Primat der Politik? – Die Strategiefähigkeit der politischen Klasse
»Man hörte die Maschine noch klappern, und so fragte niemand, ob sie ihre Dienste noch leistet.«1
Afghanistan ist kein Einzelfall. »Wir sind – vor allem wenn es um die Beteiligung der Bundeswehr ging – fast immer dorthin gegangen, wo wir eigentlich nicht hingehen wollten.«2 So die Diagnose von Winrich Kühne vom Zentrum für Internationale Friedenseinsätze. Ein geneigter Beobachter könnte das der deutschen Unerfahrenheit mit Auslandseinsätzen zuschreiben und darauf hinweisen, dass die Berliner Republik einen Lernprozess zu absolvieren hatte, der sie letztlich in die Normalität internationaler Sicherheitspolitik führen sollte. Das Auffälligste am Zustandekommen und Verlauf deutscher Friedenseinsätze ist hingegen, dass eine solche Entwicklung im Grundsätzlichen kaum erkennbar ist. Noch immer erscheinen die Missionen wie zufällig, anlassbedingt oder kontextabhängig. Viele davon hätte man ebenso gut sein lassen können. Aber welche? Und warum gerade diese – und jene nicht?
Der erste größere Bundeswehr-Einsatz ging nach Somalia (1993/94), und sein wenig befriedigendes Ergebnis führte zu dem stillschweigenden Konsens: »Nie wieder Afrika!« Damit wurde retrospektiv noch einmal unterstrichen, dass es keine vitalen nationalen Interessen gegeben hatte, die zur Einsatzbeteiligung an der UN-Mission UNOSOM II geführt hatten – und dass über die mögliche strategische Bedeutung des afrikanischen Kontinents in der Bundesregierung, dem Parlament und der Militärführung keinerlei Vorstellungen bestanden. Hatte sich das verändert, als sich die Bundeswehr zwölf Jahre später zur Beteiligung an der EUFOR-Mission zum Schutz der Präsidentschaftswahlen im Kongo rüstete? Eine Bezugnahme auf die EU-Afrikastrategie war öffentlich nicht erkennbar; schon die kurzatmige und begrenzte Dimension des Einsatzes und der politischen Begleitmaßnahmen sprachen dagegen. Und eine inzwischen veränderte Relevanz dieses afrikanischen Staates für die deutsche Sicherheit hat niemand zu behaupten gewagt. So reduzierte sich die politische Begründung der Mission schlicht auf den operativen Nutzen für die europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik – eigentlich war man der alten Konsensformel treu geblieben, denn um Afrika ging es bei diesem Einsatz zuallerletzt.
Sucht man nach Lernprozessen, kann man sie am ehesten in der Balkanpolitik beobachten. Hier galt zunächst die sogenannte Kohl-Doktrin, die besagte, dass deutsche Truppen nie mehr dorthin gehen würden, wo einst die Wehrmacht gewesen war. Bereits 1995 wurde dies mit der Beteiligung am SFOR-Einsatz in Bosnien-Herzegowina revidiert, 1999 beteiligte sich die Bundesrepublik an dem völkerrechtlich hochproblematischen Einsatz gegen Serbien und danach an den KFOR-Kontingenten. Inzwischen ist die Region zu einem Schwerpunkt militärischer Präsenz der Bundesrepublik geworden. Das ließ sich vergleichsweise schlüssig mit dem elementaren Interesse an der Stabilisierung des europäischen Umfelds erklären.
Für den Afghanistan-Einsatz, bei dem Deutschland inzwischen als wichtigster Truppensteller und lead nation firmiert, ist der strategische Nachweis schwerer zu erbringen – und die Anstrengungen, die die Bundesregierung unternahm, grenzten bisweilen ans Kuriose. Zunächst hatte die bündnispolitische Begründung im Vordergrund gestanden, dann wurden die alten Beziehungen zwischen Deutschland und Afghanistan beschworen, und zuletzt bürgerte sich die vom damaligen Verteidigungsminister Struck überlieferte Argumentation ein, Deutschland werde »auch am Hindukusch verteidigt«.3 Hier war nun das Strategiedefizit mit Händen greifbar, denn man bemühte einen alten und vergleichsweise eindeutigen Terminus (»Verteidigung«), um eine neue Sache zu legitimieren, nämlich die politischmilitärische Projektion von »Sicherheit« weit in das Vorfeld jeder unmittelbaren Bedrohung. Und dies ungeachtet der Tatsache, dass nach dem 11. September 2001 ausdrücklich davon gesprochen worden war, dass damit der Bündnis- und gerade nicht der Verteidigungsfall eingetreten sei.4 Im Übrigen zeugte das zögerliche, unentschlossene und oft reaktive Verhalten der Bundesregierung in der weiteren Afghanistan-Politik nicht davon, dass hier nationale Interessen auf dem Spiel standen oder ein strategisches Konzept zur Ausführung kam.
