Wir sind sexuell gesund!
Wir gehen gemeinhin davon aus, dass wir sexuell gesund sind und uns gut zu unserem Körper verhalten. Ärzte in der Notaufnahme eines x-beliebigen Krankenhauses erzählen jedoch Geschichten, die mich daran zweifeln lassen: Männer, die ihren Penis in Staubsaugerrohre stecken, da der Sog ein Vakuum bildet, das potenzfördernd und erregend wirkt. Oder Frauen, die sich Glühbirnen in die Scheide einführen. Von den Folgen will ich hier gar nicht sprechen. Die Abartigkeiten reichen bis Sex mit Hunden, verletzenden Gegenständen und vielen anderen Zutaten, die von allem Menschlichen weit entfernt sind. Auch bis zu Missbrauch zwischen Vätern, Müttern und den eigenen Kindern. Wie kann das sein?
Mir geht es hier nicht um bizarre, sensationsheischende Beispiele. In meinem Arbeitsalltag als Sexualtherapeutin entsetzt es mich viel mehr, wenn mir Frauen erzählen, dass sich der Mann bei der Ärztin erkundigt, wie viele Tage er warten müsse, bis er nach dem Kaiserschnitt wieder Sex haben kann. Nach der Antwort auf diese Frage wird im Internet und bei den behandelnden Ärzten recherchiert, auch wenn der Partnerin zum Beispiel gerade die Gebärmutter entfernt wurde. Dass die Betroffene in dieser Lebensphase gerade eine immense Veränderung erlebt, was Frau, Mutter, erotisches Wesen, was sie als trauernden, erleichterten, glücklichen, körperlich verletzten Menschen betrifft, scheint diese Männer nicht zu interessieren. Es geht ihnen allem Anschein nach ausschließlich um die Scheide, die zuständig für ihren Drang ist. Viele sagen dann: „Nein, ich brauch nicht nur ihre Scheide, sie kann es mir auch mit der Hand oder dem Mund besorgen.“
Die Frau ist und bleibt also die Sklavin der männlichen Potenz und der Mann der Unterlegene seiner Borniertheit. Und diese Geschichten sind leider keine extravaganten Einzelfälle. Sie sind „normal“.
Zeitzeugnisse unter jeder Menschenwürde. In welcher Hölle der Unmenschlichkeit befinden wir uns? Was verstehen Frauen und Männer eigentlich unser Sex? Wirklich nur Penis in Scheide?
zerdrückt und gequetscht
durchbohrt, gehaut
ausgesaugt und missbraucht
warum sieht mich niemand?
bin ich nichts wert?
warum schmerzt das Leben so?
ich gebe mich auf
ich bin nicht mehr
es gibt mich selbst
nicht mehr
grausam, verwüstet, zerstört
nichts mehr, wie ich bin
was zu mir gehört
es gibt mich nicht mehr
ich bin nicht gewollt
Gewalt und Zerstörung haben mich überrollt
alle Körperöffnungen sind zerstochen
was weich war, ist hart
alle Hoffnung ist gebrochen
was hell war, ist schwarz
ich glaube nicht mehr an das Gute
das Vertrauen ist weg
Liebe ist nicht mehr da
ich weiß nicht mehr
wer ich war
ich bin weniger als ein Tier
bin benutzt verdreckt
mein Ich ist abgespeckt
Missbrauch
Missbrauch geschieht auf körperlich-genitaler, auf psychischsozialer, auf gesellschaftlich-kultureller, auf politischer und auf wissenschaftlicher Ebene. Egal wie die jeweilige Szene aussieht, immer sind Täter hierarchisch übergeordnet und die Opfer in einer schwächeren Position. Es zählt der Wille des Täters, die Initiative geht von ihm aus, das Opfer wird entweder nicht gefragt oder manipuliert. Der Übergriff macht das Opfer ohnmächtig, nimmt ihm die Eigenmacht sowie die Möglichkeit zum Handeln und Reagieren. Das Opfer hat zu dienen und zu funktionieren, mündige Opfer gibt es nicht, immer werden sie mundtot gemacht. Die erpresserischen Methoden dabei können sehr subtil sein, wie: „Das ist unser Geheimnis, das darfst du niemandem erzählen.“ Oder: „Schau, wie lieb ich bin, ich schenke dir dafür einen Kaugummi, denn den gibt dir deine Mama nie.“ Oder: „Dafür bekommst du eine gute Note.“ Sehr oft werden Opfer mit physischer Gewalt zum Schweigen gebracht: An Händen und Füßen gefesselt, mit einem Knebel im Mund drohen sie beinahe zu ersticken. Auch die Bedrohung mit einer Waffe oder die Androhung körperlicher Verletzungen ist Gewalt.
