Einleitung
Die Psychoanalyse hat wie keine andere psychologische Theorie des 20. Jahrhunderts der frühen Kindheit eine entscheidende Bedeutung für die weitere seelische Entwicklung zugemessen. Ihre Theorien über diese Zeit gründete sie in hohem Maße auf die Analysen von erwachsenen Patienten und deren Berichte über ihre Kindheit. Diese Quellen sind wichtig, vor allem dann, wenn man mit Kindheitserinnerungen in therapeutischer Absicht umgeht. In diesem Falle ist es weniger bedeutsam, zu überprüfen, ob die berichteten Ereignisse mit dem übereinstimmen, was sich in der Vergangenheit tatsächlich ereignet hat – eine solche Überprüfung ist ohnehin nur in begrenztem Umfang möglich. Vielmehr kommt es in erster Linie darauf an, die in den Erzählungen der Patienten zum Ausdruck kommende seelische Verarbeitung dieser Ereignisse ernst zu nehmen.
Dennoch arbeitet jeder Psychotherapeut mit impliziten Vorstellungen davon, wie eine optimale oder normale Entwicklung aussieht. Diese Vorstellungen sind der Bezugspunkt, mit dessen Hilfe er die Schwere von (vermuteten) pathogenen Kindheitsereignissen einschätzt. Insofern sind Theorien über die normale Entwicklung von Kindern ein Grundbestandteil im Rüstzeug eines jeden Therapeuten. Beschränkt man sich aber bei der Konstruktion entwicklungspsychologischer Theorien auf Berichte von Patienten, so haben die auf diesem Wege entwickelten Hypothesen unausweichlich ein pathomorphes »Aroma«, denn es sind Berichte von Patienten, also Menschen, von denen die Psychoanalyse vermutet, daß ihre Kindheit nicht optimal verlaufen ist. Eine Theorie der normalen Entwicklung ist deshalb auf Quellen jenseits der therapeutischen Situation angewiesen. Hartmann, einer der bedeutendsten Theoretiker in der Geschichte der Psychoanalyse, hat dies schon früh erkannt. »Theorien über frühere Entwicklungsstadien müssen sich sowohl auf Daten der Rekonstruktion als auch auf solche direkter Beobachtung stützen.« Und: »Wir sind zu dem Schluß gekommen, daß die psychoanalytische Psychologie sich nicht auf das beschränkt, was sie durch die Verwendung der psychoanalytischen Methode gewinnen kann …« (Hartmann 1950a, S. 108, 110).
Das vorliegende Buch handelt von Ergebnissen der psychologischen Forschung, die nicht durch Verwendung der psychoanalytischen Methode gewonnen wurden, und überprüft deren Relevanz für die Psychoanalyse. Im ersten Kapitel gebe ich einen Überblick über zentrale Themen der mittlerweile recht lebhaft gewordenen Debatte zwischen Psychoanalytikern und Säuglingsforschern. Deren Ergebnisse legen nahe, die Symbiose- und die Borderline-Theorie der frühen Entwicklung, die vor allem von Mahler und Kernberg ausgearbeitet wurde, zu revidieren. Beide Theorien sind als Beschreibungen der normalen Entwicklung nur von begrenzter Gültigkeit. Das Kapitel ist eine Zusammenfassung einiger Thesen und Abschnitte aus meinem vorigen Buch (Dornes 1993). Es dient als Ausgangspunkt für die folgenden.[1]
Das zweite Kapitel befaßt sich mit den Implikationen der Säuglingsforschung für verschiedene klinisch bedeutsame Phänomene. Ich schlage eine Neubetrachtung der projektiven Identifizierung vor und plädiere für eine interaktionelle Ergänzung der bisher weitgehend auf die Analyse intrapsychischer Mechanismen konzentrierten Neurosenlehre. Außerdem zeige ich, daß die direkte Beobachtung der Interaktion zwischen depressiven Eltern und ihren Säuglingen zu Ergebnissen führt, die mit klinisch-rekonstruktiv gewonnenen Hypothesen über die Genese depressiver Störungen übereinstimmen.
Im dritten Kapitel gehe ich der Frage nach, wie Säuglinge denken, und entwickle eine Drei-Stufen-Theorie des Mentalen: Die ersten psychischen Aufzeichnungen haben die Gestalt sensomotorisch-affektiver Schemata, die mit etwa einem Jahr durch das bildhafte Denken überformt werden. Mit eineinhalb Jahren werden die zunächst »statischen« Bilder flexibler und frei evozierbar. Sie können dann zu Bildsequenzen kombiniert werden – und damit beginnt Phantasieren im anspruchsvollen Sinn. Sein Wesen besteht im Aufbau einer seelischen Innenwelt, in der Ereignisse neu erschaffen werden können, die in der Realität nie stattgefunden haben. Zugleich mit der Fähigkeit zum evokativ-bildhaften symbolischen Denken entsteht als dritter Schritt die sprachliche Codierung des Psychischen. Sie ermöglicht das begriffliche Denken. Knapp ausgedrückt, postuliere ich also eine Entwicklung des Mentalen von der Empfindung über das Bild zum Wort.
