Einleitung
In diesem Buch behandle ich eine Reihe von Themen. Im Zentrum steht die Bedeutung zwischenmenschlicher Beziehungen für die Entwicklung des kindlichen Seelenlebens und – allgemeiner gesprochen – für das kindliche Wohlergehen. Das mag im Zeitalter humangenetischer Forschung für manche eine »alteuropäische« Überzeugung sein, für mich ist es keine. So wichtig genetische Forschungsergebnisse für unsere Vorstellungen über die Entstehung von Persönlichkeitszügen sein können – jedes Blatt wird langweilig, wenn man es überreizt. Deshalb habe ich mich immer gehütet, bei aller Vorliebe für die Psychoanalyse, deren Blatt zu überreizen und eine Integration von psychoanalytischer Theorie und entwicklungspsychologischer Forschung angestrebt. Nach Fertigstellung dreier Bücher zu diesem Thema hatte ich gedacht, nun sei alles, oder zumindest das Wichtigste, gesagt, aber das war ein Irrtum. Die Forschung schreitet unaufhörlich fort und es entstehen immer wieder neue faszinierende Theorien über das kindliche Seelenleben, auch von seiten der Psychoanalyse, deren meines Erachtens ungerechtfertigter Niedergang in der allgemeinen Wertschätzung dennoch nicht zu übersehen ist.
Dieser Niedergang hängt mit vielen Faktoren zusammen: ihrer Langsamkeit, die im Zeichen eines wachsenden Modernisierungstempos antiquiert wirkt; ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen Vergangenheitsorientierung, die im Angesicht einer zunehmenden Gegenwarts- und Zukunftsorientierung außer Kurs gerät (s. Dornes 2000 a, Kap. 4) – vielleicht aber auch damit, daß sie vom technischen Fortschritt nicht profitieren kann. Während die heute haussierenden Disziplinen wie Gehirnforschung, Genforschung oder Kosmologie Apparate benutzen können, um attraktive Bilder und öffentliche Aufmerksamkeit zu produzieren, ist die Psychoanalyse refraktär gegen diese Form des Fortschritts und deshalb möglicherweise nicht spektakulär genug, um ein breites Interesse auf sich zu ziehen. Diese Eigenart ist in einer Erlebnisgesellschaft ein echter »Wettbewerbsnachteil«, den man stoisch und weltabgewandt ertragen kann. Da ich dem Spektakel skeptisch und dem Wettbewerb ambivalent gegenüberstehe, hege ich für diese Option durchaus Sympathien, beschreite aber dennoch einen anderen, weniger isolationistischen Weg. Er läuft auf eine »Fusion« der Psychoanalyse mit den Nachbardisziplinen hinaus (für eine andere Option s. Strenger 2002, Kap. 1 und 2005, Kap. 6). Dadurch treten manche ihrer Besonderheiten in den Hintergrund und es wird randunscharf, was Psychoanalyse eigentlich ist. Ich schlage vor, diese Unschärfe in Kauf zu nehmen und auf Kernbestandsdefinitionen nach dem Motto: Essentiell für die Psychoanalyse ist »… die infantile Sexualität, die Triebtheorie, der Ödipuskomplex« usw. zu verzichten, wenn auch vielleicht schweren Herzens. Die Psychoanalyse wird dann zum Bestandteil einer interdisziplinären »Science of Mind«, zu der viele Disziplinen beitragen: Philosophie, Soziologie, Pädagogik, Psychologie, Anthropologie, Eth(n)ologie, Gehirnforschung, Genetik und einige andere. Der zentrale Beitrag der Psychoanalyse zur Wissenschaft von der Seele besteht in meiner Sichtweise in der Herausarbeitung der Bedeutung der frühen emotional getönten und häufig von unbewußten Elementen beeinflußten zwischenmenschlichen Beziehungen, die die Textur und das Klima des Seelenlebens (mit)bestimmen.
Teile der postempiristischen Wissenschaftstheorie, insbesondere die sogenannte »Nicht-Aussagekonzeption von Theorien« (s. dazu Stegmüller 1987 a und Balzer 1997), sind zu der Auffassung gelangt, daß jede Theorie über einen »Kern« verfügt, der nicht widerlegbar ist beziehungsweise gegen Widerlegungen immunisiert werden kann, etwa dadurch, daß man den Anwendungs- oder Aussagebereich der Theorie einschränkt. Auch viele psychoanalytische Theoreme kann man so formulieren, daß sie widerlegungsimmun werden (Kurzüberblick bei Dornes 2001). Dafür zahlt man allerdings einen Preis. Er besteht darin, daß eine solcherart eingeschränkte Theorie, selbst wenn sie in einem strengen wissenschaftstheoretischen Sinn nicht widerlegbar ist, den Kontakt zum übrigen Weltwissen verliert und dadurch entweder uninspirierend oder unplausibel oder beides wird. Diesem Problem wende ich mich im ersten Kapitel zu. Dort nehme ich Stellung zu einer Kontroverse zwischen zwei einflußreichen Psychoanalytikern der Gegenwart, von denen der eine (André Green) die Kleinkindforschung als irrelevant für die Psychoanalyse betrachtet, der andere (Daniel Stern) einer der führenden Vertreter einer modernisierten psychoanalytischen Entwicklungstheorie ist. Die Kontroverse behandelt das grundsätzliche Problem, ob die Psychoanalyse zu ihrer Weiterentwicklung und Aktualisierung auf den Kontakt zu Nachbardisziplinen angewiesen ist oder ob sie eine autonome, epistemisch selbstgenügsame Disziplin ist, welche sich einzig auf die im klinischen Setting gesammelten Daten stützen sollte und den Kontakt zu anderen Disziplinen nicht benötigt. Ich diskutiere die Vor- und Nachteile der jeweiligen erkenntnistheoretischen Überzeugungen und komme zu dem Ergebnis, daß die epistemische Isolation der Psychoanalyse ihr mehr schadet als nützt und deshalb keine empfehlenswerte Option ist.
