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E-Book

Rudi Dutschke. Die Biographie

AutorUlrich Chaussy
VerlagVerlagsgruppe Droemer Knaur
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl528 Seiten
ISBN9783426451410
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis23,99 EUR
'Achtundsechzig' ist in der Bundesrepublik mit dem Namen Rudi Dutschke verbunden. Er war Gesicht und Stimme der deutschen Studentenbewegung, repräsentierte Aufbruch und Generationenkonflikt wie kein zweiter. Ulrich Chaussy kennt Dutschke wie kaum ein anderer. Seine Biographie zeichnet das spannende Bild eines mitreißenden Menschen, dem nur wenige Jahre öffentlichen Wirkens gegönnt waren, bis ein Rechtsradikaler ihn bei einem Attentat schwerst verletzte. Niemand anders hat der 68er-Bewegung so sehr seinen Stempel aufgedrückt wie Rudi Dutschke (1940-1979). Mit ihm ist die Revolte der Studenten mehr als nur verbunden - seine individuelle Biografie ist mit dem Verlauf einer kollektiven Bewegung eins geworden, insbesondere durch das Attentat vom Gründonnerstag 1968, das er nur um Haaresbreite überlebte und an dessen Spätfolgen er schließlich starb. Ulrich Chaussy kennt Rudi Dutschke wie kein zweiter Biograph. Er hat mit allen wichtigen Zeitzeugen gesprochen, hat alle relevanten Archive ausgewertet, als Ergebnis seiner jahrzehntelangen Beschäftigung mit Dutschke und 68 legt er diese komplett neu bearbeitete und erweiterte Biographie vor.

Ulrich Chaussy, Jahrgang 1952, studierte Germanistik und Soziologie und war als Autor und Moderator vor allem für den Bayerischen Rundfunk tätig. Seine Bücher über die Widerstandsgruppe 'Die weiße Rose' und über das Oktoberfestattentat erschienen in mehreren Auflagen. Letzteres wurde unter dem Titel 'Der blinde Fleck' 2013 für das Kino verfilmt und trug zur Wiederaufnahme der Ermittlungen durch den Generalbundesanwalt bei. Sein Werk als investigativer Journalist und Buchautor wurde mit deutschen und internationalen Preisen ausgezeichnet.

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Leseprobe

11. April 1968


Am Morgen des 11. April 1968 um 9.10 Uhr fährt der Transitzug aus München im West-Berliner Bahnhof Zoo ein. Die Reisenden sind übernächtigt von der sich endlos ziehenden Fahrt durch die DDR. Während der kurzen Halte auf gleißend ausgeleuchteten Bahnsteigen hatten wie immer nur die Grenzbeamten ein- oder aussteigen dürfen. Unter den Passagieren, die am Bahnhof Zoo den Zug verlassen, ist ein schmächtiger, junger Mann. Er ist am Vorabend um 21.52 Uhr in München losgefahren. Sein glattes Gesicht ist bartlos und blass, seine kurzen Haare sind sorgfältig gescheitelt. Die Frisur und sein scheuer Blick lassen Josef Bachmann jünger erscheinen als 24. Dagegen könnte ein geschulter Beobachter an der Wölbung der hellbraunen Wildlederjacke unterhalb der linken Schulter erkennen, dass Bachmann eine Pistole im Schulterhalfter bei sich hat.

Aber das haben zu seiner Erleichterung nicht einmal die Volkspolizisten bemerkt, die wie immer zur Passkontrolle in das abgedunkelte Abteil traten und routinemäßig nach Funkgeräten und Waffen fragten. Sie haben auch nicht in die blaugrüne Einkaufstasche geschaut, in der Bachmann eine weitere Pistole, Marke Röhm RG 5, Kaliber sechs Millimeter, die Gaspatronen und die etwa einhundert Schuss scharfe Patronen in Wäsche eingewickelt versteckt hatte.[1] Einer der Grenzbeamten hat nur wie üblich den vor seinem Bauch hängenden Koffer mit Visaformularen, Stempeln und Fahndungsliste aufgeklappt, den ihm hingestreckten Pass durchgeblättert, im schnellen Wechsel das Bild im Pass und den zu ihm aufschauenden Bachmann fixiert, den Visumstempel auf eine freie Seite gedrückt, hat schließlich den Pass zurückgegeben, seinen Koffer zugeklappt und ist aus dem Abteil verschwunden.

