gesellschaftlichen und politischen Geschehens ihrer langen Lebensspanne geworden. Er im Dezember 1918, sie im März 1919 geboren, haben sie die großen Veränderungen und Brüche der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts hautnah miterlebt.
Loki Schmidts Eltern, die auch Helmut Schmidt stark geprägt haben, hatten aktiv in der Novemberrevolution für die Errichtung einer Republik und gegen die Klassengesellschaft des Kaiserreichs gekämpft und waren vorbehaltlos für die neue Demokratie eingestanden. Als Kinder und Jugendliche profitierten Loki Glaser und Helmut Schmidt von der Bildungspolitik in der Weimarer Republik. Sie besuchten eine höhere Schule, in der auch Kinder aus der Arbeiterschaft einen Platz fanden und die sich einem demokratischen und vielseitigen Bildungsangebot verschrieben hatte. Die Auswirkungen der Nazizeit waren auch hier einschneidend, auch wenn die Schmidts selbst ihre Schule als eine Art Schutzraum empfunden haben.
Der Wehrmachtsoffizier Helmut Schmidt und die Lehrerin Hannelore Glaser heiraten im Kriegsjahr 1942. Man kann mit Recht sagen, dass der Krieg die beiden eigentlich erst zusammengeführt hat. Ihr erstes Kind, 1944 geboren, verlieren sie im Februar 1945, weil rettende Medikamente nicht vorhanden sind.
Nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes, der Befreiung durch die Alliierten und der Rückkehr von Helmut Schmidt aus der Gefangenschaft gerät Loki Schmidt in die Mühlen der Entnazifizierung, das aber hält beide nicht davon ab, sich quasi von der ersten Stunde an für den demokratischen Aufbau eines neuen Staates zu engagieren. Die politische Karriere ihres Mannes wird von Loki ohne Einschränkung bejaht und unterstützt. 1971 gibt sie sogar ihren Beruf endgültig auf, um ihn in Bonn bei seinen Aufgaben zu unterstützen. Nicht nur der Kanzler Schmidt, auch das Paar Loki und Helmut Schmidt steht ab nun im »Schaufenster der Republik«. Eine der großen Herausforderungen in der Amtszeit von Helmut Schmidt, der Terrorismus der RAF, begleitet ab 1974 auch ihr Leben und das ihrer Tochter Susanne über lange Jahre hinweg. Ihre Gefährdungsstufe wird als sehr hoch eingeschätzt, alle drei leben fortan mit ständig anwesendem Personenschutz. Die individuelle Lebensgeschichte und die allgemeine Geschichte stehen bei jedem Menschen in einem Zusammenhang. Bei dem...