Der Wohlfahrtsstaat als Ort sozialer Konflikte
Die wohlfahrtsstaatliche Politik prägt Lebenschancen und strukturiert soziale Ungleichheit, indem sie Privilegien zuweist und entzieht, indem sie das Gefüge aus sozialen Rechten und Pflichten ordnet und justiert. Der Wohlfahrtsstaat konstruiert und konstituiert »soziale Vorzugslagen«, aber auf diese Weise auch immer soziale Benachteiligungslagen. Der Wohlfahrtsstaat ist der Ort der sozialen Auseinandersetzungen um die politische und rechtliche Formulierung einer – in den Worten Robert Castels – »Handicapologie«. Die politische Praxis der Handicapologie fragt: Wer verdient für welchen Tatbestand welche finanzielle und normative Aufmerksamkeit, wessen Handicaps werden als berechtigt anerkannt und welche Handicaps erweisen sich als interventionstauglich, als ausgleichsbedürftig oder vielleicht auch als zumutbar? Auf der Grundlage dieser Fragestellungen gibt es in wohlfahrtsstaatlich formierten Demokratien zu keinem Zeitpunkt dauerhaft sozialpolitisch Befriedigte und dauerhaft sozialpolitisch enttäuschte soziale Gruppen bzw. Klassen, sondern die Enttäuschungs- und Befriedigungsintensität ist zwischen und innerhalb unterschiedlicher sozialer Klassen stets variabel. Diese prekäre und konfliktreiche Balance von Befriedigung und Enttäuschung gesellschaftlicher Erwartungen, die als das strukturelle Grundmerkmal der Organisation und Praxis des Wohlfahrtsstaates betrachtet werden kann, geht in der sozialwissenschaftlichen Literatur und ihrer häufig monotonen Suche nach Wohlfahrtsstaatstypen bedauerlicherweise weitgehend unter.
Die mittlerweile »klassische« Wohlfahrtsstaatstypologie von Göran Esping-Andersen, der drei Welten eines konservativ, liberal und sozialdemokratisch geprägten »Wohlfahrtskapitalismus« unterscheidet, ist daher als Heuristik wohlfahrtsstaatlicher Entwicklungslogik verdienstvoll, für das systematische theoretische und empirische Verständnis wohlfahrtsstaatlicher Praxis allerdings weitgehend untauglich. Die Typologie hilft Unterscheidungen zu treffen, aber sie operiert mit einem Modell, dass keine sozialen Konflikte um die Gestalt und Gestaltung von Staatlichkeit kennt, und sie unterstellt, dass das letzte und höchste Ziel des Wohlfahrtsstaates die »Dekommodifizierung« der Ware Arbeitskraft sei. Davon kann allerdings nicht die Rede sein. Selbstverständlich zielt wohlfahrtsstaatliche Politik von Beginn an darauf, der Nutzung der menschlichen Arbeitskraft spezifische politische und institutionelle Grenzen zu setzen bzw. das freie Spiel von Angebot und Nachfrage auf den Arbeitsmärkten einzudämmen. Doch diese auf »Dekommodifizierung« orientierte Funktionsbestimmung bleibt unerfreulich eindimensional. Der Maßstab des wohlfahrtsstaatlichen Handelns ist keineswegs der Schutz der Arbeitskraft vor dem Markt. So betont Karl Polanyi in seiner klassischen Studie zur »Great Transformation«, dass es gerade der sich etablierende Wohlfahrtsstaat ist, der die marktfähige Arbeitskraft überhaupt erst herstellt.1 Die wohlfahrtsstaatliche Organisation des Sozialen zielt nicht auf Marktabschirmung, sondern umgekehrt auf Marktbefähigung. In dieselbe Kerbe schlägt auch Foucault in seinen Vorlesungen zur »Gouvernementalität«. In diesen Vorlesungen konzentriert er sich in besonderer Weise auf die gesellschaftspolitischen Vorstellungen und das Markt-Staat-Verständnis der Ordoliberalen.2 Foucault zeigt, dass für die Freiburger Schule der Markt keine natürliche Sozialordnung darstellt, die der Staat bzw. die politische Regierung respektieren oder gar schonen müsste. Es verhält sich aus der Sicht der ordoliberalen Protagonisten Eucken, Röpke oder Müller-Armagk genau umgekehrt: Ohne politische Intervention und ohne rechtlichen Eingriff entstehen keine stabilen Marktordnungen. Der funktionierende Markt ist das Ergebnis von politischer, rechtlicher, d.h. in letzter Instanz staatlicher Regierungspraxis.