Bachmann kann danach seine braune Reisetasche aus dem Gepäcknetz fischen und die Zeitungen entnehmen, die er vor der Abfahrt in München gekauft hat, einen Spiegel und die Bild-Zeitung. Danach sucht er aus einem Briefumschlag mit Zeitungsausschnitten einen Artikel hervor, den er vor einigen Tagen aus der rechtsextremen DNZ, der Deutschen National- und Soldatenzeitung ausgeschnitten hat. Meist gelten deren hoch empörte Schlagzeilen den »Verzichtspolitikern«, allen voran dem SPD-Vorsitzenden Willy Brandt, die nach Auffassung des DNZ-Verlegers Gerhard Frey den »Ausverkauf Deutschlands« betrieben. Diesmal zielen die Schlagzeilen aber auf einen anderen:

© Deutsche National- und Soldatenzeitung vom 22. März 1968, Titelseite (Ausriss)

Unter der Überschrift sind fünf Fotos eines jungen Mannes zu sehen, Rudi Dutschke: Profil von links, von vorn, noch einmal links, redend mit offenem Mund, halbrechts von vorn, Profil von rechts. Bilder wie aus einer Fahndungskartei der Polizei.

Bachmann liest noch einmal, was da steht: »Die Forderung des Tages heißt: Stoppt die linksradikale Revolution jetzt! Deutschland wird sonst das Mekka der Unzufriedenen aus aller Welt. Was einst Petersburg und Paris waren, die Wiege von Weltrevolutionen, kann heute schon Berlin werden. Mit Verharmlosen ist niemandem mehr geholfen, seitdem die Dutschkisten sich nicht scheuen, offen die Revolution zu predigen.«[2]

Dann die Fotos. Bachmann studiert sie genau. Er ist Dutschke noch nie begegnet und muss ihn sicher erkennen, wenn er ihm zum ersten Mal gegenübertritt.

Er löscht das Licht, versucht zu schlafen, döst, bis der Zug im Bahnhof Zoo ankommt, der Endstation, Bachmanns Ziel. Ein wenig kennt er sich hier aus. Bachmann ist am 11. April 1968 nicht zum ersten Mal in Berlin. Vom Bahnhof aus geht er in die Kantstraße. Dort, in einem An- und Verkaufsgeschäft, versetzt er ein Kofferradio. Er bekommt dafür 32 Mark. Jetzt kann er frühstücken, nur ein paar Schrippen und Wurst, auf einer Bank beim Bahnhof Zoo. Es ist etwa elf Uhr, als er zum Taxistand schlendert und sich bei einigen Fahrern nach der Adresse von Rudi Dutschke erkundigt. Zur Antwort erhält er mal Achselzucken, mal die spöttische Auskunft, er solle doch bei Ulbricht in der Zone nachfragen. Ein weiterer scheint Bescheid zu wissen: »Der Dutschke ist doch so einer von der Kommune. Da müssen Sie in die Kaiser-Friedrich-Straße. Da sind die irgendwo.«

Bachmann macht sich auf den Weg. In der Kaiser-Friedrich-Straße trifft er einen Postboten. Von ihm erfährt er die Hausnummer und klingelt im Haus 54a. Es dauert, bis ein Mann mit Wuschelkopf die Tür einen Spalt öffnet. Auch ihn erkennt Bachmann, es ist Rainer Langhans. Von dem sind zu dieser Zeit auch alle paar Tage Bilder in der Zeitung. Aber Langhans interessiert Bachmann nicht. Er sucht Dutschke und fragt nach ihm. Nein, Rudi wohne hier nicht, und er wisse auch nicht, wo, sagt Langhans und fügt noch hinzu, er solle doch mal beim SDS am Kurfürstendamm 140 fragen. Dann schließt er die Tür wieder.

Bachmann sucht sich eine Telefonzelle, ruft an beim SDS, dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund, Landesverband Berlin, Kurfürstendamm 140. Aber am Telefon erhält er über Dutschke keine Auskunft. Mit dem Einwohnermeldeamt ergeht es Bachmann genauso. Auskunftersuchen grundsätzlich nur persönlich, gegen Bearbeitungsgebühr. Er könne vorbeikommen.

Ungefähr um 15:00 Uhr ist Bachmann dort. Student sei er, er komme aus Westdeutschland und wolle Rudi Dutschke besuchen, nur so, in einer Privatsache. Die Angestellte reicht ihm ein Antragsformular, kassiert eine Mark Bearbeitungsgebühr, verschwindet zwischen den Karteischränken und kommt mit einem Zettel zurück. Darauf steht: Rudolf Dutschke, Student, 1000 Berlin 31, Kurfürstendamm 140, bei Mahler.

