2. … und die Toleranzfalle
Die Lautstärke, mit der sich die Schüler gegenseitig anmachten, verhieß nichts Gutes. Wie so oft war es während der Pause auf dem Hof zum Streit gekommen. Andere hatten sich eingemischt. Begleitet von gebrüllten Provokationen und Beleidigungen begab sich der Trupp auf den Weg in den Klassenraum. Als Aufsicht führender Lehrer hatte ich einige Mühe, dafür zu sorgen, dass unbeteiligte Schüler unbehelligt ihren Weg fortsetzen konnten, ohne in die Auseinandersetzung hineingezogen zu werden. In der Klasse setzte sich das Getümmel fort. Die Kollegin, die jetzt dort zu unterrichten hatte, war nicht zu beneiden. Ich kannte das nur zu gut. Auch wenn es gelang, die Gemüter kurzzeitig zu beruhigen, genügte oft ein falscher Blick, ein falsches Wort, und alles kochte wieder hoch. Konzentrierter Unterricht war unter diesen Bedingungen nicht möglich. Solche Situationen sind täglich vielfach an unseren Schulen zu finden. Und nicht nur dort. Jeder kennt ähnliche Szenen aus der Begegnung mit Gruppen von Kindern und Jugendlichen im Alltag, besonders in öffentlichen Verkehrsmitteln. Sie denken an nichts Böses, unterhalten sich angeregt mit einem Bekannten, und dann steigt eine Kinder- oder Jugendgruppe zu ihnen in das Bahnabteil oder in den Bus. Immer öfter können Sie Ihre Unterhaltung dann vergessen. Sie verstehen einfach nichts mehr. Und Sie haben Glück, wenn die Belästigungen nur akustisch erfolgen. Verhängnisvoll wird es, wenn solche Gruppen ohne erwachsene Begleitung unterwegs sind. Ich kenne Menschen, die steigen in solchen Situationen lieber aus, wechseln das Abteil oder warten auf den nächsten Bus. Auf den regelnden Eingriff von Älteren, auch von Pädagogen, wartet man oft vergebens, und wenn er erfolgt, wirkt er nicht selten hilflos und wenig überzeugend. Das liegt nicht nur an der Unwilligkeit der verantwortlichen Erwachsenen. Lärmendes Verhalten, oft mit aggressiven Pöbeleien und Beleidigungen verbunden, gilt mittlerweile als »Normalzustand«, nicht zuletzt deshalb, weil vielen Beteiligten, Erwachsenen wie auch jungen Menschen, ein angemessener Verhaltensmaßstab aus dem Alltag fehlt. Das wird für Jugendliche, die erst lernen müssen, sich auf die Bedürfnisse von anderen einzustellen, durchaus zum Problem. Indem die Erwachsenen darauf verzichten, regelnd einzugreifen, fördern sie einen schleichenden Prozess, bei dem sich die gesellschaftlichen Kommunikationsformen zu ändern beginnen.
Während man sich außerhalb von Institutionen solchen Erlebnissen leichter entziehen kann, stellen sie für verpflichtende Gruppensituationen in der Schule ein Problem dar, das den Erfolg des Lernens grundsätzlich infrage stellt. Schon seit Jahren ist bekannt, dass Lärm– und Schallbelastungen das sprachliche Kurzzeitgedächtnis und somit das Verstehen von Sprache beeinträchtigen. Lärm stört die Sprachentwicklung, die Konzentrationsfähigkeit und die kognitiven Leistungen. Vor allem aber erhöht Lärm den Stress und erstickt die Bemühungen um einen anspruchsvollen Unterricht. Das betrifft Schüler und Lehrer gleichermaßen.
Nach Gründen für die hohe Krankheitsquote befragt, nannten Berliner Lehrer in einer Tageszeitung im Januar 2015 neben der gestiegenen Zahl der Unterrichtsstunden, den großen Klassen und den als »immer schwieriger« eingeschätzten Schülern vor allem den Lärm. Dabei gehört dies alles zusammen, denn es geht im Schulalltag nicht nur um Lautstärke, obwohl sie allein schon belastend genug sein kann. Oft ist sie nur der Boden, aus dem weitere Probleme erwachsen. Tamara Oetting von der Deutschen Tinnitus-Liga weist darauf hin, dass der Lärm in einer Schulmensa durchaus 140 Dezibel erreichen kann und somit den Geräuschpegel einer Kreissäge übertrifft. Lern- und Konzentrationsschwierigkeiten beginnen aber schon bei einer permanenten Belastung von 40 Dezibel. Lehrer oder Erzieher, die ihre Pause als Aufsicht in einer derartigen »Kreissägenatmosphäre« verbringen müssen, aber auch die Schüler selbst als »Lärmverursacher« sind nicht gerade gut vorbereitet für die nächste Unterrichtsstunde. Und zum richtigen Problem wird dies, wenn sich das Verhalten im Unterricht fortsetzt.
