Prolog: Verabredung mit ISIS
Türkei, 2014
Ich sollte allein kommen. Ohne Ausweispapiere oder sonstige Dokumente; Handy, Aufnahmegerät, Uhr und Handtasche sollte ich in meinem Hotel in Antakya lassen. Erlaubt waren lediglich ein Notizbuch und ein Kugelschreiber.
Im Gegenzug verlangte ich, mit jemandem zu sprechen, der etwas zu sagen hatte und mich über die Langzeitstrategie des Islamischen Staats im Irak und in Syrien, kurz ISIS, aufklären konnte. Es war im Sommer 2014, drei Wochen, bevor die Gruppe weltweit bekannt wurde durch die Veröffentlichung eines Videos, das die Enthauptung des amerikanischen Journalisten James Foley zeigte. Doch bereits zu diesem Zeitpunkt vermutete ich, dass der IS eine zentrale Rolle im weltweiten Dschihad spielen würde. Ich hatte für die New York Times, diverse große deutsche Zeitungen und die Washington Post über militante Islamisten in Europa und dem Nahen Osten berichtet und mitverfolgt, wie sich die Gruppe nach den Anschlägen vom 11. September, zwei von den USA geführten Kriegen und dem sogenannten Arabischen Frühling formiert hatte. Im Lauf der Jahre hatte ich mit verschiedensten künftigen IS-Mitgliedern gesprochen.
Ich sagte meinen Kontakten, dass ich mir keine Fragen verbieten lassen und ihnen den fertigen Artikel auch nicht zur Freigabe vorlegen würde. Außerdem wollte ich eine Garantie, dass man mich nicht entführen würde. Und da mir eingeschärft worden war, niemanden von der Washington Post mitzubringen, bat ich, meinen Vertrauensmann mitnehmen zu dürfen – den Kontakt, der das Interview arrangiert hatte.
«Ich bin nicht verheiratet», sagte ich den IS-Anführern. «Ich kann nicht mit euch allein sein.»
Als muslimische, in Deutschland geborene und aufgewachsene Frau marokkanisch-türkischer Abstammung bin ich ein Sonderfall unter den Journalisten, die sich mit dem globalen Dschihad beschäftigen. Seit ich als Studentin meine ersten Artikel über die Selbstmordattentäter des 11. September schrieb, hat meine Herkunft es mir ermöglicht, mit Chefstrategen des Dschihad in Verbindung zu treten – wie eben dem Mann, den ich an jenem Julitag in der Türkei treffen sollte.
Mir war bekannt, dass der IS Journalisten als Geiseln nahm. Nicht bekannt war mir, dass der Kommandeur, der mich erwartete, für die Geiselnahmen zuständig war, zudem Vorgesetzter des Killers mit dem britischen Akzent, der immer wieder in den Enthauptungsvideos des IS auftauchte und als «Jihadi John» weltweit berüchtigt werden sollte. Später erfuhr ich, dass besagter Kommandeur – Abu Yusaf – maßgeblich bei den Folterungen der Geiseln mitwirkte, einschließlich Waterboarding.
Ein Treffen am Tag an einem öffentlichen Ort war mir verwehrt worden. Stattdessen sollte es nun nachts stattfinden, unter vier Augen. Ein paar Stunden vorher verschoben meine Kontakte den Zeitpunkt abermals, auf 23:30 Uhr. Keine sonderlich beruhigende Entwicklung. Ein Jahr zuvor hatten mich Beamte des Staatsschutzes in meiner Wohnung aufgesucht: Offenbar planten radikale Islamisten, mich mit der Zusage eines Exklusiv-Interviews in den Nahen Osten zu locken, dort zu entführen und anschließend mit einem Kämpfer zu verheiraten. Während ich mich an diese Warnung erinnerte, fragte ich mich, ob ich verrückt geworden war. Doch trotz meiner Angst knickte ich nicht ein. Wenn alles glatt lief, würde ich die erste westliche Journalistin sein, die einen hochrangigen IS-Kommandeur interviewte und mit heiler Haut davonkam.
Es war ein heißer Tag gegen Ende des Ramadans; ich saß in Jeans und T-Shirt in meinem Hotel und bereitete meine Fragen vor. Bevor ich aufbrach, zog ich eine schwarze Abaya an, ein traditionelles islamisches Überkleid, das außer Gesicht, Händen und Füßen den gesamten Körper bedeckt. Einer von Abu Musab al-Zarqawis Gefolgsleuten hatte es ein paar Jahre zuvor für mich ausgesucht, als ich die Heimatstadt des mittlerweile verstorbenen al-Qaida-Anführers besucht hatte. Al-Zarqawis Gefolgsmann hatte sogar noch betont, die mit rosa Stickereien versehene Abaya sei ein besonders schönes Exemplar und der Stoff so fein, dass man sie auch bei heißem Wetter problemlos tragen könne. Seither ist sie für mich zu einer Art Glücksbringer geworden. Ich trage sie immer bei heiklen Missionen.