Die Hierarchie ist die Macht, die aus zwischenmenschlichen Begegnungen Missbrauchssituationen macht. Dem Opfer wird dabei seine Menschlichkeit genommen – es kann nicht mehr aktiv sein, es wird in die Passivität gezwungen.
Missbrauch findet meist schon in der Kindheit statt, weshalb ich dieser Lebensphase besondere Aufmerksamkeit schenken möchte. Vielleicht denken viele, ihnen sei nichts dergleichen geschehen. Aber es geht nicht nur um körperlich-genitalen Missbrauch, um Vergewaltigung. Es geht darum, soziale und emotionale Missbrauchsmuster zu entlarven und zu erkennen, denn diese spielen auf vielen zwischenmenschlichen Ebenen eine Rolle – ob wir das wollen oder nicht. Sie prägen unser Leben, unser Selbstwertgefühl, die Qualität unserer Beziehungen, sie nehmen immer wieder dieselbe Form an, unser Leiden wiederholt sich ständig, wir können nicht aus unserer Haut schlüpfen.
Ich traue mich zu sagen, dass mit wenigen Ausnahmen alle Menschen auf irgendeine Weise Missbrauch erfahren haben. Er hat sich entweder als persönliches Erlebnis oder als gesellschaftliches Muss gezeigt. Wer empfindsam ist und sich die emotionale Wachheit erhalten hat, weiß, was ihn verletzt, gekränkt, geschwächt hat. Es gibt hier keinen Unterschied zwischen Frau und Mann. Wir sind Menschen und haben Leid erfahren. Das kann traurig sein, ist für Veränderung gleichzeitig von grundlegender Wichtigkeit, sobald ich entschieden habe, meinem Leben und meinem sexuellen Ausdruck eine andere Qualität zu geben.
Subtiler Missbrauch
Die häufigste Form von hierarchischer Macht zwischen zwei Menschen ist der subtile und emotionale Missbrauch. Darunter fallen alle Situationen, in denen ein Kind nicht die freie Wahl hat, auf seine Weise kreativ zu sein, mitzumachen oder nicht. Es kann die Tante aus Süditalien sein, die zu Besuch ist und deren warm-feuchte Begrüßungsküsse das Kind ebenso über sich ergehen lassen muss wie die Umarmung, mit der es in den weichen, schwabbelnden Busen gedrückt wird. Vielleicht sagt das Kind sogar: „Ich mag das nicht, ich mag die Tante nicht.“ Die Antwort der Eltern kann da sein: „Das ist eben so, Süditaliener machen das und die Tante ist sehr lieb, du siehst das falsch.“ Das Kind muss den Erwachsenen gehorchen – und bereits diese Missachtung der Ich-Wahrnehmung des Kindes stellt eine Form des Missbrauchs dar.
Oder eine andere Situation bei einem Verwandtenbesuch: Die Mutter wünscht sich, dass das Kind den Vater auf den urlaubsüblichen Dreitagebart, nein, auf den Mund küsst, damit der Besuch sehen kann, welch gute Beziehung zwischen Vater und Kind herrscht. Das Kind ekelt sich und wischt sich danach den Mund ab und fühlt sich von den Menschen, die ihm am nächsten sind, beschmutzt, benutzt und betrogen.
Viele Erwachsene haben darunter gelitten, dass sie nur dann gelobt wurden und elterliche Anerkennung erlebt haben, nachdem sie etwas geleistet hatten. Ob das nun der Sohn des Hoteliers ist, der arbeiten musste, anstatt mit Gleichaltrigen zu spielen, oder die Bauerntochter, die in den Stall ging anstatt mit Freundinnen in die Stadt, der Unternehmersohn, der bei gesellschaftlichen Anlässen den Regeln der Repräsentanz zu entsprechen hatte, oder die Tochter, deren Noten auch bei einem „Sehr gut“ nicht ausreichend waren. Auch das sind Übergriffe, die gesellschaftlich vielleicht als solche nicht gesehen werden. Ich höre solche Erzählungen häufig, wenn es um die Erinnerungen an Situationen geht, in denen sich der heute Erwachsene als Kind erniedrigt gefühlt hat. Immer geht es um eine emotionale Last, eine Kränkung, die dem Kind damals von den Autoritätspersonen zugefügt wurde.
Solche Arten von Missbrauch lösen bei Kindern Ohnmachtsgefühle aus. Daraus resultiert ein Gefühl der Eigenschuld, denn das, was sie spontan tun würden, wird als falsch und unpassend verurteilt. Kinder fühlen sich dann schuldig für die Missstimmungen der Eltern, schuldig für die eigenen Fehler, schuldig für Gereiztheiten aller Art. Diese Kinder verlernen, was sie selbst sind und was nicht. Die Grenzen zwischen...