Im vierten Kapitel wird dieses Thema weiterverfolgt. Ich behandle einige Schwerpunkte der Nach-Piagetschen Entwicklungspsychologie, wobei ich drei Problembereiche in den Vordergrund rücke: 1. referiere ich Auffassungen über die Entwicklung des bildhaften Denkens, die sowohl seinen Entstehungsprozeß als auch seinen Entstehungszeitpunkt anders konzipieren als Piaget. 2. behandle ich die Frage, wie die Interaktion zwischen Säugling und Mutter vom Säugling repräsentiert wird – ein Thema, das bei Piaget zu kurz kommt, weil er sich überwiegend mit dem Verhältnis des Kindes zur unbelebten Welt befaßt. 3. skizziere ich eine Theorie der Intersubjektivität. Eine solche ist weder bei Piaget noch in der psychoanalytischen Theorie angemessen entfaltet. Meine Kernaussage ist, daß schon der Säugling nicht nur in seinen (Trieb)bedürfnissen befriedigt, sondern als Person anerkannt werden will. Winnicott, Balint und Kohut haben hierzu wichtige Vorarbeiten geleistet, die mit Beobachtungen und Hypothesen der Kleinkindforschung teilweise übereinstimmen. In diesem dritten Teil deute ich eine Anthropologie an, die sich von der Freuds ein wenig unterscheidet.
Im fünften Kapitel wird Margaret Mahlers Theorie neu betrachtet. Diese schöne Theorie hat mich lange fasziniert. Ich bin mittlerweile der Auffassung, daß die von der Säuglingsforschung inspirierte Kritik der Symbiosetheorie nach wie vor ihre Berechtigung hat, aber relativiert werden sollte. Zwar gibt es im Leben des Säuglings keine symbiotische Phase – wie Mahler dachte –, aber wahrscheinlich gibt es symbiotische Momente. Deren Einfluß auf die weitere Entwicklung hängt davon ab, wie die Eltern mit ihnen umgehen. Die interaktionelle Relativierung des Symbiosekonzepts erlaubt es, einerseits die Universalität symbiotischer Momente anzuerkennen, andererseits deren unter Umständen nur recht begrenzte Bedeutung für die weitere Entwicklung klarer zu sehen. Etwas ähnliches gilt für Mahlers Theorie der Wiederannäherungskrise, die bisher von seiten der Kleinkindforschung etwas stiefmütterlich behandelt wurde. Im Unterschied zu Mahler, die vorwiegend auf die interpsychischen Quellen der Ambivalenz des eineinhalbjährigen Kindes abhebt, betone ich ihre interpersonellen Ursprünge. Die Berücksichtigung der Bindungsforschung führt zu dem Ergebnis, daß die von Mahler als universal betrachteten Charakteristika der Wiederannäherungsphase nicht bei allen Kindern vorkommen, sondern nur bei einer Minderheit.
Die Kapitel sechs bis neun befassen sich mit den »dunklen« Seiten der menschlichen Existenz. Im sechsten Kapitel stelle ich in kurzer Form die beiden wichtigsten »frühen« Ängste vor: die Fremden- und die Trennungsangst. Ich arbeite die Unterschiede zwischen Bowlbys Auffassung und derjenigen der Kleinianer heraus. Meine Sympathien liegen bei Bowlby, und ich plädiere dafür, diese Ängste eher als realistisch und weniger als durch Phantasien ausgelöst zu betrachten.
Im siebten Kapitel, das zusammen mit Hildegard von Lüpke verfaßt wurde, geht es um das immer noch rätselhafte Phänomen des plötzlichen Kindstodes. Wir betrachten ihn als multifaktorielles Geschehen und konzentrieren uns auf die Darstellung möglicher psychischer Ursachen bei Mutter und Kind. Das ist ein »heißes Eisen«, denn fast unausweichlich werden Eltern, die sich mit dem Tod ihres Säuglings auseinandersetzen, Schuldgefühle entwickeln. Wenn sie dann hören, daß z.B. »unbewußte Feindseligkeit« gegenüber dem Kind eine mögliche pathogenetische Rolle spielt, können sich diese Schuldgefühle verstärken. Uns geht es nicht darum, Eltern zu beschuldigen oder für den Tod ihres Kindes verantwortlich zu machen, aber es gehört zu den tragischen Seiten des Lebens, daß wir gelegentlich mit Ereignissen konfrontiert sind, zu deren Eintreten wir unwillentlich und unwissentlich beigetragen haben. Paradoxerweise ermöglicht erst die Anerkennung dieses Beitrags die Beendigung der seelischen Verstrickung. Gutgemeinte Beschwichtigungsversuche haben häufig eher den gegenteiligen Effekt.
Im achten Kapitel behandle ich das Thema der Kindesmißhandlung. Jeder, der sich mit der Mißhandlung oder Vernachlässigung von Kindern beschäftigt, wird sich recht schnell von der Bedeutung sogenannter Realtraumatisierungen überzeugen können. Sie wurden von der Psychoanalyse lange Zeit vernachlässigt. In letzter Zeit ist das Pendel in die andere Richtung ausgeschlagen. In den Vereinigten Staaten ist – unter einseitiger Betonung des sexuellen Mißbrauchs – eine regelrechte »Inzest-Buch-Industrie« entstanden, die den Betroffenen häufig nur einen Bärendienst erweist. Die Politisierung dieses Themas, die zum Teil sicher notwendig war, um es aus den Hinterzimmern des Verschweigens an das Licht der Öffentlichkeit zu bringen, ist mittlerweile kontraproduktiv geworden. Ich versuche, dieses Thema zu »verwissenschaftlichen«, und stelle dar, welche Folgen Kindesmißhandlung hat und welche Möglichkeiten der Linderung es gibt. Dabei...