Was Bachmann weiter unternimmt, hält später der Staatsanwalt in der Anklageschrift fest:

»Mit dem Autobus fuhr er zum Bahnhof Zoo, aß hier einen Teller Linsensuppe und zwei Buletten und ging dann zu Fuß zum Grundstück Kurfürstendamm 140. Er ging dann in das Haus hinein, suchte jedoch nicht das Büro des SDS auf, sondern verließ das Haus wieder. Vor dem Eingang fragte er ein zufällig vorbeikommendes ›Falken‹-Mitglied nach Dutschkes Anschrift. Er überlegte nun, ob er sein Vorhaben vorläufig aufgeben, nach München zurückfahren und dort Dutschke treffen sollte. Er wusste, dass Dutschke einige Tage später in München erwartet wurde.

Als er gegen 16.35 Uhr den Kurfürstendamm überquerte und auf dem Mittelstreifen stand, blickte er sich noch einmal um. Dabei sah er, dass Rudi Dutschke mit einem Fahrrad aus dem Hause Kurfürstendamm 140 trat.

Der Angeschuldigte ging zurück und auf Dutschke zu.

Auf der Fahrbahn des Kurfürstendamms stieß er aus Unachtsamkeit gegen einen fahrenden PKW, dessen Außenspiegel zerbrach. Der Fahrer hielt an und forderte vom Angeschuldigten Schadenersatz. Dutschke hatte inzwischen am Fahrbahnrand das Grundstück Kurfürstendamm 142 erreicht.

Der Angeschuldigte ging zu ihm hin.«[3]

Rudi Dutschke erinnerte sich Jahre später so:

»Ohne etwas zu ahnen, sah ich, wie er immer näher kam. Dann stand er nur noch sechs bis sieben Meter vor mir auf dem Mittelweg der Straße. Nachdem die letzte Autowelle an ihm und mir vorübergefahren war, ging Bachmann nun über die Straße, dicht an mir und meinem Fahrrad vorbei auf den Gehweg. Kaum hatte er diesen erreicht, wandte er sich direkt an mich und fragte, vielleicht zwei Meter entfernt: ›Sind Sie Rudi Dutschke?‹

Ich zögerte nicht und sagte ›Ja‹.«[4]

Was in den folgenden Momenten geschieht, erfragt ein knappes Jahr später Landgerichtsdirektor Heinz Brandt. Er hat den Angeklagten Bachmann im Schwurgerichtssaal zur Vernehmung in den Zeugenstand vor seinen Richtertisch gerufen:

»Und Sie haben ihn gefragt?

Ob er Dutschke ist, und er sagte Ja.

Sie kannten ihn?

Man kennt ihn von Bildern.

Und dann?

Dann sagte ich, du dreckiges Kommunistenschwein. Dutschke kam auf mich zu, und ich zog den Revolver und schoss den ersten Schuss.

Warum?

Warum? Ich dachte, ich weiß auch nicht, mein überhitztes …

Sie standen vor ihm, aus welcher Entfernung schossen Sie?

Eineinhalb Meter.

Und warum schossen Sie?

Ich war so im Hass, ich hatte so eine Wut.«[5]

Josef Bachmann schießt dreimal. Der erste Schuss geht in die rechte Wange. Halb springt, halb stürzt Dutschke von seinem Rad herunter auf die Fahrbahn, taumelt, reißt sich blitzartig die Schuhe von den Füßen und seine Armbanduhr vom Handgelenk. Dann sinkt er zu Boden.

Bachmann beugt sich nach vorne und legt noch einmal auf den Mann an, der etwa einen Meter vor ihm auf dem Boden liegt. Er zielt auf Dutschkes Kopf, drückt zweimal ab, trifft ihn in die Schulter und in den Kopf.

Bachmann springt auf und rennt los, den Kurfürstendamm entlang Richtung Bahnhof Zoo, biegt nach einigen Hundert Metern rechts in die Nestorstraße ab und versteckt sich dort im Keller eines Rohbaus. Dort unten würgt er hastig eine Handvoll Schlaftabletten hinunter.

Dutschke hat trotz der drei Kugeln nicht das Bewusstsein verloren. Er richtet sich auf, torkelt mit blutverschmiertem Gesicht in Richtung SDS-Zentrum. Nach einigen Schritten bricht er jedoch blutüberstömt zusammen. Passanten betten ihn auf einer Sitzbank vor dem SDS-Zentrum.

Es ist 16.39 Uhr.

Sofort schickt der Sender Freies Berlin einen Übertragungswagen zum Ku’damm. Über sämtliche Sender der Bundesrepublik ist wenig später der Bericht von Rudolf Wagner zu hören. Die Stimme des Reporterprofis...

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