Im zweiten Kapitel befasse ich mich mit einer verwandten Frage. Hier geht es nicht mehr darum, ob Psychoanalyse und Entwicklungspsychologie wissenschafts- oder erkenntnistheoretisch unvereinbar sind, sondern darum, ob sie hinsichtlich ihrer anthropologischen Grundüberzeugungen inkompatibel sind. Häufig wird argumentiert, die psychoanalytische Anthropologie gehe von einer konstitutionellen Unangepaßtheit des Menschen aus. Diese soll zu einer unaufhebbaren Konflikthaftigkeit und Irrationalität der menschlichen Existenz führen. Im Unterschied dazu vertritt die Kleinkindforschung ein dialogischeres Verständnis der menschlichen Natur. Dieses Menschenbild ist aber nicht unpsychoanalytisch, sondern schließt an den »romantischen« Strang innerhalb der Psychoanalyse an, der von Autoren wie Ferenczi, Balint, Winnicott und Kohut repräsentiert wird und von Anfang an mit dem »heroischeren« Menschenbild Freuds und Melanie Kleins koexistierte. In dieser Sicht der menschlichen Natur sind Konflikte zwar ebenfalls unvermeidlich, ihre Unvermeidbarkeit wird aber weniger in der menschlichen Natur verankert als in den Schwierigkeiten der Umwelt, sich auf diese Natur einzustellen. Reimut Reiche hat einmal gesagt, die Kleinkindforschung sei eine entwicklungspsychologische Variante des Habermasianismus. Dies scheint mir eine zutreffende Qualifizierung. Im zweiten Kapitel wird der »Habermasianische Zug« der Kleinkindforschung deutlich, allerdings ohne explizit thematisiert zu werden. Er liegt darin, daß beide Theorierichtungen ihren Fokus auf Interaktion, Kommunikation und intersubjektive Verständigung richten, auch wenn die Verständigung, von der die Kleinkindforscher sprechen, nicht wie bei Habermas eine sprachliche ist, sondern eine vorsprachliche. Mit Habermas teile ich zwei weitere Grundüberzeugungen: zum einen die, daß man Wahrheit nicht an den Wissenschaften vorbeiproduzieren sollte, und obzwar dieses Statement gegen Adorno und Heidegger gemünzt war, kann man es ebenso gut gegen eine epistemisch selbstgenügsame Psychoanalyse wenden, die ich im ersten Kapitel kritisiere. Zum zweiten ist mir auch Habermas’ vielbeklagter Rationalismus sympathisch und ich halte den Säugling mindestens ebenso sehr für ein rationales Wesen wie für ein prä- oder irrationales. Darüber hinaus bin ich davon überzeugt, daß es körpernahe und leibhafte Formen von Vernünftigkeit gibt, die von Psychoanalyse und Philosophie bisher nur unzureichend thematisiert worden sind (s. Pothast 1998 sowie, in einem anderen Sinn, Stephan 2004 und Perler/Wild 2005).
Im dritten Kapitel vertiefe ich das Thema der zwischenmenschlichen Bezogenheit und stelle die kaum bekannte Theorie des norwegischen Soziologen und Entwicklungspsychologen Stein Bråten vor. In interaktionistischen Subjekttheorien wird üblicherweise die soziale Genese des Selbst betont und die Auffassung vertreten, daß das Selbst aus der Spiegelerfahrung mit dem Anderen entsteht. (Dieser Faden wird im fünften Kapitel aufgenommen.) Bråtens Theorie hingegen setzt einen originellen anderen Akzent und besagt, daß manche Aspekte des Selbst nicht durch die soziale Interaktion konstituiert werden, sondern ihr vorausgehen und daß das Subjekt schon vor jedem sozialen Kontakt eine soziale Konstitution hat. Eine zweite zentrale Idee Bråtens ist, daß der Säugling von Anfang an die Welt nicht nur – wie bei Piaget – aus seiner egozentrischen Perspektive wahrnimmt, sondern in der Lage ist, die Perspektive des Anderen auf die Welt mitzuempfinden. Diese gefühlshafte »alterozentrische« Teilhabe versorgt ihn mit einem Wissen davon, wie der Andere sich fühlt, der ihm deshalb unmittelbar vertraut ist und dessen Innenwelt er nicht aus seinen Verhaltensweisen durch kognitive Operationen erschließen muß. Implikationen für eine Theorie der Empathie, für präsymbolische Aspekte des Wiederholungszwanges und andere psychoanalytische Theorieteile werden diskutiert.
Auch im vierten Kapitel befasse ich mich mit frühen Formen von Intersubjektivität. Im Mittelpunkt steht hier die Bedeutung zwischenmenschlicher emotionaler Verbundenheit für die Fähigkeit zur Symbolbildung. Die Kernthese dieses Kapitels, die unter Rekurs auf die Symbolentstehungstheorie des Londoner Psychoanalytikers und Autismusforschers Peter Hobson entwickelt...