Das Treffen mit Abu Yusaf sollte an der türkisch-syrischen Grenze stattfinden, unweit des Grenzübergangs bei Reyhanli. Ich kannte die Gegend gut: Meine Mutter war in der Nähe aufgewachsen und ich als Kind oft dort gewesen.
Ich verabschiedete mich von meinem Reporterkollegen Anthony Faiola, hinterließ ihm ein paar Telefonnummern, unter denen er meine Familie erreichen konnte, falls etwas schiefging. Um 22:15 Uhr holte mich der Mann, der den Kontakt hergestellt hatte, vom Hotel ab; ich werde ihn hier Akram nennen. Nach etwa fünfundvierzig Minuten Fahrt bogen wir auf den Parkplatz eines Hotelrestaurants nahe der Grenze ab und warteten. Kurz darauf tauchten zwei Autos aus der Dunkelheit auf. Der Fahrer des ersten Wagens, eines weißen Honda, stieg aus. Akram setzte sich hinters Steuer, und ich nahm auf dem Beifahrersitz Platz.
Ich wandte mich zu meinem Interviewpartner, der auf der Rückbank saß. Ich schätzte Abu Yusaf auf etwa siebenundzwanzig, achtundzwanzig; er trug eine weiße Baseballkappe und eine dunkle Brille, die seine Augen verbarg. Er war groß und gut gebaut, hatte einen kurzen Bart und schulterlange Locken. Mit seinem Polohemd und der khakifarbenen Cargo-Hose wäre er auf europäischen Straßen nicht weiter aufgefallen.
Neben ihm lagen drei Nokia- oder Samsung-Handys, alles ältere Modelle. Er erklärte, aus Sicherheitsgründen würde kein Kämpfer in seiner Position ein iPhone benutzen; sie ließen sich zu leicht orten. Er trug eine Digitaluhr, wie ich sie häufig an den Handgelenken amerikanischer Soldaten im Irak und in Afghanistan gesehen hatte. Seine rechte Hosentasche war ausgebeult; offensichtlich war er bewaffnet. Ich fragte mich, was passieren würde, wenn uns die türkische Polizei anhielt.
Akram startete den Motor, und wir fuhren durch das nächtliche Grenzgebiet, kamen durch ein paar kleine Dörfer. Das Geräusch des Fahrtwinds drang an meine Ohren. Ich versuchte mir zu merken, wo wir langfuhren, doch mein Gespräch mit Abu Yusaf lenkte mich immer wieder ab.
Er sprach ruhig und leise, versuchte zu verbergen, dass er marokkanischer Herkunft war; zudem wollte er offenbar keinen Anhaltspunkt liefern, wo genau in Europa er gelebt hatte. Doch seine Gesichtszüge waren unverkennbar nordafrikanisch, und als ich vom klassischen Arabisch ins marokkanische Arabisch wechselte, verstand er auf Anhieb und beendete sein Versteckspiel. Es stellte sich heraus, dass er zwar in Marokko geboren, aber als Teenager nach Holland gekommen war. «Wenn Sie wissen wollen, ob ich auch Französisch spreche, brauchen Sie’s nur zu sagen.» Er lächelte. Holländisch sprach er auch. Später fand ich heraus, dass er ein Ingenieurstudium absolviert hatte.
Während der Fahrt schilderte er mir seine Vision: Der IS würde die Muslime von Palästina bis Marokko und Spanien befreien und den Islam schließlich über die ganze Welt verbreiten. Jeder, der Widerstand leistete, würde dafür mit dem Leben bezahlen. «Wenn die Vereinigten Staaten Blumen regnen lassen, werden wir ebenfalls Blumen regnen lassen», sagte Abu Yusaf. «Aber wenn sie Feuer regnen lassen, zahlen wir es ihnen ebenso mit gleicher Münze heim, auch auf ihrem eigenen Terrain. Und das gilt genauso für jedes andere westliche Land.»[1]
Er erklärte mir, der IS verfüge sowohl über die nötigen finanziellen Mittel als auch das erforderliche Know-how. Tatsächlich hatte sich die Terrorvereinigung bereits still und heimlich etabliert, ehe die Weltöffentlichkeit auf sie aufmerksam geworden war. Zu ihren Mitgliedern gehörten gebildete Leute aus westlichen Ländern, erstklassig ausgebildete Elitesoldaten aus Saddam Husseins Republikanischer Garde und ehemalige al-Qaida-Kämpfer. «Glauben Sie ernstlich, uns würden sich nur Schwachköpfe anschließen?», fragte er. «Von wegen. In unseren Reihen stehen Brüder aus England mit Uni-Abschlüssen, Brüder mit pakistanischen, somalischen, jemenitischen, ja sogar kuwaitischen Wurzeln.» Später begriff ich, dass er von den Wachen sprach, die mehrere IS-Geiseln als die «Beatles» bezeichnet hatten: Jihadi John und drei andere mit englischem Akzent.
Ich fragte, was ihn dazu bewogen hatte, sich der Organisation anzuschließen. Abu Yusaf erwiderte, er hätte die Nase voll gehabt von der Heuchelei westlicher Politiker, die immer von Menschenrechten und...