Im Libanon-Einsatz der Bundesmarine fiel schließlich ein drittes »Nie wieder« der Außen- und Sicherheitspolitik. Bis in den Sommer 2006 war es kaum denkbar, dass deutsche Soldaten sich in militärischer Mission im israelischen Umfeld aufhalten könnten. Dieses Dogma wurde angesichts der schweren Kämpfe zwischen der Hisbollah, die vom Libanon aus operierte, und Israel aufgegeben, und deutsche Marineverbände beteiligen sich seitdem an der UN Interim Force in Lebanon (UNIFIL). Nun galt dem Nahen Osten schon seit langem die gesteigerte Aufmerksamkeit der deutschen Außenpolitik, aber die Erweiterung des politischen Instrumentariums durch den Einsatz militärischer Mittel kam unvorbereitet und ließ sich eher aus der aktuellen Konfliktlage erklären als aus einem langfristigen Kalkül.
Wie gesagt, das alles könnte man als Anlaufschwierigkeiten einer Außen- und Sicherheitspolitik interpretieren, die aus den festen Leitplanken der bipolaren Welt, der nationalen Teilung und der »Kultur der Zurückhaltung« ins Offene der neuen weltpolitischen Konflikte und Risiken tritt. Das mag für diesen oder jenen Einzelfall auch zutreffen, und die Einsatzentscheidungen als solche sind durch diese Einwände durchaus nicht der Sinnlosigkeit preisgegeben. Doch ein weiterer Umstand führt zu der Annahme, dass die Ursachen für die anhaltenden Schwierigkeiten der deutschen Politik, zutreffende Prognosen ihres eigenen sicherheitspolitischen Handelns zu formulieren und langfristige Handlungsketten zu entwickeln und nachvollziehbar darzustellen, tiefer liegen. Und auch die seit einiger Zeit geführte Diskussion über die notwendigen Korrekturen weist die Zeichen jener Kurzschlüssigkeit auf, die sie beseitigen will.
Interessen als Kompass? – Einsatzkriterien als Entscheidungsersatz?
Das Dilemma beginnt bzw. setzt sich fort mit der florierenden Debatte über die deutschen Interessen. Mit dieser Diskussion wird die Annahme verbunden, dass eine möglichst präzise Bestimmung der Interessenlage den Ausweg aus den sicherheitspolitischen Suchprozessen der vergangenen 15 Jahre biete. Daraus spricht die Erwartung, die Definition von Interessen werde sich in stabile und eindeutige Handlungsdirektiven übersetzen lassen und damit könne jene Verhaltenssicherheit wiederhergestellt werden, die nach 1990 und dann nach 9/11 verlorengegangen war. Nun kann dem Ansinnen, eine solche Klärung herbeiführen zu wollen, natürlich kaum widersprochen werden – und ein Gutteil der Kritik an der Sicherheitspolitik richtet sich zu Recht auf ihre inkonsistenten konzeptionellen Grundlagen. Doch als Schlüsselkategorie taugt der Interessenbegriff nicht, sofern man das Politische in der Welt des Handelns ansiedelt und Regierungskunst danach bemisst, ob und wie sie es versteht, die gemeinsame Welt zu erhalten und zu gestalten. Interessen fallen dabei unter die vorab zu klärenden Voraussetzungen; sie stiften Ausgangs- und Anhaltspunkte, womöglich bieten sie Orientierungsmaßstäbe, und in der geronnenen Form der Staatsräson beschreiben sie relativ stabile Eckdaten der Politik. Doch schon in diesem letzten Punkt, der Staatsräson, ist es ein Irrtum, sie aus Interessenlagen allein deduzieren zu wollen, denn die »Ethik der Selbsterhaltung des Staates« (Herfried Münkler) hat neben den Interessen ebenso die einzusetzenden Mittel und Ressourcen wie die eingegangenen Verpflichtungen und Bindungen zu bedenken.5 Die exklusive Fixierung auf die Interessenformel signalisiert dagegen ein fortwährendes Ausweichen vor dem sicherheitspolitischen Diskurs und Entscheidungsprozess. Denn dem – wie plausibel auch immer behaupteten – Interesse wohnt eine prinzipielle handlungspraktische Uneindeutigkeit inne, die von Fall zu Fall überschritten werden muss. Letztlich ist die Berufung auf Interessen also nichts anderes als ein diskursives Element bei der Erzeugung von Plausibilität und Legitimation.6
An diesen Interessendiskurs hat sich eine weitere Diskussion angeschlossen: Der unübersichtliche Verlauf der verschiedenen Auslandseinsätze hat dazu geführt, nach weitergehenden Bestimmungen zu suchen, die das sicherheitspolitische Handeln lenken und legitimieren können. Nun hofft man darauf, mittels trennscharfer Kriterienkataloge über künftige Einsätze (oder deren Beendigung) entscheiden zu können. Wie die Klärung der Interessenlage ist auch dieses Anliegen sinnvoll und praktisch nützlich, gestatten solche Kriterien doch, die Meinungsbildung und den Entscheidungsprozess zu operationalisieren. Doch je weiter ins Grundsätzliche die aufgelisteten Parameter gehen, desto mehr erweist...