Vor allem jene Phänomene erweisen sich dort als kritisch, die man als »soziale Unruhe« bezeichnet. Ich meine damit jenen Lärm, der begleitet ist von konfliktträchtigen Situationen, die durch Lärm gefördert, oft sogar hervorgerufen, jederzeit eskalieren können. Die dadurch entstandene Anspannung und unterschwellige Aggressivität töten jegliche Kreativität bei Lehrern ebenso wie bei Schülern. Beide Phänomene haben seit Jahren immer mehr Einzug in viele Klassenzimmer gehalten, erhöhen das Konfliktpotenzial und tragen in erheblichem Maße dazu bei, Unterricht und Lernen scheitern zu lassen.
Pausenlose Gespräche mit dem Sitznachbarn, ungefragtes Dazwischenrufen, sich gegenseitig überschreien, in den Redebeitrag eines Mitschülers oder Lehrers hineinrufen, andere nicht ausreden lassen, sie für ihre Beiträge auslachen oder beleidigen, Provokationen und Streitigkeiten, laute Beschwerden, noch lautere Dementis, dazu ständiges Rascheln und Klappern mit Papier und Schreibutensilien, mit den Stühlen scharren, Trommelrhythmen nervöser Kinder mit Fingern oder Füßen und Ähnliches – das alles sind Alltagsgeräusche in den Klassenzimmern unserer Schulen und keineswegs nur dann, wenn der Unterricht mal langweilig wird. In sozial belasteten Klassen wissen Lehrer oft gar nicht, wo sie zuerst eingreifen sollen, und auf Störungen wird erst reagiert, wenn es zu Wutausbrüchen oder Handgreiflichkeiten kommt.
Da das Verhalten der betreffenden Kinder und Jugendlichen oft grenzwertig ist, stellen sich für jede einzelne Situation Entscheidungsfragen, die im Zeitstress des täglichen Erziehungsgeschäfts beantwortet werden müssen: War das schon eine Störung, die eine Intervention rechtfertigt? Und wenn ja, wie sollte diese aussehen? Dass diese Unsicherheit dazu verführt, nachlässig zu verfahren und das Problem zu übersehen, ist durchaus verständlich. Nichts ist so nervig wie die Beschäftigung mit störenden Verhaltensweisen, die sich ständig wiederholen und von dem abhalten, was die eigentliche Aufgabe ist. Ab einer bestimmten Häufung dieses Verhaltens ist jeder in seinen Reaktionsmöglichkeiten überfordert. Für Schüler eine ideale Möglichkeit, verunsicherte Erwachsene auszutesten. Wie reagiert der X? Was kann ich mir heute erlauben? Sind seine Reaktionen berechenbar oder eher von der Tagesform abhängig?
Wer hier nicht sofort klar reagiert, hat meist schon verloren. Interveniert er ein nächstes Mal, kommt mit Sicherheit der Einwand: »Vorhin haben Sie ja auch nichts gesagt.« In diesem Hin und Her der vermeintlichen Gerechtigkeitsfindung geht schnell das verloren, was eigentlich der Orientierung dienen sollte: »Es gibt da eine Regel, die besagt …«
Dass sich, gerade im Hinblick auf die beabsichtigte Inklusion, auch jene Schüler in den Klassen häufen, die zu einem ruhigen und konzentrierten Umgang in der Gruppe gar nicht in der Lage sind, egal wie interessant der Inhalt dargeboten wird, macht die Sache nicht leichter. Entgegen allem Schönreden ist die Belastung für alle Beteiligten umso höher, je größer die Anzahl dieser Kinder oder Jugendlichen ist, weil sie einerseits den Mangel an sozial angemessener Kommunikation durch erhöhte Lautstärke ausgleichen (der Lauteste hat recht), andererseits ihre geringere Frustrationstoleranz die Konfliktanlässe deutlich vermehrt.
Doch neben Stress und situativer Überforderung trägt noch ein anderer Umstand dazu bei, dass Erwachsene nicht oder zu spät eingreifen, keine Grenzen setzen und damit duldsam, aber nicht eindeutig reagieren. Durch die Veränderung der Wertvorstellungen in der Gesellschaft hat sich die Wahrnehmung und Akzeptanz kindlicher und jugendlicher Verhaltensweisen geändert. Mit der Erkenntnis, dass junge Menschen Bewegung brauchen und es dabei durchaus etwas lauter und unruhiger zugeht, verändert sich die Haltung zum Unterrichtsgeschehen. Da der Unterricht offener gestaltet werde und Gruppenarbeitsaktivitäten zunähmen, seien Lärm und Streitigkeiten nun einmal eine unvermeidbare Folge.
Argumente, die so oder ähnlich auch von Pädagogen vorgebracht werden, können schnell in eine Toleranzfalle führen. Es gibt ja so viele gute Gründe, nachsichtig zu sein. Und weil man alles vermeiden will, was auch nur im Entferntesten nach Einschränkung aussieht, verhalten sich die Erwachsenen so, wie es unserer Gesellschaft am meisten entspricht. Man zeigt sich tolerant um jeden Preis und verweigert den jungen Menschen die Erfahrung, dass Verhalten auch etwas mit der jeweiligen sozialen Situation zu tun hat. So wird die Frage, welche Unruhe für einen kreativen Unterricht unvermeidbar ist und wo sie sich zum...