Dieses Kapitel wird sich zunächst den allgemeinen theoretischen Grundlagen hinwenden, um danach zum Speziellen vorzudringen. Zuerst soll das Grundprinzip der traditionellen short story ins Auge gefasst werden, da die Grundstruktur der surprise ending short story auf dieser basiert. Daran knüpft sich die eigentliche Betrachtung der Struktur der surprise ending short story mit ihren Teilen Exposition, Spannungsbogen und Pointe. Abschließend werden die verschiedenen Möglichkeiten der Pointierungen, das heißt die Formen des surprise ending, vorgestellt.
Es ist unmöglich, eine Geschichte ohne Struktur zu finden. Eine Geschichte muß immer rational sein, ob die Rationalität realistisch oder phantastisch ist. Und deshalb hat Aristoteles durchaus keinen Gemeinplatz geäußert, als er sagte, daß ein Theaterstück einen Anfang, eine Mitte und ein Ende haben müsse. Maugham hat das mehrfach wiederholt, und jeder, der eine Geschichte erfinden will, muß sich klar darüber sein, daß der Leser nicht an der Nase herumgeführt werden kann, indem er plötzlich vor die vollendete Tatsache eines unvollendeten Buches gestellt wird, unter das der Autor schreibt: Ist fortzusetzen![122]
Heinrich Meyer zeigt in diesem Zitat auf, dass sowohl für den Autor, als auch den Literaturwissenschaftler jeder Text im Allgemeinen "ein komponiertes und einmaliges Sinngebilde"[123] ist, dessen textinterne Bezüge in gewisser Weise angeordnet bzw. strukturiert sind. Obwohl ein Text – im Idealfall – beim Leser den Eindruck der Spontaneität erweckt, das heißt, die mühsame Arbeit des Autors nicht spürbar ist, so ist doch die Konstruktion des Ganzen "penibler Kalkül"[124]. Diese Aussage gilt umso mehr für die surprise ending short story. Denn, damit er den Leser letztlich vor einen Überraschungseffekt stellen kann, muss der Erzähler gezielt – ja sogar berechnend – in der Darstellung der Handlung vorgehen. Wenn ihm dies gelingt, und obendrein die Story nach außen wie aus dem Stegreif geschrieben wirkt, dann kann man das durchaus als ein Zeichen für des Autors Kunstfertigkeit anerkennen.
Die Komposition eines Kurzprosawerkes, dies geht bei Alfred Behrmann hervor, ist ein Zusammenspiel aus Aufbau, Sinn und Eigenarten der Geschichte. Diese gehen eine ganz bestimmte Verbindung ein, welche in jeder short story individuell ist.[125] Der Leser muss gedanklich stets hinterfragen, was diese strukturell bedingten Verbindungen im Text besagen, um somit die einzigartigen Details der short story zu ergründen, denn nur durch die Beurteilung des Einzelnen kann das Gesamtwerk als eine Einheit verstanden werden.[126] Behrmann nennt es ein "gegenseitiges Zusammenstimmen der Teile und des Ganzen"[127]. Die Struktur des Textes ist ein dreiteiliges tragendes Gerüst, dessen Funktion letztlich "das Verdichten und Organisieren der Spannung"[128] ist.
Bezogen auf die surprise ending short story und auch die short story im Allgemeinen, ist es nicht sinnvoll zwischen Komposition und Struktur zu unterscheiden. Die Begriffe lassen sich definitorisch kaum unterscheiden, bedingen einander und beinhalten am Ende doch nur das gleiche Ziel: "unity of impression". Daher verwende ich in dieser Arbeit diese Begriffe ohne Unterscheidung.
