I Die Schädelschale
I 1. Germanen
Eine Schädelschale ist ein Trinkschale, die aus dem oberen Teil eines menschlichen Totenkopfes angefertigt worden ist.
I 1. a) Skaldskaparmal
Die Königin Gudrun tötete aus Rache für den Mord ihres Gatten Atli an ihren beiden Brüdern die beiden Söhne des König Atli und ließ aus ihren Köpfen Schädelschalen anfertigen.
Bald darauf tötete Gudrun ihre beiden Söhne und ließ aus ihren Schädeln mit Gold und Silber Trinkgeschirr machen. Darauf wurde der Niflungen Leichenfeier begangen.
I 1. b) Wieland-Lied
Auch im Wieland-Lied werden aus den Schädeln zweier junger Brüder Schädelschalen hergestellt, was vermuten läßt, daß dieses Motiv ältere mythologische Wurzeln hat.
Liefen zwei Knaben, lauschten an der Türe,
Die Söhne Niduds, nach Säwarstad;
Kamen zur Kiste den Schlüssel erkundend;
Offen war die üble, als sie hineinsahn.
Viel Kleinode sahn sie, den Knaben daucht es
Rotes Gold und glänzend Geschmeid.
„Kommt allein, ihr zwei, kommt andern Tags,
So soll euch das Gold gegeben werden.
Sagt es den Mägden nicht noch dem Gesinde,
Laßt es niemand hören, daß ihr hier gewesen.“
Zeitig riefen die Zweie sich an,
Bruder den Bruder: „Komm die Brustringe schaun!“
Mit den „Brustringen“ sind die vermutlich die um den ganzen Körper reichenden breiten Ringe gemeint, aus denen schon die Römer ihre einfachen Brustpanzer hergestellt haben.
Sie kamen zur Kiste die Schlüssel erkundend;
Offen war die üble, da sie hineinsahn.
Um die Köpfe kürzt er die Knaben beide;
Unterm Fesseltrog barg er die Füße.
Aber die Schädel unter dem Schopfe
Schweift er in Silber, sandte sie Nidud.
Aus den Augen macht er Edelsteine,
sandte sie der falschen Frau des Nidud.
Aus den Zähnen aber der Zweie
Bildete er Brustgeschmeid, sandte es Bödwild.
Das Wort „falsch“ hat die hier die alte Bedeutung von „böse, hinterhältig, gemein“ u.ä.
Die Zweizahl der Jungen hat wahrscheinlich eine tiefere Bedeutung, da es auch oft zwei Zwerge sind, die gemeinsam den Schmuck, die Schwerter, die Ringe u.ä. herstellen. Das bekannteste Jungen-Paar in den indogermanischen Mythen sind die Pferdezwillinge, die den Streitwagen des Sonnengott-Göttervaters Dhyaus (Zeus, Jupiter, Dagda, Tyr usw.) ziehen und die auch die Gestalt von Menschen annehmen konnten. Bei den Germanen wurden sie „Alcis“ genannt.
Zu dieser Deutung paßt, daß es das Wieland-Lied eine Sagen-Variante des endlosen zyklischen Kampfes zwischen dem Sommergott Tyr (Wieland) und dem Wintergott Loki (Nidud) ist, durch den die Jahreszeiten verursacht werden. Die beiden Brüder sind hier zwar nicht mehr die Söhne des Tyr-Wieland, sondern sind zu den Söhnen des Loki-Nidud geworden, aber solche Übertragungen kommen in den Mythen des öfteren vor. Aufgrund des prägenden Bildes der beiden Tyr-Zwillingssöhne haben auch Loki und Thor zwei Söhne erhalten: Nari Loki-Sohn und Narfi Loki-Sohn sowie Magni Thor-Sohn und Modi-Thor-Sohn – die auffälligerweise alle vier in den Mythen kaum eine Funktion haben. In den Mythen des Odin ist aus den Pferde-Zwillingen des Tyr das achtbeinige „Doppel-Pferd“ Sleipnir des Odin geworden.
Es ist gut denkbar, daß man sich vorstellte, daß diese beiden Pferde-Menschen, die die Söhne des Tyr waren, am Abend zusammen mit der Sonne starben und ihr im Jenseits bei ihrer Wiedergeburt halfen. Aus ihnen entstand dann mit der Zeit das Zwergenpaar, das nicht nur das Schwert des Tyr neuschmiedete, sondern auch all die magischen Gegenstände für die Götter herstellte. Ihr Tod am Abend wurde in den Mythen zu dem Motiv der sterbenden Zwillinge, die in der Wölund-Mythe als die beiden Söhne des Königs Nidud erscheinen.
Trinkschalen aus menschlichen Schädeln, die vermutlich vor allem im Ritual benutzt wurden, sind bereits von den Neandertalern verwendet worden. Solche Schädelschalen sind vermutlich aus dem tantrischen Buddhismus am bekanntesten. Interessanterweise werden diese Schädelschalen auch in Tibet in Silber gefaßt.
