Einleitung: Unheimliche Nachbarschaften
«Da sitzen sie in der Festsitzung der Deutschen Akademie, zu der Goebbels geladen hat. Die großen Dirigenten, die ordentlichen Professoren für Philosophie oder Physik, Ehrensenatoren noch aus den alten anständigen Zeiten, Pour-le-mérite-Träger der Friedensklasse, Reichsgerichtspräsidenten, kaiserliche Exzellenzen, Verleger, ‹erwünschte› Romanschreiber, Goethe-Forscher, Denkmalspfleger, Staatsschauspieler, Generalintendanten, der ehrbare Kaufmann, und alle ausnahmslos lassen das antisemitische Geschwätz des Ministers ruhig über sich ergehen.»
1943 rückt Gottfried Benn dieses Tableau deutscher Elite in den Blick. Als er den Bannfluch über die vor Goebbels versammelte Gesellschaft in seiner Schrift «Zum Thema: Geschichte» niederschreibt, ist er als Militärarzt in Landsberg an der Warthe stationiert. Nach der Niederlage in Stalingrad fällt er scharfe moralische Urteile, die er gemäß der nietzscheanischen Parole «Das Denken muss kalt sein, sonst wird es familiär» bisher stets vermieden hat:
«Sie alle ausnahmslos sehen die Lastwagen, auf die jüdische Kinder, vor aller Augen aus den Häusern geholt, geworfen werden, um für immer zu verschwinden: dieses Ministers Werk –: sie alle rühren die Arme und klatschen (…).»
Ursprünglich sollte Benns Essay in den 1949 erschienenen Band «Ausdruckswelt» aufgenommen werden, wie einem Hinweis in der von Dieter Wellershoff herausgegebenen Gesamtausgabe zu entnehmen ist. «Doch wurden damals manche Bedenken wach; die Wunden schienen noch zu frisch. ‹Ich schleife Hektor nicht›, hat Benn damals, sich den Bedenken beugend, gesagt. So fand er sich bereit, die Arbeit noch unveröffentlicht liegenzulassen.» Die Gründe für den Verzicht sind leicht nachzuvollziehen. Zu viele der Personen, auf die erkennbar angespielt wird, behaupteten weiterhin ihre Stellung.
Sie alle ausnahmslos, schreibt Benn, hätten ihre Empathie ausgeschaltet – die Grundlagenforscher der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, Max Planck vermutlich unter ihnen, wie auch die Mitglieder des 1933 von Hermann Göring neu gegründeten Preußischen Staatsrats: der Generalintendant der Preußischen Staatstheater Gustaf Gründgens, der kunstaffine preußische Finanzminister Johannes Popitz und Wilhelm Furtwängler, der die Berliner Philharmoniker mit seiner «Magie» bezaubert. Der Chirurg Sauerbruch fehlt auf Benns Tableau, er muss womöglich in der Charité operieren; der Staatsrechtler Professor Carl Schmitt fehlt ebenso, was nicht verwundert, denn Benn besucht während des Kriegs zuweilen Schmitts Vorlesung an der Berliner Universität – will er ihn schonen?
Die Schärfe der Beobachtung verdankt sich dem Umstand, dass Benn dem Schicksal der hier Versammelten nur um ein Haar entronnen ist. Er ist ein gebranntes Kind, hat wie andere Avantgardisten dem Kult des Bösen gehuldigt. 1933 hatte er den «nationalen Aufbruch» begrüßt, von Hitlers Machtübernahme eine «anthropologische Wende» erhofft, die aus dem Deutschen einen spartanischen Typ machen werde. Am Tag nach dem Reichstagsbrand hatte er einem Freund geschrieben: «Hier herrscht Angst und Schrecken in der Literatur (…), die Autoren sitzen in Prag und im Ottakringer Bezirk und erwarten das Vorbeigehen dieser Episode. Was für Kinder! Was für Taube. Die Revolution ist da und die Geschichte spricht. Wer das nicht sieht, ist schwachsinnig.» Im Rundfunk durfte Benn unter dem Titel «Der neue Staat und die Intellektuellen» die Emigranten verhöhnen. Schon im Juli 1933 aber wurden ihm die Mikrophone des staatlichen Rundfunks weggenommen, im darauffolgenden Winter strich man ihn von der Liste der Ärzte, die besondere Atteste ausstellen durften. Die farbigen NS-Halluzinationen seiner Essays von «Züchtung» bis zur «Dorischen Welt», die ihn von den tatsächlichen politischen Ereignissen fernhielten, wurden bald vom grauen Alltag absorbiert. Er hatte sich als nützlicher Idiot des Umsturzes erwiesen. Nun war er dem NS-Staat ausgeliefert.
Benn reagiert zunehmend mit Berührungsekel. Ende 1934 ist für ihn die Rückkehr in die «kalte Formenwelt» des Militärs ein letzter Ausweg. Als die Angriffe der SS beginnen, bewirbt er sich als Sanitätsoffizier in der Reichswehr. Seinen Rückzug begreift er als «aristokratische Form» der Emigration – die Uniform vermindert die Berührungsangst in Kollektiven, der Titel des Oberstabsarztes verspricht ein wenig Isolation. Losgerissen von den Resonanzräumen, die der Rundfunk für ihn geschaffen hat, getrennt von den literarischen Zirkeln und jüdischen Freundinnen und Freunden, entwickelt der Oberstabsarzt Benn im Austausch mit Geliebten seine ätzende Kritik an der Kultur des Dritten Reichs. Am 4. April 1937 schreibt er an eine Freundin: «Ich betrachte ausnahmslos u. alles, was ich irgendwo aus deutschen Gehirnen gedruckt sehe, von vornherein für allerletzten Dreck. Was heute Lizenz der Schriftleiter u. Lektoren passiert, muß Dreck sein (…). Heute hat überhaupt nur Zweck, mit ganz gefährlichen, rücksichtslosen, brutalen Mitteln vorzugehen, wenn man sich geistigen Fragen nähert. Was nicht direkt ins KZ Lager führt, ist albern.» Lebensgefährliche Sätze.