Eine wirkungsvolle Struktur des Erzählten in der short story beginnt naturgemäß beim Satzbau. Aus Sätzen bilden sich Passagen und Absätze, die wiederum in ihrer Anordnung eine Handlungsprogression aufzeigen; sie können jedoch auch erzählerische Pausen[129], Rückwendungen oder Wiederholungen enthalten, die dem Handlungsanstieg entgegenwirken.[130] Es wechseln sich daher dynamische und statische Handlung ab.[131] Die vollständige Wirkung des Textes ergibt sich erst im Zusammenspiel dieser einzelnen Passagen, Rückwendungen und Pausen. Obwohl gerade die short story für ihre konsequente Geradlinigkeit im Erzählfluss bekannt ist, würde ein allzu einfacher Handlungsstrang dem Leser als zu anspruchslos erscheinen. Erzählerische Einschnitte werden bei Heinrich Meyer zwar scharfzüngig als "Prügel" für den Leser bezeichnet, gleichwohl fördern sie jedoch den Lesegenuss:
Der gewiegte Erzähler wirft uns ja immer einige solche Prügel vor die Beine; das ist im Grund nur dazu da, daß nicht alles immer weiter im gleichen Gang geht, sondern daß wir dazwischen anders empfinden müssen, um dann erfrischt zur Hauptsache zurückzukommen. Es ist also ein Mittel der Komposition wie die Sätze und Pausen in einem Musikstück.[132]
Der Plot besteht demnach aus einer Geschehensfolge bzw. einer Kette von Ereignissen, die unter einem chronologisch vorgehenden Ordnungsprinzip steht.[133] "Der ganze innere Kettenschluß oder die Schlußkette muß sich in die Blumenkette der Zeit verkleiden"[134], dies erkannte bereits der Dichter der Weimarer Klassik Jean Paul. Die amerikanische Roman- und Kurzgeschichtenautorin Katherine Anne Porter fasste die Bedeutsamkeit einer schlüssigen Ereigniskette schlicht mit den Worten zusammen: "No Plot, My Dear, No Story."[135]
Die traditionelle Plot-gerichtete short story besteht, aus einem Gerüst von drei hauptsächlichen Teilen, die an den herkömmlichen Akt- und Szenenaufbau im Drama und dessen Anspruch auf Einheit der Handlung erinnern. Beginnend mit dem Vorspiel bzw. der Exposition, entfaltet und verdichtet sich die Handlung bis zu einem Moment des change, des Wandels, der durchaus auch als Katastrophe bezeichnet werden kann. Die Handlung schließt in einer Lösung des Konfliktes bzw. Spannungsentladung.[136]
Jene drei Phasen werden durch die bereits erwähnten Einschnitte – seien es inhaltliche Wiederholungen, Rückblenden, Handlungspausen oder Parallelhandlungen – unterbrochen, mit dem Ziel, die Dramatik und Spannung der Handlung zu erhöhen. Dieses Handlungsschema und die scharfen erzählerischen Einschnitte ergeben letztlich die individuelle Struktur jeder short story und geben ihr, wie Lämmert es ausdrückt, eine Kontur.[137] Die der Spannung zugute kommenden Einschnitte, meist sind sie kurz vor dem Wendepunkt bzw. der Klimax der Geschichte eingefügt, sind im Grunde genommen so genannte retardierende Momente – wie wir sie aus dem Bau eines Dramas kennen.
Bei der strukturellen Betrachtung dieses Genres müssen auch die Erzählweisen einbezogen werden, das heißt, es muss untersucht werden, ob das Erzählte etwa im sachlichen Berichtstil oder emotional beeinflusst wiedergegeben wurde, ob die Erzählerstimme das Geschehen aus größerer Perspektive heraus betrachtet oder ob eine Erzählersicht aus allernächster Distanz vorliegt. Diese Aspekte haben durchaus Einfluss auf die Struktur. Mit größerer Distanz zum Erzählten kann der Erzähler z.B. mehr Inhalt, das heißt, mehr Geschehnisse zum Leser transportieren, denn er kann – aus seiner Außensicht – das Geschehen gerafft erzählen. Bei naher Erzählperspektive, das heißt, direkter Beteiligung am Geschehen, wird meist nur ein kleiner Zeitausschnitt wiedergegeben. Diese Variante findet sich zumeist in moderner Literatur.[138]
Die traditionelle short story hat eine Vorliebe für die Verwendung von Ich-Erzähler.[139] Ob diese Erzählsicht auch die surprise ending short story beherrscht wird das folgende Kapitel klären, in dem noch weitere strukturelle Merkmale dieses speziellen Kurzgeschichtentyps zur Sprache kommen.
Poes und Matthews grundlegenden Theorien zur short prose im Allgemeinen wurden bereits im Vorfeld besprochen. So sollte die klassische short story zunächst einen spannenden Handlungsstrang besitzen, außerdem durch ihre Kürze und den Anspruch auf "unity of impression" ein ungebrochenes Leseerlebnis garantieren, und schließlich von vornherein eine geplante Wirkung ("preconceived effect") ins Auge fassen. Diese Merkmale sind, meines Erachtens, besonders in der surprise ending short story verwirklicht: die ungebrochene Lektüre ergibt sich bei diesem short story-Typus einerseits durch den enormen Spannungsaufbau, der dem Leser, psychologisch und emotional, keine Möglichkeit zur Unterbrechung lässt, und andererseits durch den deutlich geringen Umfang der surprise ending short story.[140] Der "preconceived effect" ist gerade bei der surprise ending short story von primärer Bedeutung, letztlich zielt diese doch...