Das Auftreten des Motivs der Anfertigung einer Schädelschale als Racheakt wird vermutlich auf eine ältere Vorstellung zurückgehen, da viele Verhaltensweisen der Helden in den Sagen als rachemotiviert umgedeutet wurden, während die dabei verwendete mythologischen Motive auf rituelle Handlungen zurückgehen. In dieser Weise wurde z.B. auch die Wiederzeugung im Jenseits zusammen mit der Jenseitsgöttin Freya in den germanischen Mythen und später in den germanischen Sagen zu der rachemotivierten Vergewaltigung einer Königstochter.
Das Schädelschalen-Motiv steht in Parallele zu dem abgetrennten Haupt, mit dessen Hilfe man den Kontakt zu dem verstorbenen Ahnen aufrechterhalten konnte. Auf diese Weise erhält u.a. Odin von dem Haupt des Tyr-Riesen Mimir sein Wissen über das Jenseits (siehe „Mimir“ in Band 6). Da Odin mit Mimirs abgeschlagenem Haupt reden kann und da ihm Mimir zuvor aus seinem Horn aus der Quelle der Weisheit zu trinken gegeben hat, liegen auch bei Mimir die beiden Elemente der Schädelschalen-Symbolik, also der Schädel und das Trinken, sehr nah beieinander.
I 1. c) Albions Tod
Diese rituellen Trinkgefäße werden bei den Germanen noch an einer zweiten Stelle erwähnt. In der Sage über Albions Tod verspottet Albion seine Frau Rosamunde, deren Vater er getötet hat, damit, daß sie doch aus seiner Schädelschale trinken könne – was sie letztlich zur Rache an Albion treibt.
I 1. d) Gylfis Vision
Die wichtigste aller Schädelschalen ist die des Urriesen Ymir, da die Asen aus ihr den Himmel erschufen (siehe dazu auch „Ymir“ in Band 33).
Da frug Gangleri: „Was richteten die Söhne Börs aus, daß Du sie für Götter hältst?“
Har antwortete: „Davon ist nicht wenig zu sagen. Sie nahmen Ymir und warfen ihn mitten in Ginnungagap und bildeten aus ihm die Welt: aus seinem Blut Meer und Wasser; aus seinem Fleisch die Erde; aus seinen Knochen die Berge, und die Steine aus seinen Zähnen, Kinnbacken und zerbrochenem Gebein.“
Da sprach Jafnhar: „Aus dem Blut, das aus seinen Wunden geflossen war, machten sie das Weltmeer, festigten die Erde darin und legten es im Kreis um sie her, also daß es die meisten unmöglich dünken mag, hinüber zu kommen.“
Da sprach Thridi: „Sie nahmen auch seinen Hirnschädel und bildeten den Himmel daraus, und erhoben ihn über die Erde mit vier Ecken oder Hörnern, und unter jedes Horn setzten sie einen Zwerg; die heißen Austri, Westri, Nordri, Sudri. Dann nahmen sie die Feuerfunken, die von Muspelheim ausgeworfen umherflogen, und setzten sie an den Himmel, oben sowohl als unten, um Himmel und Erde zu erhellen. Sie gaben auch allen Lichtern ihre Stelle, einige fest am Himmel (Sterne), andere lose unter dem Himmel (Planeten) und setzten einem jeden seinen bestimmten Gang fest, wonach Tage und Jahre berechnet werden.“
I 1. e) Odins Rabenzauber
Dieser von vier Zwergen getragene Schädel-Himmel wird auch in diesem Lied erwähnt:
Den Zwergen schwindet die Stärke. Die Himmel
Neigen sich nieder zu Ginnungs Nähe.
Alswidr sinkt oftmals herab,
Oft hebt er die Sinkenden wieder empor.
„Ginnung(-agap)“ ist der „gähnende Abgrund“, der am Anfang der Zeit die beiden Urgegensätze Niflheim (das kalte „Nebelheim“ im Norden) und Muspelheim (das heiße „Flammenheim“ im Süden) voneinander trennte.
Die in dem ersten Satz erwähnten Zwerge sind die vier Zwerge Austri, Sudri, Westri und Nordri, die in den vier Himmelsrichtungen den Himmel tragen, den die Asen aus dem Schädel des Urriesen Ymir erschaffen haben.
„Alswidr“ („Allgeschwind“) und „Arwakr“ („Frühwach“) sind die beiden Pferde, die den Sonnenwagen ziehen. Das drohende Unheil scheint mit dem Sonnenuntergang assoziiert worden zu sein, da sich Alswidr am Horizont befinden muß, um den Zwergen helfen zu können, die sich am unteren Rand der Himmelskuppel befinden – eine Deutung als (hoffnungsvoller) Sonnenaufgang gäbe an dieser Stelle wenig Sinn.
Zumindestens eines dieser beiden Pferde scheint den vier Zwergen dabei zu helfen, den Himmel zu tragen, wenn die schwächer werdenden Zwerge ihn zur Erde (Ginnung) niedersinken lassen. Vermutlich ist dies ein Bild...