Zudem verleitet die Konzentration auf die dekommodifizierende Wirkung zu einem Verständnis des Verhältnisses von Markt und Sozialpolitik, das den Problemen entwickelter Wohlfahrtsstaaten, in denen sich entlang der Formel der »Staatsbedürftigkeit« durchaus komplizierte Verbindungen von wirtschaftlichen und politischen Sphären ergeben, nicht gerecht wird. Sozialpolitik ist nicht die Problemlösungsinstanz marktwirtschaftlich organisierter Gesellschaften. Ein Grundmerkmal entwickelter Wohlfahrtsstaaten ist doch gerade, dass sie zunehmend mit sozialpolitischen Problemen zweiter Ordnung konfrontiert sind. Sozialpolitik bearbeitet die durch ihre Praxis selbst erzeugten Handlungsanforderungen. Sie dreht sich immer weniger um die Beeinflussung konkreter sozialer Problemlagen im Sinne einer Sozialpolitik erster Ordnung, »sondern um die Beeinflussung der Interventionsapparaturen, welche einstmals um der Linderung sozialer Problemlagen willen geschaffen worden sind, heute jedoch ein institutionelles Eigengewicht gewonnen haben, das weitgehend unabhängig von den ursprünglichen Motiven um politische Beachtung ringt. Hier geht es nicht mehr um Intervention in soziale Verhältnisse, sondern um die Gewährleistung und Steuerung institutionalisierter Systeme – insbesondere des Tarifvertragswesens, der Einkommenssicherung und der Dienstleistungsproduktion.«3 Rieger spricht in Anspielung auf diese Sozialpolitik zweiter Ordnung sehr anschaulich, aber vielleicht etwas zu negativ eingefärbt von »Selbstverknotungen« und »Selbstbindungen«. Sie sind gleichermaßen Resultat und Steuerungsproblem wohlfahrtsstaatlicher Arrangements.4 Auch er betont die Eigendynamik sozialpolitischer Strukturen und hält es für ein ehernes Gesetz der Sozialpolitik im entwickelten Wohlfahrtsstaat, »dass jede Problemlösung die Dringlichkeit der noch ungelösten Probleme erhöht«.5 Die Grenzen des Wohlfahrtsstaates liegen mithin nicht allein in den Problemen der fiskalischen Umverteilung oder Abgabenlast, sondern auch in den Antinomien der sozialpolitischen Praxis. Diese Praxis ist in schwelende Interessenkonflikte involviert, die sich zwischen den durch sozialpolitische Verteilung entweder gestärkten oder geschwächten Gruppen abspielen. In der Entwicklungsgeschichte moderner staatlicher Regulation des Sozialen erkennen wir Kämpfe um den Neubau, Ausbau und Abbau wohlfahrtsstaatlicher Institutionen und Sicherungssysteme sowie Auseinandersetzungen um die »regulativen Wertmaßstäbe« der Sozialpolitik. In der Formulierung Max Webers: »Das Kennzeichen des sozialpolitischen Charakters eines Problems ist es ja geradezu, dass es nicht auf Grund bloß technischer Erwägungen aus feststehenden Zwecken heraus zu erledigen ist, daß um die regulativen Wertmaßstäbe selbst gestritten werden kann und muß, weil das Problem in die Region der allgemeinen Kulturfragen hineinragt. Und es wird gestritten nicht nur […] zwischen ›Klasseninteressen‹, sondern auch zwischen Weltanschauungen.«6
Daraus ergeben sich für den Wohlfahrtsstaat als sozialem Konfliktfeld drei Schlussfolgerungen: Erstens, es gibt keine übergeordnete, zentrale Leitfunktion des Wohlfahrtsstaates, die sich beispielsweise in der Funktion der Dekommodifizierung oder der Dämpfung und Einhegung von Marktmechanismen erschöpfen würde. Die Staatszielbestimmung des modernen, rechtsbasierten Wohlfahrtsstaates kann nicht eindimensional auf Markteinhegung reduziert werden, wie es die Typologie Esping-Andersens suggeriert. Zweitens, »Markt« ist keineswegs ein diametraler Gegensatz zu wohlfahrtsstaatlicher Politik. Beides, Markt und Staat, sind vielmehr Mechanismen der Regulation und Befriedigung potentiell divergenter Interessen und Bedürfnisse. Historische Arbeiten zeigen die enge Verschränkung und wechselseitige Angewiesenheit von Markt und Staat als Funktions- und Ordnungsprinzipien des Sozialen. Max Webers Kapitalismustheorie ruht auf der Erkenntnis, dass allein im rationalen Staat der Kapitalismus gedeihen kann. Dieser Staatstypus beruht auf dem formalisierten und berechenbaren Recht. Recht muss sich berechnen lassen wie eine Maschine, um das Unternehmertum auf sicherem Grund gedeihen zu lassen. Hierzu bedarf es der Sozialfiguren des Fachbeamten und des Verwaltungsdieners. Drittens, die wohlfahrtsstaatliche Lösung und distributive Bearbeitung der Probleme einer gesellschaftlichen Gruppe erzeugt in aller Regel Probleme für andere Gruppen der Gesellschaft. »Wohlfahrtsstaatliche Einrichtungen in marktwirtschaftlichen Kontexten sind typischerweise gleichzeitig auf gegensätzliche Bedürfnisse von sozialen Gruppen bezogen, die im System der gesellschaftlichen Arbeitsteilung unterschiedliche Positionen einnehmen. Sie enthalten zwangsläufig Elemente, die untereinander in einem Spannungsverhältnis stehen.«7 Mit anderen Worten: Die wohlfahrtsstaatliche Politik beeinflusst in historischer wie in zeitdiagnostischer Perspektive in sehr unmittelbarer Weise die Kräfteverhältnisse zwischen sehr unterschiedlichen sozialen Gruppen. Die politische Balancierung sozialer Ungleichheiten zwischen Männern und Frauen, Arbeitern und Angestellten, Aufstiegsorientierten und Abstiegsverängstigten, zwischen deklassierten und etablierten Gruppen sowie zwischen »Wohlfahrtsgenerationen« (Heinz Bude) ist und bleibt die zentrale...