In das Klima der Akklamation haben sich die Staatsräte unter den Festgästen, die Benn 1943 geißelt, integriert. Jetzt rächt sich der Dichter mit seiner Schmähung.
Als der Preußische Staatsrat im September 1933 unter dem Vorsitz Hermann Görings neu gegründet wurde, waren von den vier Staatsräten, auf die sich dieses Buch konzentrieren wird, nur der Dirigent Wilhelm Furtwängler und der Staatsrechtler Carl Schmitt anwesend. Warum man die beiden für das Ehrenamt auserwählt hatte, ist leicht ersichtlich.
Anlässlich der Eröffnung des Reichstags am 21. März 1933 dirigierte Wilhelm Furtwängler zum festlichen Ausklang des Tages in der Preußischen Staatsoper die «Meistersinger von Nürnberg». Adolf Hitler war so begeistert, dass er Furtwängler schon nach dem ersten Akt in seine Loge bat, wo er ihm für dieses musikalische Fest der nationalen Wiedergeburt dankte. Göring konnte bei der Ernennung des damals schon weltberühmten Dirigenten zum Staatsrat also mit der Zustimmung des Führers rechnen. Als SA-Leute im Februar gegen den «kulturbolschewistischen Tannhäuser» des Dirigenten Otto Klemperer vorgegangen waren und Furtwängler daraufhin energisch gegen die Vertreibung jüdischer Musiker protestierte, hatte man ihn gewähren lassen. In seinem Konzept zur «Judenfrage im Musikleben» schrieb er 1933: «Den Hebel da ansetzen, wo er angesetzt werden muß – in der Meinungsmache der j(üdischen) Presse. (…) Außerdem gehören alle tendenziösen Judenschreiberlinge entfernt, soweit es geht. Aus aller Verwaltung gehören sie heraus, in freien Berufen, soweit ungewöhnliches Können vorliegt, müssen sie geschützt werden. Konzertleben ohne sie ist jedenfalls nicht möglich, ohne Operation, die mit dem Tode des Patienten endigen würde.» Furtwängler war, wie sein Biograph Eberhard Straub bemerkt, «so weltklug, sich an die klassische Regel Machiavellis zu halten, sich nie den möglichst freien Zugang zum Machthaber zu versperren».
Auch Carl Schmitt erfreute sich einer großen Reputation, zu der ihm paradoxerweise auch einige seiner jüdischen Schüler verhalfen, die nach 1933 ins Exil gezwungen wurden. Einer von ihnen, Waldemar Gurian, heftete ihm den Titel «Kronjurist des Dritten Reiches» an. 1932 hatte Schmitt vor dem Staatsgerichtshof in Leipzig im Prozess um den sogenannten «Preußenschlag» Aufsehen erregt. Im Zuge einer Notverordnung war die sozialdemokratisch geführte Regierung des Freistaats Preußen durch einen Reichskommissar ersetzt worden. Schmitt vertrat das Reich gegen die Regierung Preußens und begründete erfolgreich die Verfassungsmäßigkeit des Staatsstreichs. Unter Juristen wurde die Entscheidung kontrovers diskutiert; Schmitts Plädoyer aber galt als Kabinettstück der Jurisprudenz. Ein Jahrzehnt lang hatte sich Schmitt für die Diktaturgewalt des Reichspräsidenten eingesetzt, nun war er im wichtigsten Prozess der Weimarer Republik als dessen Anwalt aufgetreten. Damit hatte er den Höhepunkt seiner öffentlichen Wirksamkeit erreicht. Er begriff seine juristische Intervention als ersten Schritt gegen die Weimarer «Fehlkonstruktionen» und eröffnete eine Serie von Publikationen, die die «Weiterentwicklung des totalen Staats in Deutschland» fördern sollten.
Die spätere Verleihung des Staatsratstitels an den Chirurgen Ferdinand Sauerbruch und den Schauspieler Gustaf Gründgens war, an den Normen des NS-Staats gemessen, weniger erwartbar.
Sauerbruch wurde 1934 zum Preußischen Staatsrat ernannt. Er war der letzte Leibarzt Paul von Hindenburgs, der im selben Jahr verstarb. Als Wegbereiter der modernen plastischen Chirurgie und der Thoraxchirurgie war er weltberühmt. Für Hitler war er kein Unbekannter; Sauerbruch hatte seinerseits den Starredner der Rechtsradikalen bereits 1920 in München kennengelernt. Der Chirurg hatte das tödliche Attentat auf Kurt Eisner, den Führer der bayerischen Räterepublik, begrüßt und die Verletzten des Hitler-Putsches von 1923 in seiner Klinik behandelt. Bei Machtantritt der Nationalsozialisten war er achtundfünfzig Jahre alt.
Um 1930 hatten Sauerbruch und seine Frau Ada eine Villa in der Koblanckstraße am Wannsee erworben. Auf dem Grundstück befand sich ein...